Urteil vom 11.12.2002 -
BVerwG 1 D 15.02ECLI:DE:BVerwG:2002:111202U1D15.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 11.12.2002 - 1 D 15.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2002:111202U1D15.02.0]

Urteil

BVerwG 1 D 15.02

In dem Disziplinarverfahren hat das Bundesverwaltungsgericht, 1. Disziplinarsenat,
in der nichtöffentlichen Hauptverhandlung am 11. Dezember 2002,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht
A l b e r s ,
Richter am Bundesverwaltungsgericht
M a y e r ,
Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. H. M ü l l e r ,
Posthauptsekretär
Otto J o c h e r und
Postbetriebsassistent
Willibald Z o l l n e r
als ehrenamtliche Richter
sowie
Regierungsdirektor ...
für den Bundesdisziplinaranwalt,
Rechtsanwalt ...,
als Verteidiger,
Justizangestellte ...
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:

  1. Die Berufung des Posthauptsekretärs
  2. ... gegen das Urteil des Bundesdisziplinargerichts, Kammer II - ... -, vom 26. März 2002 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

I


1. Der Bundesdisziplinaranwalt hat den Beamten angeschuldigt, dadurch ein Dienstvergehen begangen zu haben, dass er
1. einen am 3. Juni 1998 in ... eingelieferten Einschreibbrief entwendet, geöffnet und die darin sich befindenden antiken Münzen an sich genommen habe;
2. 30 Briefsendungen, die am 23. Dezember 1999 in seiner Wohnung sichergestellt wurden, dem Postverkehr entzogen, geöffnet und darin vorgefundenes Bargeld in Höhe von mindestens 1 380 DM für eigene private Zwecke verwendet habe.
Aufgrund dieses Sachverhalts ist gegen den Beamten durch Strafbefehl des Amtsgerichts ... vom 13. Oktober 2000 wegen Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses in acht Fällen in Tateinheit mit Diebstahl eine Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verhängt worden. Die Strafvollstreckung wurde zur Bewährung ausgesetzt. Als Bewährungsauflage wurde dem Beamten die Zahlung eines Geldbetrages in Höhe von 3 000 DM zu Gunsten einer gemeinnützigen Organisation auferlegt.
2. Das Bundesdisziplinargericht hat den Beamten durch Urteil vom 26. März 2002 aus dem Dienst entfernt und ihm einen Unterhaltsbeitrag in Höhe von 75 v.H. seines erdienten Ruhegehalts auf die Dauer von sechs Monaten bewilligt. Es hat die Vorwürfe als erwiesen angesehen und die Handlungsweise des Beamten als vorsätzliche Vorstöße gegen die ihm obliegenden Pflichten zur uneigennützigen Verwaltung seines Amtes (§ 54 Satz 2 BBG) und zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten (§ 54 Satz 3 BBG) sowie als innerdienstliches Dienstvergehen gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 BBG gewürdigt, das wegen seines Gewichts zur Entfernung des Beamten aus dem Dienst habe führen müssen. Anhaltspunkte für eine Schuldunfähigkeit des Beamten hätten trotz seiner Alkoholabhängigkeit nicht vorgelegen. Dies ergebe sich daraus, dass der Beamte im Dienst nicht auffällig geworden und bei den Tathandlungen planerisch vorgegangen sei. Auch der Entlassungsbericht der Fachklinik ... vom 7. November 2000 spreche gegen eine Schuldunfähigkeit zur Tatzeit.
3. Gegen dieses Urteil hat der Beamte rechtzeitig Berufung eingelegt und beantragt, das Urteil insoweit aufzuheben und abzuändern, als auf eine Entfernung des Beamten aus dem Dienst erkannt worden ist. Das Rechtsmittel wird im Wesentlichen wie folgt begründet:
Das Bundesdisziplinargericht hätte die Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht nach eigener Einschätzung vornehmen dürfen, sondern sei gehalten gewesen, zu dieser Frage ein medizinisch-/psychologisches Sachverständigengutachten einzuholen. Auf den Entlassungsbericht der Fachklinik vom 7. November 2000 hätte es nicht verweisen dürfen, weil sich dessen Beurteilung auf den Zeitpunkt der Entlassung und nicht auf die Tatzeiten beziehe. Etwas anderes könne auch nicht aus den dienstlichen Beurteilungen abgeleitet werden, weil seine Alkoholabhängigkeit von den Dienstvorgesetzten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden sei.

