Verfahrensinformation

Tötung männlicher Küken


Die Kläger betreiben Brütereien zum Bebrüten von Hühnereiern. Die Bruteier stammen von Hennen aus Zuchtlinien, die auf hohe Legeleistung angelegt sind. Die Hühner sind vergleichsweise klein und für die Fleischproduktion wenig geeignet. Die männlichen Küken werden daher kurz nach dem Schlüpfen getötet. In Deutschland betraf das im Jahr 2012 etwa 45 Millionen männliche Küken.


Die Beklagten untersagten diese langjährige Praxis, weil die Tötung der männlichen Küken ohne vernünftigen Grund erfolge und daher gegen § 1 Abs. 2 TierSchG verstoße.


Die Vorinstanzen haben den gegen die Untersagungsverfügungen gerichteten Klagen stattgegeben. Bei der gebotenen Abwägung käme den Nutzungsinteressen, die für die Zulässigkeit der Tötung sprächen, derzeit ein höheres Gewicht zu, als gegenläufigen ethischen Gesichtspunkten.


Im Revisionsverfahren wird zu klären sein, unter welchen Voraussetzungen ein vernünftiger Grund i.S.v. § 1 Satz 2 TierSchG gegeben ist und inwieweit wirtschaftliche Interessen zu berücksichtigen sind.


Pressemitteilung Nr. 47/2019 vom 13.06.2019

Töten männlicher Küken tierschutzrechtlich nur noch übergangsweise zulässig

Das wirtschaftliche Interesse an speziell auf eine hohe Legeleistung gezüchteten Hennen ist für sich genommen kein vernünftiger Grund i.S.v. § 1 Satz 2 des Tierschutzgesetzes (TierschG) für das Töten der männlichen Küken aus diesen Zuchtlinien. Da voraussichtlich in Kürze Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei zur Verfügung stehen werden, beruht eine Fortsetzung der bisherigen Praxis bis dahin aber noch auf einem vernünftigen Grund. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.


Der Kläger betreibt eine Brüterei. Die dort ausgebrüteten Eier stammen aus Zuchtlinien, die auf eine hohe Legeleistung ausgerichtet sind. Für die Mast sind Tiere aus diesen Zuchtlinien wenig geeignet. Deshalb werden die männlichen Küken kurz nach dem Schlüpfen getötet. Das betraf in Deutschland im Jahr 2012 etwa 45 Millionen Küken. Der Beklagte untersagte dem Kläger mit Verfügung vom 18. Dezember 2013 ab dem 1. Januar 2015 die Tötung von männlichen Küken. Er folgte damit einem an alle Kreisordnungsbehörden des Landes gerichteten Erlass, der auf das zuständige Landesministerium zurückging.


Das Verwaltungsgericht Minden hat die Untersagungsverfügung aufgehoben, das Oberverwaltungsgericht Münster die Berufung des Beklagten zurückgewiesen: Die Tötung der männlichen Küken erfolge nicht ohne vernünftigen Grund i.S.v. § 1 Satz 2 TierSchG.


Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Entscheidung nur im Ergebnis bestätigt. Gemäß § 1 Satz 2 TierSchG darf niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen. Das Tierschutzgesetz schützt – anders als die Rechtsordnungen der meisten anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union – nicht nur das Wohlbefinden des Tieres, sondern auch sein Leben schlechthin. Vernünftig im Sinne dieser Regelung ist ein Grund, wenn das Verhalten gegenüber dem Tier einem schutzwürdigen Interesse dient, das unter den konkreten Umständen schwerer wiegt als das Interesse am Schutz des Tieres. Im Lichte des im Jahr 2002 in das Grundgesetz aufgenommenen Staatsziels Tierschutz beruht das Töten der männlichen Küken für sich betrachtet nach heutigen Wertvorstellungen nicht mehr auf einem vernünftigen Grund. Die Belange des Tierschutzes wiegen schwerer als das wirtschaftliche Interesse der Brutbetriebe, aus Zuchtlinien mit hoher Legeleistung nur weibliche Küken zu erhalten. Anders als Schlachttiere werden die männlichen Küken zum frühestmöglichen Zeitpunkt getötet. Ihre „Nutzlosigkeit“ steht von vornherein fest. Zweck der Erzeugung sowohl der weiblichen als auch der männlichen Küken aus Zuchtlinien mit hoher Legeleistung ist allein die Aufzucht von Legehennen. Dem Leben eines männlichen Kükens wird damit jeder Eigenwert abgesprochen. Das ist nicht vereinbar mit dem Grundgedanken des Tierschutzgesetzes, für einen Ausgleich zwischen dem Tierschutz und menschlichen Nutzungsinteressen zu sorgen.


Die bisherige Praxis wurde allerdings - ausgehend von einer damaligen Vorstellungen entsprechenden geringeren Gewichtung des Tierschutzes - jahrzehntelang hingenommen. Vor diesem Hintergrund kann von den Brutbetrieben eine sofortige Umstellung ihrer Betriebsweise nicht verlangt werden. Bereits im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts war absehbar, dass in näherer Zukunft eine Geschlechtsbestimmung im Ei möglich sein würde. Die weitere Entwicklung hat diese Einschätzung bestätigt. Ohne eine Übergangszeit wären die Brutbetriebe gezwungen, zunächst mit hohem Aufwand eine Aufzucht der männlichen Küken zu ermöglichen, um dann voraussichtlich wenig später ein Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei einzurichten oder ihren Betrieb auf das Ausbrüten von Eiern aus verbesserten Zweinutzungslinien umzustellen. Die Vermeidung einer solchen doppelten Umstellung ist in Anbetracht der besonderen Umstände ein vernünftiger Grund für die vorübergehende Fortsetzung der bisherigen Praxis.


BVerwG 3 C 28.16 - Urteil vom 13. Juni 2019

Vorinstanzen:

OVG Münster, 20 A 530/15 - Urteil vom 20. Mai 2016 -

VG Minden, 2 K 80/14 - Urteil vom 30. Januar 2015 -

BVerwG 3 C 29.16 - Urteil vom 13. Juni 2019

Vorinstanzen:

OVG Münster, 20 A 488/15 - Urteil vom 20. Mai 2016 -

VG Minden, 2 K 83/14 - Urteil vom 30. Januar 2015 -


Beschluss vom 20.12.2016 -
BVerwG 3 B 38.16ECLI:DE:BVerwG:2016:201216B3B38.16.0

Leitsatz:

Ist ein Urteil mehrfach begründet, kann die Revision auch dann zuzulassen sein, wenn ein Zulassungsgrund nur hinsichtlich einer Begründung vorliegt, diese jedoch eine Rechtskraftwirkung entfaltet, die über jene der anderen Begründungen hinausgeht und damit den Rechtsmittelführer beschwert.

  • Rechtsquellen
    VwGO § 132 Abs. 2
    TierSchG § 1 Satz 2

  • VG Minden - 30.01.2015 - AZ: VG 2 K 80/14
    OVG Münster - 20.05.2016 - AZ: OVG 20 A 530/15

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 20.12.2016 - 3 B 38.16 - [ECLI:DE:BVerwG:2016:201216B3B38.16.0]

Beschluss

BVerwG 3 B 38.16

  • VG Minden - 30.01.2015 - AZ: VG 2 K 80/14
  • OVG Münster - 20.05.2016 - AZ: OVG 20 A 530/15

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. Dezember 2016
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wysk und Rothfuß
beschlossen:

  1. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen über die Nichtzulassung der Revision gegen sein Urteil vom 20. Mai 2016 wird aufgehoben.
  2. Die Revision wird zugelassen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren vorläufig auf 60 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde hat Erfolg. Der Rechtssache kommt die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung zu, § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Im Revisionsverfahren wird voraussichtlich insbesondere die Frage weiter zu klären sein, unter welchen Voraussetzungen ein vernünftiger Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG gegeben ist und inwieweit wirtschaftliche Interessen zu berücksichtigen sind.

2 Der Zulassung steht nicht entgegen, dass sich das angefochtene Urteil auch darauf stützt, im Falle eines Verstoßes gegen § 1 Satz 2 TierSchG habe der Beklagte das ihm zustehende Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt.

3 Ist ein Urteil auf mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt, so setzt die Zulassung der Revision voraus, dass in Bezug auf jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund vorliegt. Anderenfalls käme es auf die Begründung, für die ein Zulassungsgrund gegeben ist, nicht weiter an: Wird - wie hier - eine Grundsatzfrage (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht, so würde sich diese in einem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich stellen. Ihre Beantwortung wäre daher nicht zu erwarten. Geht es um eine Divergenz oder um einen Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO), können sie hinweggedacht werden, so dass das angefochtene Urteil nicht darauf beruht (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 3. Juli 1973 - 4 B 92.73 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 109, vom 13. April 1989 - 1 B 54.89 - Buchholz 130 § 8 RuStAG Nr. 37 und vom 9. Dezember 1994 - 11 PKH 28.94 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 4).

4 Ein Urteil wird jedoch nicht gleichermaßen von mehreren selbstständigen Begründungen getragen, wenn die Begründung, für die ein Zulassungsgrund gegeben ist, eine Rechtskraftwirkung entfaltet, die über jene der anderen Begründungen hinausgeht und damit den Rechtsmittelführer beschwert. In einem solchen Fall müsste der nicht gleichwertigen, weiter reichenden Begründung in einem Revisionsverfahren nachgegangen werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. April 2003 - 7 B 141.02 - NJW 2003, 2255 sowie Beschlüsse vom 14. August 1962 - 5 B 83.61 - BVerwGE 14, 342 <346 f.> und vom 7. Juli 1997 - 4 BN 11.97 - Buchholz 406.12 § 11 BauNVO Nr. 22). Folglich lässt sich dann die Entscheidungserheblichkeit einer entsprechenden Grundsatzrüge bzw. das Beruhen auf einer Abweichung oder auf einem Verfahrensfehler nicht verneinen.

5 So liegen die Dinge hier. Die Rechtskraftwirkung des Urteils reicht mit der tragenden Begründung, der Verbotstatbestand des § 1 Satz 2 TierSchG liege nicht vor, das Töten der Küken beruhe auf einem vernünftigen Grund, weiter als mit der des Ermessensfehlers (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. April 2003 - 7 B 141.02 - NJW 2003, 2255). Führt die Grundsatzfrage zu den Voraussetzungen eines vernünftigen Grundes gemäß § 1 Satz 2 TierSchG zu einer von der angefochtenen Entscheidung abweichenden, gegenteiligen Erkenntnis, so läge darin ein für die Beklagte günstigeres Ergebnis, weil dann eine erneute, ermessensfehlerfreie Entscheidung nicht von vornherein ausgeschlossen wäre. Im Übrigen ist nicht zu übersehen, dass die Verneinung des Verbotstatbestands durch das Oberverwaltungsgericht auf einer Abwägung beruht, die in einem inneren Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Ermessenskontrolle steht. Sollte der Verbotstatbestand zu bejahen, mithin ein vernünftiger Grund für die Tötung der Küken zu verneinen sein, so könnte damit zugleich die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die belastenden Auswirkungen seien nicht zutreffend und in angemessener Weise berücksichtigt worden, in Frage stehen.

6 Die vorläufige Streitwertfestsetzung für das Revisionsverfahren beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 GKG.

Rechtsbehelfsbelehrung


Das Beschwerdeverfahren wird als Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen BVerwG 3 C 28.16 fortgesetzt. Der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zugang dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht, Simsonplatz 1, 04107 Leipzig, schriftlich oder in elektronischer Form (Verordnung vom 26. November 2004, BGBl I S. 3091) einzureichen.
Für die Beteiligten besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Revision. Die Beteiligten müssen sich durch Bevollmächtigte im Sinne von § 67 Abs. 4 Satz 3 bis 6 VwGO vertreten lassen.

Beschluss vom 20.12.2016 -
BVerwG 3 B 39.16ECLI:DE:BVerwG:2016:201216B3B39.16.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 20.12.2016 - 3 B 39.16 - [ECLI:DE:BVerwG:2016:201216B3B39.16.0]

Beschluss

BVerwG 3 B 39.16

  • VG Minden - 30.01.2015 - AZ: VG 2 K 83/14
  • OVG Münster - 20.05.2016 - AZ: OVG 20 A 488/15

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. Dezember 2016
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wysk und Rothfuß
beschlossen:

  1. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen über die Nichtzulassung der Revision gegen sein Urteil vom 20. Mai 2016 wird aufgehoben.
  2. Die Revision wird zugelassen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren vorläufig auf 50 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde hat Erfolg. Der Rechtssache kommt die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung zu, § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Im Revisionsverfahren wird voraussichtlich insbesondere die Frage weiter zu klären sein, unter welchen Voraussetzungen ein vernünftiger Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG gegeben ist und inwieweit wirtschaftliche Interessen zu berücksichtigen sind.

2 Der Zulassung steht nicht entgegen, dass sich das angefochtene Urteil auch darauf stützt, im Falle eines Verstoßes gegen § 1 Satz 2 TierSchG habe der Beklagte das ihm zustehende Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt.

3 Ist ein Urteil auf mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt, so setzt die Zulassung der Revision voraus, dass in Bezug auf jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund vorliegt. Anderenfalls käme es auf die Begründung, für die ein Zulassungsgrund gegeben ist, nicht weiter an: Wird - wie hier - eine Grundsatzfrage (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht, so würde sich diese in einem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich stellen. Ihre Beantwortung wäre daher nicht zu erwarten. Geht es um eine Divergenz oder um einen Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO), können sie hinweggedacht werden, so dass das angefochtene Urteil nicht darauf beruht (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 3. Juli 1973 - 4 B 92.73 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 109, vom 13. April 1989 - 1 B 54.89 - Buchholz 130 § 8 RuStAG Nr. 37 und vom 9. Dezember 1994 - 11 PKH 28.94 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 4).

4 Ein Urteil wird jedoch nicht gleichermaßen von mehreren selbstständigen Begründungen getragen, wenn die Begründung, für die ein Zulassungsgrund gegeben ist, eine Rechtskraftwirkung entfaltet, die über jene der anderen Begründungen hinausgeht und damit den Rechtsmittelführer beschwert. In einem solchen Fall müsste der nicht gleichwertigen, weiter reichenden Begründung in einem Revisionsverfahren nachgegangen werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. April 2003 - 7 B 141.02 - NJW 2003, 2255 sowie Beschlüsse vom 14. August 1962 - 5 B 83.61 - BVerwGE 14, 342 <346 f.> und vom 7. Juli 1997 - 4 BN 11.97 - Buchholz 406.12 § 11 BauNVO Nr. 22). Folglich lässt sich dann die Entscheidungserheblichkeit einer entsprechenden Grundsatzrüge bzw. das Beruhen auf einer Abweichung oder auf einem Verfahrensfehler nicht verneinen.

5 So liegen die Dinge hier. Die Rechtskraftwirkung des Urteils reicht mit der tragenden Begründung, der Verbotstatbestand des § 1 Satz 2 TierSchG liege nicht vor, das Töten der Küken beruhe auf einem vernünftigen Grund, weiter als mit der des Ermessensfehlers (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. April 2003 - 7 B 141.02 - NJW 2003, 2255). Führt die Grundsatzfrage zu den Voraussetzungen eines vernünftigen Grundes gemäß § 1 Satz 2 TierSchG zu einer von der angefochtenen Entscheidung abweichenden, gegenteiligen Erkenntnis, so läge darin ein für die Beklagte günstigeres Ergebnis, weil dann eine erneute, ermessensfehlerfreie Entscheidung nicht von vornherein ausgeschlossen wäre. Im Übrigen ist nicht zu übersehen, dass die Verneinung des Verbotstatbestands durch das Oberverwaltungsgericht auf einer Abwägung beruht, die in einem inneren Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Ermessenskontrolle steht. Sollte der Verbotstatbestand zu bejahen, mithin ein vernünftiger Grund für die Tötung der Küken zu verneinen sein, so könnte damit zugleich die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die belastenden Auswirkungen seien nicht zutreffend und in angemessener Weise berücksichtigt worden, in Frage stehen.

6 Die vorläufige Streitwertfestsetzung für das Revisionsverfahren beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 GKG.

Rechtsbehelfsbelehrung


Das Beschwerdeverfahren wird als Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen BVerwG 3 C 29.16 fortgesetzt. Der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zugang dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht, Simsonplatz 1, 04107 Leipzig, schriftlich oder in elektronischer Form (Verordnung vom 26. November 2004, BGBl I S. 3091) einzureichen.
Für die Beteiligten besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Revision. Die Beteiligten müssen sich durch Bevollmächtigte im Sinne von § 67 Abs. 4 Satz 3 bis 6 VwGO vertreten lassen.

Urteil vom 13.06.2019 -
BVerwG 3 C 28.16ECLI:DE:BVerwG:2019:130619U3C28.16.0

Untersagung des Tötens männlicher Küken

Leitsatz:

Im Lichte des Staatsziels Tierschutz ist das wirtschaftliche Interesse an speziell auf eine hohe Legeleistung gezüchteten Hennen für sich genommen kein vernünftiger Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG für das Töten der männlichen Küken aus diesen Zuchtlinien. Ist jedoch absehbar, dass in Kürze Alternativen zum Töten der Küken zur Verfügung stehen, die den Brutbetrieb deutlich weniger belasten als die Aufzucht der Tiere, beruht eine Fortsetzung der bisherigen Praxis für eine Übergangszeit noch auf einem vernünftigen Grund im Sinne dieser Regelung.

  • Rechtsquellen
    GG Art. 20a
    TierSchG §§ 1, 3 Nr. 2, §§ 4, 4a, 17 Nr. 1
    TierSchlV § 2 Nr. 3, § 12 Abs. 3
    Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 Art. 4 Abs. 1, Art. 26

  • VG Minden - 30.01.2015 - AZ: VG 2 K 80/14
    OVG Münster - 20.05.2016 - AZ: OVG 20 A 530/15

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 13.06.2019 - 3 C 28.16 - [ECLI:DE:BVerwG:2019:130619U3C28.16.0]

Urteil

BVerwG 3 C 28.16

  • VG Minden - 30.01.2015 - AZ: VG 2 K 80/14
  • OVG Münster - 20.05.2016 - AZ: OVG 20 A 530/15

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 16. Mai 2019
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler, Prof. Dr. habil. Wysk, Rothfuß und Dr. Kenntner
am 13. Juni 2019 für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Mai 2016 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Der Kläger betreibt eine Brüterei. Er wendet sich gegen die Untersagung, männliche Küken zu töten.

2 Die Eier, die im Betrieb des Klägers ausgebrütet werden, stammen von Hennen aus Zuchtlinien, die auf eine hohe Legeleistung ausgerichtet sind. Für die Mast sind Tiere aus diesen Zuchtlinien wenig geeignet. Daher werden die männlichen Küken aus diesen Zuchtlinien in den Brütereien üblicherweise kurz nach dem Schlupf als sogenannte Eintagsküken getötet. Im Betrieb des Klägers werden jährlich ca. 800 000 Eier zur Erzeugung von Hennenküken ausgebrütet. Von den männlichen Küken werden ca. 200 000 getötet und etwa ebenso viele lebend abgegeben.

3 Im Juli 2013 stellte die Staatsanwaltschaft Münster ein Ermittlungsverfahren gegen den Betreiber einer Brüterei wegen des Tötens männlicher Küken ein. Sie war der Auffassung, dass das Töten der Küken gemäß § 17 Nr. 1 TierSchG strafbar sei; der Beschuldigte habe sich aber in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden. Daraufhin ließ das zuständige Landesministerium die Kreisordnungsbehörden anweisen, das Töten männlicher Küken zu untersagen.

4 Der Beklagte untersagte dem Kläger mit Ordnungsverfügung vom 18. Dezember 2013 unter Androhung von Zwangsgeld ab dem 1. Januar 2015 die Tötung von männlichen, nicht zur Schlachtung geeigneten Küken. Die Tötung verstoße gegen § 1 Satz 2 TierSchG; sie erfolge ohne vernünftigen Grund im Sinne dieser Vorschrift. Das Verwaltungsgericht Minden hat die Ordnungsverfügung durch Urteil vom 30. Januar 2015 aufgehoben. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklagten durch Urteil vom 20. Mai 2016 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt:

5 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei die tierschutzrechtliche Generalklausel in Verbindung mit § 1 Satz 2 TierSchG eine taugliche Rechtsgrundlage für die Untersagung; die grundlegenden Aussagen zur Verbotsschwelle seien der Vorschrift im Wege der Auslegung mit genügender Klarheit zu entnehmen. Ein vernünftiger Grund müsse auf einem anerkennenswerten menschlichen Interesse beruhen sowie unter den konkreten Umständen nach seinem objektiven Gewicht schwerer wiegen als das Interesse am Schutz der Unversehrtheit des Tieres. Ausgehend hiervon erfolge die Tötung der männlichen Küken nicht ohne vernünftigen Grund. Den Küken werde zwar der größtmögliche Schaden für ihre Unversehrtheit zugefügt; nach gegenwärtigem Stand hätten die Belange des Klägers aber größeres Gewicht. Wirtschaftliche Interessen seien im Rahmen der Produktion tierischer Lebensmittel nicht von vornherein nachrangig. Nutztiere würden zweckgerichtet für ihre Verwendung auf dem Markt erzeugt, gehalten und getötet; das sei kein Mangel an Achtung der Tiere in ihrer Mitgeschöpflichkeit. Die Tötung von Tieren sei nicht nur gerechtfertigt, wenn sie für den Menschen existenzielle Zwecke erfülle. Das gelte auch im Lichte der Staatszielbestimmung Tierschutz. Maßgebender Grund für die Tötung der männlichen Küken sei, dass sie wegen ihres Geschlechts nicht zur Produktion von Eiern genutzt werden könnten und wegen der Eigenschaften ihrer Zuchtlinie nicht für die Produktion von Fleisch verwendet würden. Die Aufzucht der männlichen Küken stehe im Widerspruch zum erreichten Stand der Hühnerzucht und den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen; der Aufwand sei ökonomisch sinnlos. "Bruderhähne" und Stubenküken seien ein bloßes Nischenprodukt; ihre Vermarktung in größerem Umfang sei unrealistisch. Von der wirtschaftlichen Unvertretbarkeit des Haltens der männlichen Küken seien die staatlichen Stellen über Jahrzehnte ausgegangen. Die Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 regele eine gesonderte Tötungsmethode für Küken mit einem Höchstalter von 72 Stunden; bestünde ein Tötungsverbot wären diese Vorschriften funktionslos. Alternativen zur Tötung der männlichen Küken seien gegenwärtig nicht vorhanden. Die Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei seien unter realen Praxisbedingungen noch nicht einsetzbar. Die Leistungsmerkmale von Küken aus Zweinutzungslinien blieben noch so weit hinter den spezialisierten Zuchtlinien zurück, dass sie sich für einen breiten Einsatz nicht eigneten. Schließlich möge es sein, dass das Töten der Küken heute unter ethischen Gesichtspunkten vermehrt abgelehnt werde. Für einen dahingehenden mehrheitlichen Konsens gebe es aber keine Anhaltspunkte. Im Übrigen handle es sich um eine rechtliche Wertung, die sich nicht nach der Einstellung von Bevölkerungsteilen richte.