II


Die Berufung des Beamten hat keinen Erfolg.
Das Disziplinarverfahren ist nach bisherigem Recht, d.h. nach den Verfahrensregeln und -grundsätzen der Bundesdisziplinarordnung fortzuführen (vgl. z.B. Urteil vom 20. Februar 2002 - BVerwG 1 D 19.01 - Buchholz 232 § 70 BBG Nr. 11 = DokBer B 2002, 169).
1. Das Rechtsmittel ist unbeschränkt eingelegt, da der Beamte unter Hinweis auf seine Alkoholabhängigkeit geltend macht, zum Tatzeitraum schuldunfähig gewesen zu sein und damit den subjektiven Tatbestand des ihm vorgeworfenen Dienstvergehens bestreitet. Der Senat hat deshalb den Sachverhalt selbst festzustellen und disziplinarrechtlich zu würdigen. Hierbei hat er den Verhandlungsstoff auf die dem Anschuldigungspunkt 2 zugrunde liegenden Vorwürfe beschränkt, da diese für sich allein bereits die Verhängung der Höchstmaßnahme rechtfertigen.
2. Der Beamte war beim Postverteilungszentrum ... mit der Schichtaufsicht betraut. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung am 23. Dezember 1999 wurden 30 ursprünglich verschlossene Briefsendungen vorgefunden, die der Beamte entwendet, geöffnet und teilweise darin vorgefundenes Bargeld in Höhe von 1 380 DM entnommen und für eigene Zwecke verwendet hat. Die Diebstähle, die der Beamte einräumt, wurden zwischen dem 13. und 22. Dezember 1999 vorgenommen. Bei den beraubten Briefen handelte es sich um fehlgeleitete Sendungen, die nicht im regulären Arbeitsgang zu bearbeiten waren.
Durch die Briefberaubungen hat der Beamte vorsätzlich ein Zugriffsdelikt begangen (§ 54 Sätze 2 und 3, § 77 Abs. 1 Satz 1 BBG). Seiner Einlassung, er sei zur Tatzeit wegen Alkoholmissbrauchs schuldunfähig im Sinne des § 20 StGB gewesen, vermochte der Senat nicht zu folgen. Einer Begutachtung des Beamten zur Frage seiner Schuldfähigkeit durch einen Sachverständigen bedurfte es nicht.
Aus der Befassung mit einer Vielzahl von Verfahren, die Suchterkrankungen zum Gegenstand hatten, ist dem Senat bekannt - insoweit besitzt er die erforderliche Sachkunde im Sinne des § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO i.V.m. § 25 Satz 1 BDO -, dass Alkoholsucht, ebenso wie zum Beispiel Drogen- oder Spielsucht, selbst wenn sie pathologischer Natur sind, für sich allein nicht eine erhebliche Minderung der Schuldfähigkeit oder gar Schuldunfähigkeit des Betroffenen bezüglich der in diesem Zustand begangenen Eigentums- oder Vermögensdelikte zur Folge haben. Eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit oder in extremen Ausnahmefällen gar Schuldunfähigkeit kommt nur dann in Betracht, wenn die Erkrankung zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt hat, wenn der Betroffene Beschaffungstaten unter starken Entzugserscheinungen oder die Tat im Zustand eines akuten Rausches verübt hat (stRspr, z.B. Urteil vom 28. November 1995 - BVerwG 1 D 43.94 -). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Sie steht im Einklang mit der Spruchpraxis des für Fragen der Schuldfähigkeit sachnäheren Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschluss vom 8. November 1988 - NStZ 1989, 113; Urteil vom 20. September 1988 - NStZ 1989, 17).
Unmittelbare Beschaffungstaten unter starken Entzugserscheinungen lagen nicht vor. Der Beamte hat auf Geld und nicht unmittelbar auf alkoholische Getränke zugegriffen.