6 Unabhängig davon habe der Beklagte sein Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt. Er habe die belastenden Auswirkungen der Untersagung mit der eingeräumten Übergangsfrist nicht hinreichend berücksichtigt. Es sei dem Kläger nicht zuzumuten, der Untersagung zu einem Zeitpunkt Folge zu leisten, in dem sich wegen des Stands der Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei eine rechtliche Neubeurteilung der Tötung der männlichen Küken mit Auswirkungen auf alle Brütereien abzeichne.

7 Mit seiner Revision macht der Beklagte im Wesentlichen geltend: Das Oberverwaltungsgericht habe nur auf die ökonomischen Gründe abgestellt und das Tierwohl nicht wirklich abgewogen. Ökonomische Gründe seien nicht per se vernünftig im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG. Das Tierschutzgesetz schütze das Tier um seiner selbst willen. Der Gedanke der Mitgeschöpflichkeit, der auch dem Staatsziel des Art. 20a GG zugrunde liege, verbiete eine Produktionsmethode, die die Hälfte der erzeugten Tiere als Abfall ansehe. Das Oberverwaltungsgericht habe die Berufsfreiheit des Klägers undifferenziert übergewichtet und die Staatszielbestimmung nicht in Ansatz gebracht. Es habe zudem verfahrensfehlerhaft versäumt, die Auffassung in der Bevölkerung zur Tötung männlicher Küken aufzuklären. Bei der Ermessenskontrolle habe es übersehen, dass kein Entschließungsermessen bestehe, zumal - jedenfalls objektiv - ein Straftatbestand verwirklicht werde.

8 Der Kläger tritt der Revision entgegen: Das Töten von Eintagsküken werde bereits durch die Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 zugelassen. Die Praxis des Tötens bestehe seit mehr als 50 Jahren weltweit. Auch die Bundesregierung und die Mehrheit des Bundestags gingen davon aus, dass sie derzeit zulässig sei. Ökonomische Gründe müssten als vernünftiger Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG anerkannt werden. Insoweit eine umfassende Abwägung zu verlangen, sei verfehlt. Der Grund müsse triftig, einsichtig und von einem schutzwürdigen Interesse getragen sein. Hier ergebe sich ein vernünftiger Grund bereits daraus, dass es für männliche Eintagsküken keine hinreichenden Absatzmöglichkeiten gebe. Ihre Aufzucht sei wirtschaftlich, aber auch ressourcenökologisch unvernünftig.

9 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren. Er ist der Auffassung, für das Tötungsverbot sei eine ausdrückliche Entscheidung des Gesetzgebers erforderlich, an der es hier fehle.

II

10 Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Die angefochtene Untersagungsverfügung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, das Töten der männlichen Küken verstoße nicht gegen tierschutzrechtliche Vorschriften, ist im Ergebnis mit Bundesrecht vereinbar. Das wirtschaftliche Interesse an speziell auf eine hohe Legeleistung gezüchteten Hennen ist für sich genommen zwar kein vernünftiger Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG für das Töten der männlichen Küken aus diesen Zuchtlinien. Ist jedoch - wie im maßgebenden Zeitpunkt hier - absehbar, dass in Kürze Alternativen zum Töten der Küken zur Verfügung stehen werden, die den Brutbetrieb deutlich weniger belasten als die Aufzucht der Tiere, beruht eine Fortsetzung der bisherigen Praxis für eine Übergangszeit noch auf einem "vernünftigen Grund".

11 Die an den Kläger gerichtete Untersagung, männliche Küken zu töten, ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Maßgebend für die Entscheidung des Revisionsgerichts sind gemäß § 137 Abs. 2 VwGO die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil. Rechtsänderungen sind bis zum Ergehen der Revisionsentscheidung zu berücksichtigen (BVerwG, Urteile vom 7. November 2018 - 7 C 18.18 - NVwZ-RR 2019, 456 Rn. 15 und vom 28. Januar 1988 - 3 C 48.85 - Buchholz 418.712 LMKV Nr. 2 S. 3; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 113 Rn. 58). Der revisionsgerichtlichen Beurteilung zugrunde zu legen ist danach das Tierschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I S. 1206), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. Dezember 2018 (BGBl. I S. 2586). Die maßgebenden Vorschriften haben sich gegenüber dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nicht geändert.

12 1. Gemäß § 1 Satz 2 TierSchG darf niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen. Dieses Verbot erfasst auch das Töten männlicher Küken.

13 1.1 Das Unionsrecht regelt das Töten von Küken nicht abschließend. Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 des Rates vom 24. September 2009 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung (ABl. L 303 S. 1) sieht vor, dass Tiere nur nach einer Betäubung im Einklang mit in Anhang I der Verordnung genannten Verfahren getötet werden. Für Küken mit einem Höchstalter von 72 Stunden lässt der Anhang auch die Zerkleinerung zu (Anhang I Kapitel I Tabelle 1 Nr. 4, Kapitel II Nr. 2). Die Verordnung setzt damit voraus, dass das Töten der Küken - auch in großer Zahl - unionsrechtlich zulässig ist. Sie hindert die Mitgliedstaaten aber nicht, nach Maßgabe von Art. 26 der Verordnung strengere nationale Vorschriften über den Schutz von Küken zum Zeitpunkt der Tötung beizubehalten oder zu erlassen. Ebenso wenig steht sie nationalen Vorschriften entgegen, die das Töten der Küken untersagen oder beschränken.

14 1.2 Es gibt auch im deutschen Recht keine speziellen gesetzlichen Regelungen über das Töten von Küken. Das Tierschutzgesetz enthält hierzu keine über § 1 Satz 2 TierSchG hinausgehende ausdrückliche Regelung.

15 Die allgemeinen Vorschriften im 3. Abschnitt des Tierschutzgesetzes - "Töten von Tieren" - regeln nicht, ob ein Tier getötet werden darf, sondern wie es getötet (§ 4 TierSchG) bzw. geschlachtet (§ 4a TierSchG) werden muss (Hirt/Maisack/Moritz, Tierschutzgesetz, 3. Aufl. 2016, § 4 Rn. 2; Kluge, in: Kluge, Tierschutzgesetz, 2002, § 4 Rn. 1; Lorz/Metzger, Tierschutzgesetz, 6. Aufl. 2008, § 4 Rn. 2). Die Verordnung zum Schutz von Tieren im Zusammenhang mit der Schlachtung oder Tötung und zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 des Rates (Tierschutz-Schlachtverordnung - TierSchlV) vom 20. Dezember 2012 (BGBl. I S. 2982) steht als Rechtsverordnung im Rang unter dem Tierschutzgesetz. Sie dient der Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 und der Ausfüllung des Vorbehalts für strengere nationale Regelungen; die Zerkleinerung von Küken lässt sie nur bis zu 60 Stunden nach dem Schlupf zu (§ 2 Nr. 3, § 12 Abs. 3, Anlage 1 Nr. 3 TierSchlV). Die Tierschutz-Schlachtverordnung setzt damit voraus, dass das Tierschutzgesetz das Töten der Tiere zulässt. Ob das der Fall ist, muss durch Auslegung des § 1 Satz 2 TierSchG ermittelt werden.

16 2. Durch das Töten wird den Küken ein Schaden im Sinne des § 1 Satz 2 TierSchG zugefügt. Das Tierschutzgesetz schützt nicht nur das Wohlbefinden des Tieres, sondern auch sein Leben schlechthin (§ 1 Satz 1 TierSchG; BT-Drs. VI/2559 S. 9). Insoweit unterscheidet es sich nicht nur von der Vorgängerregelung, dem Tierschutzgesetz vom 24. November 1933 (RGBl. I S. 987), sondern auch von den Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Nach den Angaben des Beklagten enthält nur das österreichische Tierschutzgesetz eine vergleichbare Regelung. Nutztiere sind von dem Schutz des Lebens nicht ausgenommen; das Tierschutzgesetz misst auch dem Leben eines jeden Nutztieres einen Wert an sich zu.

17 3. Das Verbot des § 1 Satz 2 TierSchG, einem Tier "ohne vernünftigen Grund" Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen, ist ausgerichtet auf einen Ausgleich zwischen den rechtlich geschützten Interessen der Tierhalter einerseits und den Belangen des Tierschutzes andererseits (BVerfG, Urteil vom 6. Juli 1999 - 2 BvF 3/90 - BVerfGE 101, 1 <37>). Das Tierschutzgesetz soll wirtschaftliche und wissenschaftliche Interessen, die sich aus der Entwicklung der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik ergeben, mit den ethischen Forderungen auf dem Gebiet des Tierschutzes in Einklang bringen (vgl. BT-Drs. VI/2559 S. 9). Der "vernünftige Grund" ist der zentrale Begriff zur Herstellung dieses Ausgleichs (vgl. Caspar, NuR 1997, 577; Hirt/Maisack/Moritz, Tierschutzgesetz, 3. Aufl. 2016, § 1 Rn. 30). Ausgehend hiervon ist ein Grund für das Zufügen von Schmerzen, Leiden oder Schäden jedenfalls dann vernünftig im Sinne des Tierschutzgesetzes, wenn es einem schutzwürdigen menschlichen Interesse dient, das unter den konkreten Umständen schwerer wiegt als das Interesse am Schutz des Tieres (vgl. BT-Drs. 16/9742 S. 4; von Loeper, in: Kluge, Tierschutzgesetz, 2002, § 1 Rn. 52; Hirt/Maisack/Moritz, Tierschutzgesetz, 3. Aufl. 2016, § 1 Rn. 31, 33; Lorz/Metzger, Tierschutzgesetz, 6. Aufl. 2008, § 1 Rn. 62).

18 3.1 Dass das Verhalten gegenüber dem Tier nicht willkürlich ist, insbesondere nicht auf zu missbilligenden Motiven beruht, wie etwa der Lust an der Vernichtung oder dem Quälen eines Tieres (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Januar 2000 - 3 C 12.99 - Buchholz 418.9 TierSchG Nr. 11 S. 3), genügt für einen vernünftigen Grund hiernach nicht. Schutzwürdig sind, soweit es um Nutztiere geht, andererseits nicht nur die unmittelbaren Ernährungs- und vergleichbaren Bedürfnisse der Menschen; auch das wirtschaftliche Interesse der Tierhalter an einem möglichst geringen Aufwand für die Erfüllung dieser Bedürfnisse ist grundsätzlich anzuerkennen. Derartige wirtschaftliche Interessen müssen aber - wie jedes schutzwürdige menschliche Interesse beim Umgang mit Tieren - an den Belangen des Tierschutzes gemessen werden und sind gegebenenfalls Begrenzungen unterworfen. Sie sind nicht schon deshalb vernünftig im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG, weil sie ökonomisch plausibel sind.

19 Den Belangen der Tierhalter stehen die unter den konkreten Umständen berührten Belange des Tierschutzes gegenüber. Dem Tierschutzgesetz vom 24. Juli 1972 (BGBl. I S. 1277) liegt ein ethisch ausgerichteter Tierschutz zugrunde (BT-Drs. VI/2559 S. 9; BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 1978 - 1 BvL 14/77 - BVerfGE 48, 376 <389>). Das Erste Gesetz zur Änderung des Tierschutzgesetzes vom 12. August 1986 (BGBl. I S. 1309) hat den Schutz der Tiere in § 1 Satz 1 TierSchG ausdrücklich auf die Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf gestützt. Eine materielle Änderung gegenüber dem Tierschutzgesetz vom 24. Juli 1972 war damit nicht beabsichtigt (BT-Drs. 10/5259 S. 39). Veranlasst war die Ergänzung aber durch das zunehmende Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Erfordernisse des Tierschutzes und wachsende Kritik an der Vollzugspraxis, u.a. im Bereich der Massentierhaltung (BT-Drs. 10/3158 S. 16; BT-Drs. 10/5259 S. 32; BT-Drs. 10/2703 S. 13).

20 Die Aufnahme des Tierschutzes in den Schutzauftrag des Art. 20a GG durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 26. Juli 2002 (BGBl. I S. 2862) hat den bereits einfachgesetzlich normierten Tierschutz weiter gestärkt (BT-Drs. 14/8860 S. 3). Als Belang von Verfassungsrang ist der Tierschutz im Rahmen von Abwägungsentscheidungen zu berücksichtigen und kann geeignet sein, ein Zurücksetzen anderer Belange von verfassungsrechtlichem Gewicht - wie etwa die Einschränkung von Grundrechten - zu rechtfertigen; er setzt sich andererseits gegen konkurrierende Belange von verfassungsrechtlichem Gewicht nicht notwendigerweise durch (BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 2010 - 2 BvF 1/07 - BVerfGE 127, 293 <328>). Zudem schützen gemäß Art. 20a GG die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung die Tiere nur "nach Maßgabe von Gesetz und Recht". Es ist vorrangig Aufgabe des Gesetzgebers, den Tierschutz zu einem gerechten Ausgleich mit widerstreitenden Grundrechten zu bringen (BVerwG, Urteil vom 23. November 2006 - 3 C 30.05 - BVerwGE 127, 183 Rn. 12). Im Hinblick auf den hohen Stellenwert, der dem ethischen Tierschutz mit der Verfassungsänderung beigemessen wurde, sollte die verfassungsrechtliche Verankerung den Tierschutz aber stärken und die Wirksamkeit tierschützender Bestimmungen sicherstellen (BT-Drs. 14/8860 S. 3). Dieses Ziel ist bei der Auslegung wertungsoffener unbestimmter Rechtsbegriffe zu berücksichtigen; der in § 1 Satz 2 TierSchG genannte "vernünftige Grund" ist ein solcher Rechtsbegriff (vgl. Lorz/Metzger, Tierschutzgesetz, 6. Aufl. 2008, § 1 Rn. 61; Hirt/Maisack/Moritz, Tierschutzgesetz, 3. Aufl. 2016, § 1 Rn. 30). Andererseits kann der ethisch begründete Tierschutz nicht bereits kraft seiner ethischen Fundierung Vorrang vor den rechtlich geschützten Interessen der Tierhalter beanspruchen.

21 3.2 Die männlichen Küken aus Zuchtlinien, die auf eine hohe Legeleistung ausgerichtet sind, werden getötet, weil sie für das Eierlegen nicht in Betracht kommen und für die Mast nur wenig geeignet sind. Das Interesse des Klägers und anderer Brutbetriebe, den Einsatz von Ressourcen für die Aufzucht dieser Küken zu vermeiden, ist schützenswert. Das Betreiben einer Brüterei ist eine durch die Berufsfreiheit geschützte Tätigkeit; die Berufsausübung kann allerdings durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG). Sollte das Tierschutzgesetz das Töten der männlichen Küken wegen des Fehlens eines vernünftigen Grundes im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG verbieten, bliebe die Berufsausübung im Übrigen hiervon unberührt. Das Ausbrüten von Eiern wäre weiter erlaubt; auch die Entscheidung des Brüters, ob in seinem Betrieb Eier aus Lege-, Mast- oder Zweinutzungslinien ausgebrütet werden, bliebe frei. Wenn er sich weiter für Eier aus besonders leistungsfähigen Legelinien entscheidet, müsste er allerdings auch die für die Mast wenig geeigneten männlichen Küken aus diesen Zuchtlinien aufziehen.

22 Bei der Gewichtung der wirtschaftlichen Interessen darf nicht zugrunde gelegt werden, dass nur der jeweilige Adressat der Untersagungsverfügung das Tötungsverbot zu beachten hat. Das Töten von Wirbeltieren, also auch von Küken, ohne vernünftigen Grund ist nicht nur unzulässig (§ 1 Satz 2 TierSchG), sondern erfüllt auch einen Straftatbestand (§ 17 Nr. 1 TierSchG). Wenn das wirtschaftliche Interesse an auf hohe Legeleistung gezüchteten Hennen kein vernünftiger Grund für das Töten der männlichen Küken aus diesen Zuchtlinien ist, dürfen sie in Deutschland in keinem Brutbetrieb getötet werden. Für Brutbetriebe außerhalb Deutschlands gilt das allerdings nicht. Soweit das deutsche Tierschutzrecht die Nutztierhaltung weitergehend als das Unionsrecht oder die Rechtsordnungen anderer für den Wettbewerb relevanter Staaten beschränkt, sind die sich daraus ergebenden Wettbewerbsnachteile der Brütereien in Deutschland eine notwendige Folge der nationalen gesetzlichen Regelung.

23 Welches Gewicht dem wirtschaftlichen Interesse am Töten der männlichen Küken zuerkannt werden kann, hängt auch von den in Betracht kommenden Alternativen ab. Die aus den Legelinien stammenden männlichen Küken aufzuziehen, wäre zwar möglich, für die Brutbetriebe aber mit erheblichen Lasten verbunden. Diese Küken sind - wie das Oberverwaltungsgericht festgestellt hat (UA S. 29) - für die Mast erheblich schlechter geeignet als Tiere aus Mastlinien. Das Oberverwaltungsgericht hat den Aufwand für die Aufzucht der männlichen Küken aus Legelinien als ökonomisch sinnlos eingestuft (UA S. 30). Gleiches galt im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für die Aufzucht von Küken aus Zweinutzungslinien, also aus Zuchtlinien, die sowohl für das Legen von Eiern als auch zur Fleischerzeugung geeignet sind (UA S. 30, 39; vgl. auch BT-Drs. 18/7782 S. 2). Bereits damals dürften Küken aus Zweinutzungslinien für die Mast zwar besser geeignet gewesen sein als Küken aus reinen Legelinien; auch sie waren für Zwecke der Fleischerzeugung aber noch erheblich schlechter geeignet als Tiere aus Mastlinien. Die Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei waren im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in der Entwicklung, unter realen Praxisbedingungen aber noch nicht einsetzbar (UA S. 38). Eine tatsächlich verfügbare Alternative waren sie mithin nicht.

24 3.3 Das Interesse am Schutz der männlichen Küken ist ausgehend von den Wertungen des Tierschutzgesetzes zu gewichten. Das Tierschutzgesetz schützt - wie gezeigt - nicht nur das Wohlbefinden des Tieres, sondern auch sein Leben schlechthin. Diese Gewährleistung gilt allerdings nicht absolut. Die Konzeption des Lebensschutzes sollte ausweislich der Gesetzesbegründung nicht in Widerspruch zu jeder berechtigten und vernünftigen Lebensbeschränkung des Tieres im Rahmen der Erhaltungsinteressen des Menschen stehen (BT-Drs. VI/2559 S. 9). Das Tierschutzgesetz verbietet weder das Schlachten von Tieren (vgl. § 4a TierSchG) noch das Töten gebrechlicher oder kranker Tiere (vgl. § 3 Nr. 2 TierSchG).

25 Dass das Tierschutzgesetz das Schlachten von Nutztieren zulässt und der Tierhalter auch den Zeitpunkt der Schlachtung im Wesentlichen selbst bestimmen kann, bedeutet nicht, dass auch das Töten männlicher Küken als normaler Vorgang im Rahmen der Ernährungswirtschaft zu qualifizieren wäre. Zwischen beiden Vorgängen bestehen wesentliche Unterschiede: Anders als Schlachttiere werden die männlichen Küken zum frühestmöglichen Zeitpunkt getötet. Ihre "Nutzlosigkeit" für die vom Brutbetrieb verfolgten Zwecke steht von vornherein fest. Zweck der Erzeugung sowohl der weiblichen als auch der männlichen Küken aus den auf eine hohe Legeleistung ausgerichteten Zuchtlinien ist allein die Aufzucht von Legehennen. Die Eier aus diesen Zuchtlinien werden in dem sicheren Wissen ausgebrütet, dass nicht nur einzelne Tiere, sondern sämtliche männlichen Küken und damit rund die Hälfte aller Küken für den Brutbetrieb keinen Nutzen haben und deshalb, wenn sich ein Abnehmer nicht findet, umgehend getötet werden sollen. Dies betraf in Deutschland im Jahr 2012 rund 45 Millionen männliche Küken pro Jahr (UA S. 3). Eine derartige Verfahrensweise widerspricht in fundamentaler Weise dem ethisch ausgerichteten, das Leben als solches einschließenden Tierschutz, wie er dem Tierschutzgesetz zugrunde liegt. Dem Leben eines männlichen Kükens aus Legelinien wird jeder Eigenwert abgesprochen. Anders als ein Schlachttier wird das männliche Küken nicht getötet, um für menschliche Bedürfnisse verwertet zu werden, sondern um wirtschaftliche Lasten für den Brutbetrieb zu vermeiden. Dass das Küken bis zur Bestimmung seines Geschlechts lebt, ändert daran nichts. Die Geschlechtsbestimmung dient allein der Aussonderung der von vornherein als nutzlos betrachteten Tiere.

26 3.4 Bei einer Abwägung der gegenläufigen Belange wiegen die Belange des Tierschutzes schwerer als das wirtschaftliche Interesse der Brutbetriebe, Folgekosten für die männlichen Küken aus Legelinien zu vermeiden. Dass Küken aus Lege- und aus Zweinutzungslinien für die Mast erheblich schlechter geeignet sind als Küken aus Mastlinien, ist Folge einer vorwiegend am Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Zucht und einer hierauf aufbauenden Produktionsweise; beide haben sich in den letzten Jahrzehnten unter Zurückstellung tierschutzrechtlicher Bedenken etabliert. Das systematische Töten der männlichen Küken aus Legelinien ist aber nicht vereinbar mit dem Grundgedanken des Tierschutzgesetzes, für einen Ausgleich zwischen Tierschutz und menschlichen Nutzungsinteressen zu sorgen. Der nach der Konzeption des Tierschutzgesetzes ethisch fundierte Lebensschutz wird für diese Tiere nicht nur zurückgestellt, sondern gänzlich aufgegeben. Sie werden in dem sicheren Wissen erzeugt, dass sie umgehend wieder getötet werden. Auch beim Schlachten von Nutztieren findet zwar kein Ausgleich zwischen dem Leben des Tieres und dem Nutzungsinteresse des Tierhalters statt; dem Leben eines Schlachttieres ist aber nicht von vornherein jeder Wert abgesprochen worden. Im Lichte des in das Grundgesetz aufgenommenen Staatsziels Tierschutz beruht das Töten der männlichen Küken nach heutigen Wertvorstellungen für sich genommen nicht mehr auf einem vernünftigen Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG (so - ohne zeitliche Differenzierung - auch Caspar, NuR 1997, 577; von Loeper, in: Kluge, Tierschutzgesetz, 2002, § 1 Rn. 57; Ort, NuR 2010, 853; Köpernik, AUR 2014, 290; Ogorek, NVwZ 2016, 1433; a.A. Steiling, AUR 2015, 7; Beckmann, NuR 2016, 384).