Anhaltspunkte für schwerste Persönlichkeitsveränderungen zur Tatzeit gibt es ebenfalls nicht. Aus dem Entlassungsbericht der Fachklinik ... vom 7. November 2000 geht hervor, dass der Beamte seit seiner Bundeswehrzeit im Jahre 1978 regelmäßig Alkohol trinke. Die Trinkmenge habe sich kontinuierlich gesteigert. Zuletzt habe sie fünf Liter Bier und 0,5 Liter Sekt mit Spitzen bis zu zehn Litern Bier täglich betragen. Auf längere Zeiträume bezogen habe der Beamte allerdings eher regelmäßig und gleich bleibend getrunken. Aus der Beurteilung der Fachklinik ergeben sich keinerlei Hinweise für schwerste Persönlichkeitsveränderungen, die aufgrund der täglich fortschreitenden Trinkmenge des Beamten zu diesem Zeitpunkt eher hätte auftreten können, als zu der Tatzeit im Dezember 1999. Am 27. Juni 2000 wurden lediglich erhöhte Leberparameter festgestellt, die sich innerhalb von acht Wochen normalisierten. Zum psychischen Befund bei Aufnahme führt die Fachklinik aus, der Beamte sei bewusstseinsklar, allseits orientiert, psychomotorisch unauffällig. Konzentration, Auffassung, Merkfähigkeit und Gedächtnisleistungen seien intakt. Das Denken sei formal unauffällig. Es lägen keine Befürchtungen, keine Zwänge vor. Es fänden sich keine Hinweise auf wahnhaftes Erleben, Sinnestäuschungen oder Ich-Störungen. Wäre es aufgrund des Alkoholmissbrauchs zu schwersten Persönlichkeitsstörungen gekommen, hätten Konzentration, Merkfähigkeit und Gedächtnisleistungen nicht intakt sein können. Auch in der Epikrise des Entlassungsberichts werden psychische Folgeschäden, die die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen könnten, verneint.
Ein akuter Rausch an den verschiedenen Tattagen im Dezember 1999 ist ebenfalls zu verneinen. Er hätte im Dienst auffallen müssen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil der Beamte zu den verschiedensten Dienstzeiten bei seinen in auffälliger Weise gehäuften, überobligatorischen Beschäftigungen im Bereich der Verteilfächer "unbekannte Orte" von anderen Bediensteten beobachtet wurde. Dort hat er die beraubten Briefe an sich genommen. Keiner der Zeugen hat jedoch von irgendwelchen Wahrnehmungen berichtet, die auf eine Volltrunkenheit im Dienst hätten schließen lassen. Auch sonst fehlt es für die Annahme ständig wiederholter Volltrunkenheit während des Anschuldigungszeitraums an jeglichen Anhaltspunkten.
Für eine Steuerungsfähigkeit des Beamten während des angeschuldigten Handelns streitet auch, dass er bei den Tathandlungen planvoll, zielgerichtet und folgerichtig vorgegangen ist (vgl. Urteil vom 14. November 2001 - BVerwG 1 D 9.01 -). Der Beamte hat sich bewusst mit fehlgeleiteten Sendungen befasst, obwohl er hierfür nicht zuständig war. Die Zeugin S. hat bekundet, der Beamte habe sie nahezu in jeder Dienstschicht darauf hingewiesen, dass er sich selbst um die Sendungen in den Verteilfächern "unbekannte Orte" kümmern werde, sie solle dies ihm überlassen. Sie habe den Eindruck gehabt, dass der Beamte regelrecht darauf erpicht gewesen sei, ihr diese Arbeiten abzunehmen. Auch den Zeugen M. und D. ist aufgefallen, dass der Beamte bereits morgens zum Dienstantritt in der Sucherstelle (Nachschlagestelle) Briefsendungen durchsah. Hieraus ergibt sich, dass er bewusst fehlgeleitete Sendungen für seine Briefberaubungen aussuchte, weil bei diesen im Falle von Reklamationen oder Nachforschungen die Dienststelle des Beamten nicht als Verlustort angenommen werden würde.