27 Wie der Gesetzgeber das Kükentöten bei Schaffung des Tierschutzgesetzes vom 24. Juli 1972 bewertet hätte, ist insoweit nicht maßgeblich. Im damaligen Gesetzgebungsverfahren nahm die Massengeflügelhaltung breiten Raum ein; die Problematik der Tötung der männlichen Küken wurde von niemandem angesprochen. Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf die Entwicklung zur Massentierhaltung als ökonomisch gegeben angesehen (BT-Drs. VI/2559 S. 9). Das Gesetz hat die Massentierhaltung aber nicht von dem Verbot ausgenommen, einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber im Bereich der Massentierhaltung jede ökonomisch begründete Zurückstellung von Tierschutzbelangen als vernünftig gewertet wissen wollte. Selbst wenn er damals das Töten männlicher Küken für tierschutzrechtlich zulässig gehalten haben sollte, stünde dies heute einer anderen rechtlichen Bewertung nicht entgegen. Die Frage, ob die Küken aus einem vernünftigen Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG getötet werden, muss nach den gegenwärtigen Maßstäben eines ethischen Tierschutzes beurteilt werden, nicht nach den Wertvorstellungen bei Schaffung des Tierschutzgesetzes im Jahr 1972. Der Gesetzgeber ist sowohl bei der Ergänzung des § 1 TierSchG im Jahr 1986 als auch bei der Einführung des Staatszieles Tierschutz im Jahr 2002 davon ausgegangen, dass dem Tierschutz im Vergleich zum Jahr 1972 ein hoher Stellenwert beigemessen werde; er hat diesem Bewusstseinswandel Rechnung tragen wollen (BT-Drs. 10/3158 S. 16; BT-Drs. 14/8860 S. 3). Die Auslegung des Begriffs "vernünftiger Grund" ist hierfür ebenfalls offen.

28 3.5 Da der Begriff des vernünftigen Grundes in § 1 Satz 2 TierSchG auf einen Ausgleich zwischen den rechtlich geschützten Interessen der Tierhalter und den Belangen des Tierschutzes ausgerichtet ist, dürfen die bisherige Praxis und die spezifischen Belange der Tierhalter bei einer Umstellung der Betriebsweise nicht außer Betracht bleiben. Die starke Spezialisierung der Hühnerzuchtlinien entweder auf Eierproduktion oder Fleischerzeugung hat bereits in den 1960er Jahren eingesetzt (UA S. 36). Eine an diese Zuchtergebnisse anknüpfende Betriebsweise mit einem Töten der männlichen Küken aus den Legelinien ist zwar aus heutiger Sicht tierschutzrechtlich an sich nicht zulässig. Die Veterinärbehörden und der Gesetzgeber haben diese Praxis aber jahrzehntelang hingenommen, zunächst ausgehend von einer damaligen Vorstellung entsprechenden geringeren Gewichtung des Tierschutzes, später mangels Verfügbarkeit konkurrenzfähiger Alternativen (vgl. BT-Drs. 18/6663 S. 10). Vor diesem Hintergrund kann von den Brutbetrieben eine sofortige Umstellung ihrer bisherigen Betriebsweise nicht verlangt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 2012 - 1 BvR 367/12 - BVerfGE 131, 47 <57> m.w.N.). Davon ist auch der Beklagte in seiner Untersagungsverfügung ausgegangen. Er hat die Tötung von männlichen Küken nicht mit sofortiger Wirkung untersagt, sondern erst ab 1. Januar 2015. Dieser Zeitpunkt lag mehr als ein Jahr nach dem Erlass der Verfügung. Die sofortige Vollziehung der Verfügung hat er nicht angeordnet.

29 Vollzugsdefizite im Bereich des Tierschutzes begründen grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen des Tierhalters auf Fortsetzung seines bisherigen Verhaltens (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. November 2016 - 3 B 11.16 - Buchholz 418.9 TierSchG Nr. 24 Rn. 58). Die in den letzten Jahrzehnten geübte Praxis war aber nach damals vorherrschender Auffassung nicht rechtswidrig. Erst die anhaltende und fundierte Kritik hieran hat Anlass gegeben, weitere Alternativen zum Töten der männlichen Küken zu entwickeln und diese Entwicklung auch staatlich zu fördern. Bereits im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts war nach seinen Feststellungen absehbar, dass in näherer Zukunft eine Geschlechtsbestimmung im Ei möglich sein würde (UA S. 47 f.). Auch eine Verbesserung der Nutzungsmöglichkeiten von Hühnern aus Zweinutzungslinien schien möglich (UA S. 39). Die weitere Entwicklung hat die damalige Einschätzung bestätigt. Nach den vom Vertreter des Bundesinteresses in das Verfahren eingeführten, nicht bestrittenen Erkenntnissen (Schriftsatz vom 6. März 2019) sind seit November 2018 Eier von Hennen im Handel, deren Geschlecht bereits im Ei endokrinologisch bestimmt wurde. Auch das spektroskopische Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei ist danach zwischenzeitlich so weit entwickelt, dass es Mitte des Jahres 2019 in einer "Nullserie" in einem Brutbetrieb zur Anwendung kommen soll.

30 In einer solchen Situation stellt es keinen angemessenen Interessenausgleich im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG dar, den Brutbetrieben das weitere Töten der männlichen Küken ohne eine Übergangsfrist zu untersagen, die es ihnen ermöglicht, die konkret absehbare Einsatzmöglichkeit von Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei und unterdessen auch eine etwaige weitere Entwicklung der Zweinutzungslinien abzuwarten. Ohne eine solche Übergangsfrist wären die Brutbetriebe gezwungen, zunächst mit hohem Aufwand eine Aufzucht der männlichen Küken zu ermöglichen, um dann voraussichtlich wenig später ein Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei einzurichten oder ihren Betrieb auf das Ausbrüten von Eiern aus verbesserten Zweinutzungslinien umzustellen. Die Vermeidung einer solchen doppelten Umstellung ist in Anbetracht der besonderen Umstände ein vernünftiger Grund für die vorübergehende Fortsetzung der bisherigen Praxis.

31 Würde ein vernünftiger Grund für das Töten der männlichen Küken ungeachtet des Zeitbedarfs für eine Umstellung der Betriebe verneint, könnte den schutzwürdigen Belangen der Tierhalter nicht angemessen Rechnung getragen werden. Das Töten von Küken ohne vernünftigen Grund, ist wie dargelegt, nicht nur unzulässig, sondern eine Straftat (§ 17 Nr. 1 TierSchG). Als strafbares Verhalten wäre es nicht durch das Grundrecht der Berufsfreiheit gedeckt (vgl. BVerfG, Urteil vom 28. März 2006 - 1 BvR 1054/01 - BVerfGE 115, 276 <301>). Ein Grund, ein solches strafbares Verhalten für eine Übergangszeit zu dulden, wäre nicht ersichtlich. Der Ausgleich zwischen dem Interesse der Brutbetriebe an einem Töten der männlichen Küken und den Belangen des Tierschutzes ist bereits im Rahmen der Auslegung des Begriffs "vernünftiger Grund" - und damit auf der Tatbestandsebene der Verbotsnorm des § 1 Satz 2 TierSchG - herzustellen. Zudem kann nur über den Begriff des vernünftigen Grundes ein einheitlicher Vollzug des Gesetzes mit einer einheitlichen Übergangsfrist sichergestellt werden. Hätte die jeweils zuständige Veterinärbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen eine Übergangsfrist zu setzen, könnte - wie die vorliegende Untersagungsverfügung zeigt - das unterschiedliche Vorgehen der Behörden für den Adressaten der Verfügung zu erheblichen Nachteilen im Wettbewerb führen und sogar die Existenz des Betriebes gefährden.

32 Das Bundesverwaltungsgericht darf nicht selbst eine Übergangsfrist bestimmen. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist lediglich die Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung im maßgebenden Zeitpunkt zu beurteilen. Solange der Gesetzgeber keine Frist setzt, ist es Aufgabe der für den Vollzug des Tierschutzgesetzes zuständigen Behörden, die weitere Entwicklung der Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei und der Zweinutzungsrassen zu beobachten und ausgehend von dem dargelegten Maßstab zu beurteilen, ob ein vernünftiger Grund für eine weitere Fortsetzung der bisherigen Praxis noch gegeben ist.

33 4. Die Verfahrensrüge des Beklagten ist ebenfalls unbegründet. Das Oberverwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass für die Gewichtung der im Rahmen von § 1 Satz 2 TierSchG zu berücksichtigenden Interessen rechtliche Wertungen maßgebend seien, nicht Einstellungen nicht näher bestimmter Teile der Bevölkerung (UA S. 43). Danach bestand kein Anlass, in tatsächlicher Hinsicht aufzuklären, wie die Bevölkerung das Töten der männlichen Küken ethisch bewertet.

34 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Urteil vom 13.06.2019 -
BVerwG 3 C 29.16ECLI:DE:BVerwG:2019:130619U3C29.16.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 13.06.2019 - 3 C 29.16 - [ECLI:DE:BVerwG:2019:130619U3C29.16.0]

Urteil

BVerwG 3 C 29.16

  • VG Minden - 30.01.2015 - AZ: VG 2 K 83/14
  • OVG Münster - 20.05.2016 - AZ: OVG 20 A 488/15

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 16. Mai 2019
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler, Prof. Dr. habil. Wysk, Rothfuß und Dr. Kenntner
am 13. Juni 2019 für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Mai 2016 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Der Kläger betreibt eine Brüterei. Er wendet sich gegen die Untersagung, männliche Küken zu töten.

2 Die Eier, die im Betrieb des Klägers ausgebrütet werden, stammen von Hennen aus Zuchtlinien, die auf eine hohe Legeleistung ausgerichtet sind. Für die Mast sind Tiere aus diesen Zuchtlinien wenig geeignet. Daher werden die männlichen Küken aus diesen Zuchtlinien in den Brütereien üblicherweise kurz nach dem Schlupf als sogenannte Eintagsküken getötet. Im Betrieb des Klägers werden jährlich ca. 200 000 Eier zur Erzeugung von Hennenküken ausgebrütet; ca. 100 000 männliche Küken werden getötet.

3 Im Juli 2013 stellte die Staatsanwaltschaft Münster ein Ermittlungsverfahren gegen den Betreiber einer Brüterei wegen des Tötens männlicher Küken ein. Sie war der Auffassung, dass das Töten der Küken gemäß § 17 Nr. 1 TierSchG strafbar sei; der Beschuldigte habe sich aber in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden. Daraufhin ließ das zuständige Landesministerium die Kreisordnungsbehörden anweisen, das Töten männlicher Küken zu untersagen.

4 Der Beklagte untersagte dem Kläger mit Ordnungsverfügung vom 19. Dezember 2013 unter Androhung von Zwangsgeld ab dem 1. Januar 2015 die Tötung von männlichen, nicht zur Schlachtung geeigneten Küken. Die Tötung verstoße gegen § 1 Satz 2 TierSchG; sie erfolge ohne vernünftigen Grund im Sinne dieser Vorschrift. Das Verwaltungsgericht Minden hat die Ordnungsverfügung durch Urteil vom 30. Januar 2015 aufgehoben. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklagten durch Urteil vom 20. Mai 2016 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt:

5 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei die tierschutzrechtliche Generalklausel in Verbindung mit § 1 Satz 2 TierSchG eine taugliche Rechtsgrundlage für die Untersagung; die grundlegenden Aussagen zur Verbotsschwelle seien der Vorschrift im Wege der Auslegung mit genügender Klarheit zu entnehmen. Ein vernünftiger Grund müsse auf einem anerkennenswerten menschlichen Interesse beruhen sowie unter den konkreten Umständen nach seinem objektiven Gewicht schwerer wiegen als das Interesse am Schutz der Unversehrtheit des Tieres. Ausgehend hiervon erfolge die Tötung der männlichen Küken nicht ohne vernünftigen Grund. Den Küken werde zwar der größtmögliche Schaden für ihre Unversehrtheit zugefügt; nach gegenwärtigem Stand hätten die Belange des Klägers aber größeres Gewicht. Wirtschaftliche Interessen seien im Rahmen der Produktion tierischer Lebensmittel nicht von vornherein nachrangig. Nutztiere würden zweckgerichtet für ihre Verwendung auf dem Markt erzeugt, gehalten und getötet; das sei kein Mangel an Achtung der Tiere in ihrer Mitgeschöpflichkeit. Die Tötung von Tieren sei nicht nur gerechtfertigt, wenn sie für den Menschen existenzielle Zwecke erfülle. Das gelte auch im Lichte der Staatszielbestimmung Tierschutz. Maßgebender Grund für die Tötung der männlichen Küken sei, dass sie wegen ihres Geschlechts nicht zur Produktion von Eiern genutzt werden könnten und wegen der Eigenschaften ihrer Zuchtlinie nicht für die Produktion von Fleisch verwendet würden. Die Aufzucht der männlichen Küken stehe im Widerspruch zum erreichten Stand der Hühnerzucht und den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen; der Aufwand sei ökonomisch sinnlos. "Bruderhähne" und Stubenküken seien ein bloßes Nischenprodukt; ihre Vermarktung in größerem Umfang sei unrealistisch. Von der wirtschaftlichen Unvertretbarkeit des Haltens der männlichen Küken seien die staatlichen Stellen über Jahrzehnte ausgegangen. Die Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 regele eine gesonderte Tötungsmethode für Küken mit einem Höchstalter von 72 Stunden; bestünde ein Tötungsverbot wären diese Vorschriften funktionslos. Alternativen zur Tötung der männlichen Küken seien gegenwärtig nicht vorhanden. Die Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei seien unter realen Praxisbedingungen noch nicht einsetzbar. Die Leistungsmerkmale von Küken aus Zweinutzungslinien blieben noch so weit hinter den spezialisierten Zuchtlinien zurück, dass sie sich für einen breiten Einsatz nicht eigneten. Schließlich möge es sein, dass das Töten der Küken heute unter ethischen Gesichtspunkten vermehrt abgelehnt werde. Für einen dahingehenden mehrheitlichen Konsens gebe es aber keine Anhaltspunkte. Im Übrigen handle es sich um eine rechtliche Wertung, die sich nicht nach der Einstellung von Bevölkerungsteilen richte.

6 Unabhängig davon habe der Beklagte sein Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt. Er habe die belastenden Auswirkungen der Untersagung mit der eingeräumten Übergangsfrist nicht hinreichend berücksichtigt. Es sei dem Kläger nicht zuzumuten, der Untersagung zu einem Zeitpunkt Folge zu leisten, in dem sich wegen des Stands der Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei eine rechtliche Neubeurteilung der Tötung der männlichen Küken mit Auswirkungen auf alle Brütereien abzeichne.

7 Mit seiner Revision macht der Beklagte im Wesentlichen geltend: Das Oberverwaltungsgericht habe nur auf die ökonomischen Gründe abgestellt und das Tierwohl nicht wirklich abgewogen. Ökonomische Gründe seien nicht per se vernünftig im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG. Das Tierschutzgesetz schütze das Tier um seiner selbst willen. Der Gedanke der Mitgeschöpflichkeit, der auch dem Staatsziel des Art. 20a GG zugrunde liege, verbiete eine Produktionsmethode, die die Hälfte der erzeugten Tiere als Abfall ansehe. Das Oberverwaltungsgericht habe die Berufsfreiheit des Klägers undifferenziert übergewichtet und die Staatszielbestimmung nicht in Ansatz gebracht. Es habe zudem verfahrensfehlerhaft versäumt, die Auffassung in der Bevölkerung zur Tötung männlicher Küken aufzuklären. Bei der Ermessenskontrolle habe es übersehen, dass kein Entschließungsermessen bestehe, zumal - jedenfalls objektiv - ein Straftatbestand verwirklicht werde.

8 Der Kläger tritt der Revision entgegen: Das Töten von Eintagsküken werde bereits durch die Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 zugelassen. Die Praxis des Tötens bestehe seit mehr als 50 Jahren weltweit. Auch die Bundesregierung und die Mehrheit des Bundestags gingen davon aus, dass sie derzeit zulässig sei. Ökonomische Gründe müssten als vernünftiger Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG anerkannt werden. Insoweit eine umfassende Abwägung zu verlangen, sei verfehlt. Der Grund müsse triftig, einsichtig und von einem schutzwürdigen Interesse getragen sein. Hier ergebe sich ein vernünftiger Grund bereits daraus, dass es für männliche Eintagsküken keine hinreichenden Absatzmöglichkeiten gebe. Ihre Aufzucht sei wirtschaftlich, aber auch ressourcenökologisch unvernünftig.

9 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren. Er ist der Auffassung, für das Tötungsverbot sei eine ausdrückliche Entscheidung des Gesetzgebers erforderlich, an der es hier fehle.

II

10 Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Die angefochtene Untersagungsverfügung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, das Töten der männlichen Küken verstoße nicht gegen tierschutzrechtliche Vorschriften, ist im Ergebnis mit Bundesrecht vereinbar. Das wirtschaftliche Interesse an speziell auf eine hohe Legeleistung gezüchteten Hennen ist für sich genommen zwar kein vernünftiger Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG für das Töten der männlichen Küken aus diesen Zuchtlinien. Ist jedoch - wie im maßgebenden Zeitpunkt hier - absehbar, dass in Kürze Alternativen zum Töten der Küken zur Verfügung stehen werden, die den Brutbetrieb deutlich weniger belasten als die Aufzucht der Tiere, beruht eine Fortsetzung der bisherigen Praxis für eine Übergangszeit noch auf einem "vernünftigen Grund".

11 Die an den Kläger gerichtete Untersagung, männliche Küken zu töten, ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Maßgebend für die Entscheidung des Revisionsgerichts sind gemäß § 137 Abs. 2 VwGO die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil. Rechtsänderungen sind bis zum Ergehen der Revisionsentscheidung zu berücksichtigen (BVerwG, Urteile vom 7. November 2018 - 7 C 18.18 - NVwZ-RR 2019, 456 Rn. 15 und vom 28. Januar 1988 - 3 C 48.85 - Buchholz 418.712 LMKV Nr. 2 S. 3; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 113 Rn. 58). Der revisionsgerichtlichen Beurteilung zugrunde zu legen ist danach das Tierschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I S. 1206), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. Dezember 2018 (BGBl. I S. 2586). Die maßgebenden Vorschriften haben sich gegenüber dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nicht geändert.

12 1. Gemäß § 1 Satz 2 TierSchG darf niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen. Dieses Verbot erfasst auch das Töten männlicher Küken.

13 1.1 Das Unionsrecht regelt das Töten von Küken nicht abschließend. Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 des Rates vom 24. September 2009 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung (ABl. L 303 S. 1) sieht vor, dass Tiere nur nach einer Betäubung im Einklang mit in Anhang I der Verordnung genannten Verfahren getötet werden. Für Küken mit einem Höchstalter von 72 Stunden lässt der Anhang auch die Zerkleinerung zu (Anhang I Kapitel I Tabelle 1 Nr. 4, Kapitel II Nr. 2). Die Verordnung setzt damit voraus, dass das Töten der Küken - auch in großer Zahl - unionsrechtlich zulässig ist. Sie hindert die Mitgliedstaaten aber nicht, nach Maßgabe von Art. 26 der Verordnung strengere nationale Vorschriften über den Schutz von Küken zum Zeitpunkt der Tötung beizubehalten oder zu erlassen. Ebenso wenig steht sie nationalen Vorschriften entgegen, die das Töten der Küken untersagen oder beschränken.

14 1.2 Es gibt auch im deutschen Recht keine speziellen gesetzlichen Regelungen über das Töten von Küken. Das Tierschutzgesetz enthält hierzu keine über § 1 Satz 2 TierSchG hinausgehende ausdrückliche Regelung.

15 Die allgemeinen Vorschriften im 3. Abschnitt des Tierschutzgesetzes - "Töten von Tieren" - regeln nicht, ob ein Tier getötet werden darf, sondern wie es getötet (§ 4 TierSchG) bzw. geschlachtet (§ 4a TierSchG) werden muss (Hirt/Maisack/Moritz, Tierschutzgesetz, 3. Aufl. 2016, § 4 Rn. 2; Kluge, in: Kluge, Tierschutzgesetz, 2002, § 4 Rn. 1; Lorz/Metzger, Tierschutzgesetz, 6. Aufl. 2008, § 4 Rn. 2). Die Verordnung zum Schutz von Tieren im Zusammenhang mit der Schlachtung oder Tötung und zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 des Rates (Tierschutz-Schlachtverordnung - TierSchlV) vom 20. Dezember 2012 (BGBl. I S. 2982) steht als Rechtsverordnung im Rang unter dem Tierschutzgesetz. Sie dient der Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 und der Ausfüllung des Vorbehalts für strengere nationale Regelungen; die Zerkleinerung von Küken lässt sie nur bis zu 60 Stunden nach dem Schlupf zu (§ 2 Nr. 3, § 12 Abs. 3, Anlage 1 Nr. 3 TierSchlV). Die Tierschutz-Schlachtverordnung setzt damit voraus, dass das Tierschutzgesetz das Töten der Tiere zulässt. Ob das der Fall ist, muss durch Auslegung des § 1 Satz 2 TierSchG ermittelt werden.

16 2. Durch das Töten wird den Küken ein Schaden im Sinne des § 1 Satz 2 TierSchG zugefügt. Das Tierschutzgesetz schützt nicht nur das Wohlbefinden des Tieres, sondern auch sein Leben schlechthin (§ 1 Satz 1 TierSchG; BT-Drs. VI/2559 S. 9). Insoweit unterscheidet es sich nicht nur von der Vorgängerregelung, dem Tierschutzgesetz vom 24. November 1933 (RGBl. I S. 987), sondern auch von den Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Nach den Angaben des Beklagten enthält nur das österreichische Tierschutzgesetz eine vergleichbare Regelung. Nutztiere sind von dem Schutz des Lebens nicht ausgenommen; das Tierschutzgesetz misst auch dem Leben eines jeden Nutztieres einen Wert an sich zu.