3. Das Dienstvergehen des Beamten macht seine Entfernung aus dem Dienst unumgänglich.
Ein Postbeamter, der im Dienst ihm zugängliche Postsendungen in der Absicht öffnet, den vorgefundenen Inhalt für sich zu behalten, erschüttert regelmäßig das in ihn gesetzte Vertrauen derart nachhaltig, dass er nicht im Dienst belassen werden kann. Die Post ist in hohem Maße auf die Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit ihrer Bediensteten im Umgang mit Beförderungsgut angewiesen, weil eine lückenlose Kontrolle eines jeden Mitarbeiters nicht möglich ist. Wer sich als Beamter über diese auf leicht erkennbarer Notwendigkeit begründete Pflicht zur Vertrauenswürdigkeit hinwegsetzt, beweist im Kernbereich seiner Pflichten ein so hohes Maß an Pflichtvergessenheit und Vertrauensunwürdigkeit, dass er grundsätzlich mit der einseitigen Auflösung des Dienstverhältnisses rechnen muss.
Mit dem Öffnen der Briefe und der Entwendung des darin befindlichen Geldes hat der Beamte zusätzlich das Postgeheimnis verletzt. Die vertrauliche Behandlung der Briefsendungen gehört zu den unabdingbaren Voraussetzungen eines geordneten Postbetriebs. In der schuldhaften Verletzung des Postgeheimnisses durch Postbedienstete liegt deshalb ein Dienstvergehen, das für sich alleine bereits geeignet ist, bei einem Beamten die Grundlage des Beamtenverhältnisses zu zerstören. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das Postgeheimnis mit dem Ziel verletzt wird, Zugang zu aneignungsfähigem Inhalt von Postsendungen zu gewinnen (vgl. zu allem Urteil vom 14. November 2001, a.a.O.).
Ein von der Rechtsprechung bei Zugriffsdelikten anerkannter Milderungsgrund, der es ausnahmsweise rechtfertigt, von der Höchstmaßnahme abzusehen, liegt vorliegend erkennbar nicht vor. Die in der erfolgreichen Bekämpfung seiner Alkoholabhängigkeit liegende abgeschlossene Lebensphase kann nach ständiger Rechtsprechung des Senats nicht zu einer Milderung führen. Der Beamte hat durch sein Verhalten das Vertrauensverhältnis zu seinem Dienstherrn endgültig zerstört. Der vollständige Vertrauensverlust lässt sich durch eine nachträgliche Änderung einer früheren negativen Lebensweise nicht rückgängig machen (Urteil vom 9. April 2002 - BVerwG 1 D 14.01 -). Gleiches gilt für eine etwaige erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Beamten, für die allerdings keine Anhaltspunkte vorliegen. Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass auch eine im Sinne von § 21 StGB erheblich verminderte Schuldfähigkeit bei einem Beamten die Fortsetzung des Beamtenverhältnisses jedenfalls dann nicht rechtfertigen kann, wenn es sich um die eigennützige Verletzung leicht einsehbarer Kernpflichten handelt. In einem solchen Fall muss im Hinblick auf die als selbstverständlich geforderte und ständig eingeübte korrekte Verhaltensweise von dem Beamten erwartet werden, dass er auch bei erheblich verminderter Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit noch genügend Widerstandskraft gegen strafbares Verhalten im Dienst aufbietet. Um die Verletzung einer solchen Kernpflicht handelt es sich, wenn - wie hier - ein Postbeamter unbefugt Briefe öffnet, um daraus etwas zu entwenden (Urteil vom 14. November 2001, a.a.O.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 114 Abs. 1 Satz 1 BDO.