17 3. Das Verbot des § 1 Satz 2 TierSchG, einem Tier "ohne vernünftigen Grund" Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen, ist ausgerichtet auf einen Ausgleich zwischen den rechtlich geschützten Interessen der Tierhalter einerseits und den Belangen des Tierschutzes andererseits (BVerfG, Urteil vom 6. Juli 1999 - 2 BvF 3/90 - BVerfGE 101, 1 <37>). Das Tierschutzgesetz soll wirtschaftliche und wissenschaftliche Interessen, die sich aus der Entwicklung der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik ergeben, mit den ethischen Forderungen auf dem Gebiet des Tierschutzes in Einklang bringen (vgl. BT-Drs. VI/2559 S. 9). Der "vernünftige Grund" ist der zentrale Begriff zur Herstellung dieses Ausgleichs (vgl. Caspar, NuR 1997, 577; Hirt/Maisack/Moritz, Tierschutzgesetz, 3. Aufl. 2016, § 1 Rn. 30). Ausgehend hiervon ist ein Grund für das Zufügen von Schmerzen, Leiden oder Schäden jedenfalls dann vernünftig im Sinne des Tierschutzgesetzes, wenn es einem schutzwürdigen menschlichen Interesse dient, das unter den konkreten Umständen schwerer wiegt als das Interesse am Schutz des Tieres (vgl. BT-Drs. 16/9742 S. 4; von Loeper, in: Kluge, Tierschutzgesetz, 2002, § 1 Rn. 52; Hirt/Maisack/Moritz, Tierschutzgesetz, 3. Aufl. 2016, § 1 Rn. 31, 33; Lorz/Metzger, Tierschutzgesetz, 6. Aufl. 2008, § 1 Rn. 62).

18 3.1 Dass das Verhalten gegenüber dem Tier nicht willkürlich ist, insbesondere nicht auf zu missbilligenden Motiven beruht, wie etwa der Lust an der Vernichtung oder dem Quälen eines Tieres (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Januar 2000 - 3 C 12.99 - Buchholz 418.9 TierSchG Nr. 11 S. 3), genügt für einen vernünftigen Grund hiernach nicht. Schutzwürdig sind, soweit es um Nutztiere geht, andererseits nicht nur die unmittelbaren Ernährungs- und vergleichbaren Bedürfnisse der Menschen; auch das wirtschaftliche Interesse der Tierhalter an einem möglichst geringen Aufwand für die Erfüllung dieser Bedürfnisse ist grundsätzlich anzuerkennen. Derartige wirtschaftliche Interessen müssen aber - wie jedes schutzwürdige menschliche Interesse beim Umgang mit Tieren - an den Belangen des Tierschutzes gemessen werden und sind gegebenenfalls Begrenzungen unterworfen. Sie sind nicht schon deshalb vernünftig im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG, weil sie ökonomisch plausibel sind.

19 Den Belangen der Tierhalter stehen die unter den konkreten Umständen berührten Belange des Tierschutzes gegenüber. Dem Tierschutzgesetz vom 24. Juli 1972 (BGBl. I S. 1277) liegt ein ethisch ausgerichteter Tierschutz zugrunde (BT-Drs. VI/2559 S. 9; BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 1978 - 1 BvL 14/77 - BVerfGE 48, 376 <389>). Das Erste Gesetz zur Änderung des Tierschutzgesetzes vom 12. August 1986 (BGBl. I S. 1309) hat den Schutz der Tiere in § 1 Satz 1 TierSchG ausdrücklich auf die Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf gestützt. Eine materielle Änderung gegenüber dem Tierschutzgesetz vom 24. Juli 1972 war damit nicht beabsichtigt (BT-Drs. 10/5259 S. 39). Veranlasst war die Ergänzung aber durch das zunehmende Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Erfordernisse des Tierschutzes und wachsende Kritik an der Vollzugspraxis, u.a. im Bereich der Massentierhaltung (BT-Drs. 10/3158 S. 16; BT-Drs. 10/5259 S. 32; BT-Drs. 10/2703 S. 13).

20 Die Aufnahme des Tierschutzes in den Schutzauftrag des Art. 20a GG durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 26. Juli 2002 (BGBl. I S. 2862) hat den bereits einfachgesetzlich normierten Tierschutz weiter gestärkt (BT-Drs. 14/8860 S. 3). Als Belang von Verfassungsrang ist der Tierschutz im Rahmen von Abwägungsentscheidungen zu berücksichtigen und kann geeignet sein, ein Zurücksetzen anderer Belange von verfassungsrechtlichem Gewicht - wie etwa die Einschränkung von Grundrechten - zu rechtfertigen; er setzt sich andererseits gegen konkurrierende Belange von verfassungsrechtlichem Gewicht nicht notwendigerweise durch (BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 2010 - 2 BvF 1/07 - BVerfGE 127, 293 <328>). Zudem schützen gemäß Art. 20a GG die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung die Tiere nur "nach Maßgabe von Gesetz und Recht". Es ist vorrangig Aufgabe des Gesetzgebers, den Tierschutz zu einem gerechten Ausgleich mit widerstreitenden Grundrechten zu bringen (BVerwG, Urteil vom 23. November 2006 - 3 C 30.05 - BVerwGE 127, 183 Rn. 12). Im Hinblick auf den hohen Stellenwert, der dem ethischen Tierschutz mit der Verfassungsänderung beigemessen wurde, sollte die verfassungsrechtliche Verankerung den Tierschutz aber stärken und die Wirksamkeit tierschützender Bestimmungen sicherstellen (BT-Drs. 14/8860 S. 3). Dieses Ziel ist bei der Auslegung wertungsoffener unbestimmter Rechtsbegriffe zu berücksichtigen; der in § 1 Satz 2 TierSchG genannte "vernünftige Grund" ist ein solcher Rechtsbegriff (vgl. Lorz/Metzger, Tierschutzgesetz, 6. Aufl. 2008, § 1 Rn. 61; Hirt/Maisack/Moritz, Tierschutzgesetz, 3. Aufl. 2016, § 1 Rn. 30). Andererseits kann der ethisch begründete Tierschutz nicht bereits kraft seiner ethischen Fundierung Vorrang vor den rechtlich geschützten Interessen der Tierhalter beanspruchen.

21 3.2 Die männlichen Küken aus Zuchtlinien, die auf eine hohe Legeleistung ausgerichtet sind, werden getötet, weil sie für das Eierlegen nicht in Betracht kommen und für die Mast nur wenig geeignet sind. Das Interesse des Klägers und anderer Brutbetriebe, den Einsatz von Ressourcen für die Aufzucht dieser Küken zu vermeiden, ist schützenswert. Das Betreiben einer Brüterei ist eine durch die Berufsfreiheit geschützte Tätigkeit; die Berufsausübung kann allerdings durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG). Sollte das Tierschutzgesetz das Töten der männlichen Küken wegen des Fehlens eines vernünftigen Grundes im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG verbieten, bliebe die Berufsausübung im Übrigen hiervon unberührt. Das Ausbrüten von Eiern wäre weiter erlaubt; auch die Entscheidung des Brüters, ob in seinem Betrieb Eier aus Lege-, Mast- oder Zweinutzungslinien ausgebrütet werden, bliebe frei. Wenn er sich weiter für Eier aus besonders leistungsfähigen Legelinien entscheidet, müsste er allerdings auch die für die Mast wenig geeigneten männlichen Küken aus diesen Zuchtlinien aufziehen.

22 Bei der Gewichtung der wirtschaftlichen Interessen darf nicht zugrunde gelegt werden, dass nur der jeweilige Adressat der Untersagungsverfügung das Tötungsverbot zu beachten hat. Das Töten von Wirbeltieren, also auch von Küken, ohne vernünftigen Grund ist nicht nur unzulässig (§ 1 Satz 2 TierSchG), sondern erfüllt auch einen Straftatbestand (§ 17 Nr. 1 TierSchG). Wenn das wirtschaftliche Interesse an auf hohe Legeleistung gezüchteten Hennen kein vernünftiger Grund für das Töten der männlichen Küken aus diesen Zuchtlinien ist, dürfen sie in Deutschland in keinem Brutbetrieb getötet werden. Für Brutbetriebe außerhalb Deutschlands gilt das allerdings nicht. Soweit das deutsche Tierschutzrecht die Nutztierhaltung weitergehend als das Unionsrecht oder die Rechtsordnungen anderer für den Wettbewerb relevanter Staaten beschränkt, sind die sich daraus ergebenden Wettbewerbsnachteile der Brütereien in Deutschland eine notwendige Folge der nationalen gesetzlichen Regelung.

23 Welches Gewicht dem wirtschaftlichen Interesse am Töten der männlichen Küken zuerkannt werden kann, hängt auch von den in Betracht kommenden Alternativen ab. Die aus den Legelinien stammenden männlichen Küken aufzuziehen, wäre zwar möglich, für die Brutbetriebe aber mit erheblichen Lasten verbunden. Diese Küken sind - wie das Oberverwaltungsgericht festgestellt hat (UA S. 29) - für die Mast erheblich schlechter geeignet als Tiere aus Mastlinien. Das Oberverwaltungsgericht hat den Aufwand für die Aufzucht der männlichen Küken aus Legelinien als ökonomisch sinnlos eingestuft (UA S. 30). Gleiches galt im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für die Aufzucht von Küken aus Zweinutzungslinien, also aus Zuchtlinien, die sowohl für das Legen von Eiern als auch zur Fleischerzeugung geeignet sind (UA S. 30, 39; vgl. auch BT-Drs. 18/7782 S. 2). Bereits damals dürften Küken aus Zweinutzungslinien für die Mast zwar besser geeignet gewesen sein als Küken aus reinen Legelinien; auch sie waren für Zwecke der Fleischerzeugung aber noch erheblich schlechter geeignet als Tiere aus Mastlinien. Die Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei waren im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in der Entwicklung, unter realen Praxisbedingungen aber noch nicht einsetzbar (UA S. 38). Eine tatsächlich verfügbare Alternative waren sie mithin nicht.

24 3.3 Das Interesse am Schutz der männlichen Küken ist ausgehend von den Wertungen des Tierschutzgesetzes zu gewichten. Das Tierschutzgesetz schützt - wie gezeigt - nicht nur das Wohlbefinden des Tieres, sondern auch sein Leben schlechthin. Diese Gewährleistung gilt allerdings nicht absolut. Die Konzeption des Lebensschutzes sollte ausweislich der Gesetzesbegründung nicht in Widerspruch zu jeder berechtigten und vernünftigen Lebensbeschränkung des Tieres im Rahmen der Erhaltungsinteressen des Menschen stehen (BT-Drs. VI/2559 S. 9). Das Tierschutzgesetz verbietet weder das Schlachten von Tieren (vgl. § 4a TierSchG) noch das Töten gebrechlicher oder kranker Tiere (vgl. § 3 Nr. 2 TierSchG).

25 Dass das Tierschutzgesetz das Schlachten von Nutztieren zulässt und der Tierhalter auch den Zeitpunkt der Schlachtung im Wesentlichen selbst bestimmen kann, bedeutet nicht, dass auch das Töten männlicher Küken als normaler Vorgang im Rahmen der Ernährungswirtschaft zu qualifizieren wäre. Zwischen beiden Vorgängen bestehen wesentliche Unterschiede: Anders als Schlachttiere werden die männlichen Küken zum frühestmöglichen Zeitpunkt getötet. Ihre "Nutzlosigkeit" für die vom Brutbetrieb verfolgten Zwecke steht von vornherein fest. Zweck der Erzeugung sowohl der weiblichen als auch der männlichen Küken aus den auf eine hohe Legeleistung ausgerichteten Zuchtlinien ist allein die Aufzucht von Legehennen. Die Eier aus diesen Zuchtlinien werden in dem sicheren Wissen ausgebrütet, dass nicht nur einzelne Tiere, sondern sämtliche männlichen Küken und damit rund die Hälfte aller Küken für den Brutbetrieb keinen Nutzen haben und deshalb, wenn sich ein Abnehmer nicht findet, umgehend getötet werden sollen. Dies betraf in Deutschland im Jahr 2012 rund 45 Millionen männliche Küken pro Jahr (UA S. 2). Eine derartige Verfahrensweise widerspricht in fundamentaler Weise dem ethisch ausgerichteten, das Leben als solches einschließenden Tierschutz, wie er dem Tierschutzgesetz zugrunde liegt. Dem Leben eines männlichen Kükens aus Legelinien wird jeder Eigenwert abgesprochen. Anders als ein Schlachttier wird das männliche Küken nicht getötet, um für menschliche Bedürfnisse verwertet zu werden, sondern um wirtschaftliche Lasten für den Brutbetrieb zu vermeiden. Dass das Küken bis zur Bestimmung seines Geschlechts lebt, ändert daran nichts. Die Geschlechtsbestimmung dient allein der Aussonderung der von vornherein als nutzlos betrachteten Tiere.

26 3.4 Bei einer Abwägung der gegenläufigen Belange wiegen die Belange des Tierschutzes schwerer als das wirtschaftliche Interesse der Brutbetriebe, Folgekosten für die männlichen Küken aus Legelinien zu vermeiden. Dass Küken aus Lege- und aus Zweinutzungslinien für die Mast erheblich schlechter geeignet sind als Küken aus Mastlinien, ist Folge einer vorwiegend am Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Zucht und einer hierauf aufbauenden Produktionsweise; beide haben sich in den letzten Jahrzehnten unter Zurückstellung tierschutzrechtlicher Bedenken etabliert. Das systematische Töten der männlichen Küken aus Legelinien ist aber nicht vereinbar mit dem Grundgedanken des Tierschutzgesetzes, für einen Ausgleich zwischen Tierschutz und menschlichen Nutzungsinteressen zu sorgen. Der nach der Konzeption des Tierschutzgesetzes ethisch fundierte Lebensschutz wird für diese Tiere nicht nur zurückgestellt, sondern gänzlich aufgegeben. Sie werden in dem sicheren Wissen erzeugt, dass sie umgehend wieder getötet werden. Auch beim Schlachten von Nutztieren findet zwar kein Ausgleich zwischen dem Leben des Tieres und dem Nutzungsinteresse des Tierhalters statt; dem Leben eines Schlachttieres ist aber nicht von vornherein jeder Wert abgesprochen worden. Im Lichte des in das Grundgesetz aufgenommenen Staatsziels Tierschutz beruht das Töten der männlichen Küken nach heutigen Wertvorstellungen für sich genommen nicht mehr auf einem vernünftigen Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG (so - ohne zeitliche Differenzierung - auch Caspar, NuR 1997, 577; von Loeper, in: Kluge, Tierschutzgesetz, 2002, § 1 Rn. 57; Ort, NuR 2010, 853; Köpernik, AUR 2014, 290; Ogorek, NVwZ 2016, 1433; a.A. Steiling, AUR 2015, 7; Beckmann, NuR 2016, 384).

27 Wie der Gesetzgeber das Kükentöten bei Schaffung des Tierschutzgesetzes vom 24. Juli 1972 bewertet hätte, ist insoweit nicht maßgeblich. Im damaligen Gesetzgebungsverfahren nahm die Massengeflügelhaltung breiten Raum ein; die Problematik der Tötung der männlichen Küken wurde von niemandem angesprochen. Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf die Entwicklung zur Massentierhaltung als ökonomisch gegeben angesehen (BT-Drs. VI/2559 S. 9). Das Gesetz hat die Massentierhaltung aber nicht von dem Verbot ausgenommen, einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber im Bereich der Massentierhaltung jede ökonomisch begründete Zurückstellung von Tierschutzbelangen als vernünftig gewertet wissen wollte. Selbst wenn er damals das Töten männlicher Küken für tierschutzrechtlich zulässig gehalten haben sollte, stünde dies heute einer anderen rechtlichen Bewertung nicht entgegen. Die Frage, ob die Küken aus einem vernünftigen Grund im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG getötet werden, muss nach den gegenwärtigen Maßstäben eines ethischen Tierschutzes beurteilt werden, nicht nach den Wertvorstellungen bei Schaffung des Tierschutzgesetzes im Jahr 1972. Der Gesetzgeber ist sowohl bei der Ergänzung des § 1 TierSchG im Jahr 1986 als auch bei der Einführung des Staatszieles Tierschutz im Jahr 2002 davon ausgegangen, dass dem Tierschutz im Vergleich zum Jahr 1972 ein hoher Stellenwert beigemessen werde; er hat diesem Bewusstseinswandel Rechnung tragen wollen (BT-Drs. 10/3158 S. 16; BT-Drs. 14/8860 S. 3). Die Auslegung des Begriffs "vernünftiger Grund" ist hierfür ebenfalls offen.

28 3.5 Da der Begriff des vernünftigen Grundes in § 1 Satz 2 TierSchG auf einen Ausgleich zwischen den rechtlich geschützten Interessen der Tierhalter und den Belangen des Tierschutzes ausgerichtet ist, dürfen die bisherige Praxis und die spezifischen Belange der Tierhalter bei einer Umstellung der Betriebsweise nicht außer Betracht bleiben. Die starke Spezialisierung der Hühnerzuchtlinien entweder auf Eierproduktion oder Fleischerzeugung hat bereits in den 1960er Jahren eingesetzt (UA S. 35). Eine an diese Zuchtergebnisse anknüpfende Betriebsweise mit einem Töten der männlichen Küken aus den Legelinien ist zwar aus heutiger Sicht tierschutzrechtlich an sich nicht zulässig. Die Veterinärbehörden und der Gesetzgeber haben diese Praxis aber jahrzehntelang hingenommen, zunächst ausgehend von einer damaligen Vorstellung entsprechenden geringeren Gewichtung des Tierschutzes, später mangels Verfügbarkeit konkurrenzfähiger Alternativen (vgl. BT-Drs. 18/6663 S. 10). Vor diesem Hintergrund kann von den Brutbetrieben eine sofortige Umstellung ihrer bisherigen Betriebsweise nicht verlangt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 2012 - 1 BvR 367/12 - BVerfGE 131, 47 <57> m.w.N.). Davon ist auch der Beklagte in seiner Untersagungsverfügung ausgegangen. Er hat die Tötung von männlichen Küken nicht mit sofortiger Wirkung untersagt, sondern erst ab 1. Januar 2015. Dieser Zeitpunkt lag mehr als ein Jahr nach dem Erlass der Verfügung. Die sofortige Vollziehung der Verfügung hat er nicht angeordnet.

29 Vollzugsdefizite im Bereich des Tierschutzes begründen grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen des Tierhalters auf Fortsetzung seines bisherigen Verhaltens (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. November 2016 - 3 B 11.16 - Buchholz 418.9 TierSchG Nr. 24 Rn. 58). Die in den letzten Jahrzehnten geübte Praxis war aber nach damals vorherrschender Auffassung nicht rechtswidrig. Erst die anhaltende und fundierte Kritik hieran hat Anlass gegeben, weitere Alternativen zum Töten der männlichen Küken zu entwickeln und diese Entwicklung auch staatlich zu fördern. Bereits im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts war nach seinen Feststellungen absehbar, dass in näherer Zukunft eine Geschlechtsbestimmung im Ei möglich sein würde (UA S. 47 f.). Auch eine Verbesserung der Nutzungsmöglichkeiten von Hühnern aus Zweinutzungslinien schien möglich (UA S. 39). Die weitere Entwicklung hat die damalige Einschätzung bestätigt. Nach den vom Vertreter des Bundesinteresses in das Verfahren eingeführten, nicht bestrittenen Erkenntnissen (Schriftsatz vom 6. März 2019) sind seit November 2018 Eier von Hennen im Handel, deren Geschlecht bereits im Ei endokrinologisch bestimmt wurde. Auch das spektroskopische Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei ist danach zwischenzeitlich so weit entwickelt, dass es Mitte des Jahres 2019 in einer "Nullserie" in einem Brutbetrieb zur Anwendung kommen soll.

30 In einer solchen Situation stellt es keinen angemessenen Interessenausgleich im Sinne von § 1 Satz 2 TierSchG dar, den Brutbetrieben das weitere Töten der männlichen Küken ohne eine Übergangsfrist zu untersagen, die es ihnen ermöglicht, die konkret absehbare Einsatzmöglichkeit von Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei und unterdessen auch eine etwaige weitere Entwicklung der Zweinutzungslinien abzuwarten. Ohne eine solche Übergangsfrist wären die Brutbetriebe gezwungen, zunächst mit hohem Aufwand eine Aufzucht der männlichen Küken zu ermöglichen, um dann voraussichtlich wenig später ein Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei einzurichten oder ihren Betrieb auf das Ausbrüten von Eiern aus verbesserten Zweinutzungslinien umzustellen. Die Vermeidung einer solchen doppelten Umstellung ist in Anbetracht der besonderen Umstände ein vernünftiger Grund für die vorübergehende Fortsetzung der bisherigen Praxis.

31 Würde ein vernünftiger Grund für das Töten der männlichen Küken ungeachtet des Zeitbedarfs für eine Umstellung der Betriebe verneint, könnte den schutzwürdigen Belangen der Tierhalter nicht angemessen Rechnung getragen werden. Das Töten von Küken ohne vernünftigen Grund, ist wie dargelegt, nicht nur unzulässig, sondern eine Straftat (§ 17 Nr. 1 TierSchG). Als strafbares Verhalten wäre es nicht durch das Grundrecht der Berufsfreiheit gedeckt (vgl. BVerfG, Urteil vom 28. März 2006 - 1 BvR 1054/01 - BVerfGE 115, 276 <301>). Ein Grund, ein solches strafbares Verhalten für eine Übergangszeit zu dulden, wäre nicht ersichtlich. Der Ausgleich zwischen dem Interesse der Brutbetriebe an einem Töten der männlichen Küken und den Belangen des Tierschutzes ist bereits im Rahmen der Auslegung des Begriffs "vernünftiger Grund" - und damit auf der Tatbestandsebene der Verbotsnorm des § 1 Satz 2 TierSchG - herzustellen. Zudem kann nur über den Begriff des vernünftigen Grundes ein einheitlicher Vollzug des Gesetzes mit einer einheitlichen Übergangsfrist sichergestellt werden. Hätte die jeweils zuständige Veterinärbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen eine Übergangsfrist zu setzen, könnte - wie die vorliegende Untersagungsverfügung zeigt - das unterschiedliche Vorgehen der Behörden für den Adressaten der Verfügung zu erheblichen Nachteilen im Wettbewerb führen und sogar die Existenz des Betriebes gefährden.

32 Das Bundesverwaltungsgericht darf nicht selbst eine Übergangsfrist bestimmen. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist lediglich die Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung im maßgebenden Zeitpunkt zu beurteilen. Solange der Gesetzgeber keine Frist setzt, ist es Aufgabe der für den Vollzug des Tierschutzgesetzes zuständigen Behörden, die weitere Entwicklung der Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei und der Zweinutzungsrassen zu beobachten und ausgehend von dem dargelegten Maßstab zu beurteilen, ob ein vernünftiger Grund für eine weitere Fortsetzung der bisherigen Praxis noch gegeben ist.

33 4. Die Verfahrensrüge des Beklagten ist ebenfalls unbegründet. Das Oberverwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass für die Gewichtung der im Rahmen von § 1 Satz 2 TierSchG zu berücksichtigenden Interessen rechtliche Wertungen maßgebend seien, nicht Einstellungen nicht näher bestimmter Teile der Bevölkerung (UA S. 42). Danach bestand kein Anlass, in tatsächlicher Hinsicht aufzuklären, wie die Bevölkerung das Töten der männlichen Küken ethisch bewertet.

34 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.