Verfahrensinformation



Der Kläger ist ein geschiedener Ruhestandsbeamter, der seit 1997 auf seinen Antrag hin ungekürzte Versorgungsbezüge bezog. Die Versorgungsbehörde beschied dem Kläger seinerzeit unter Hinweis auf seine Anzeigepflicht, dass die Versorgungsbezüge ab dem Tag zu kürzen seien, an dem die geschiedene Ehefrau aus dem Versorgungsausgleich eine Rente erhalte oder keinen Unterhaltsanspruch mehr gegen ihn habe; Versorgungsbezüge, die zuviel gezahlt würden, seien zurückzuzahlen. Der Kläger zeigte keinen Rentenbezug der geschiedenen Ehefrau an.


Anfang 2005 wandte sich die Versorgungsbehörde an den Rentenversicherungsträger mit der Bitte um Rentenauskunft zu der geschiedenen Ehefrau. Dieses Schreiben blieb unbeantwortet. Auf erneute Nachfrage im Jahr 2009 teilte der Rentenversicherungsträger mit, dass die geschiedene Ehefrau des Klägers seit 2002 Altersrente beziehe. In der Folge forderte die Versorgungsbehörde um den Familienzuschlag und die Versorgungsanwartschaften der geschiedenen Ehefrau überzahlte Bezüge unter Einräumung monatlicher Ratenzahlung von 350 € zurück.


Auf die dagegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht den Rückforderungsbescheid mit der Begründung aufgehoben, die Entscheidung der Versorgungsbehörde leide unter einem Ermessensfehler. Sie beachte nicht hinreichend, dass der Grund für die Überzahlung zu etwa gleichen Teilen auf ein Fehlverhalten des Klägers und der Behörde zurückzuführen sei. Das Berufungsgericht, das die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat, hat das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage unter Hinweis darauf abgewiesen, dass sich die Billigkeitsentscheidung als noch ermessensgerecht erweise, weil dem Kläger Ratenzahlung gewährt worden sei.


Im Revisionsverfahren wird es voraussichtlich auf die Frage ankommen, wann von der Rückforderung überzahlter Versorgungsbezüge aus Billigkeitsgründen ganz oder teilweise abgesehen werden kann.


Beschluss vom 13.08.2015 -
BVerwG 4 B 15.15ECLI:DE:BVerwG:2015:130815B4B15.15.0

Beschluss

BVerwG 4 B 15.15

  • VG Magdeburg - 29.03.2012 - AZ: VG 9 A 13/11 MD
  • OVG Magdeburg - 18.12.2014 - AZ: OVG 2 L 78/12

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. August 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz und Dr. Decker
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 18. Dezember 2014 wird zurückgewiesen.
  2. Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

2 1. Das Beschwerdevorbringen ergibt nicht, dass die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen wäre.

3 Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), d.h. näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine bestimmte Rechtsfrage des Bundesrechts im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr; so bereits BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91>; siehe auch Beschluss vom 1. Februar 2011 - 7 B 45.10 - juris Rn. 15). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerde nicht. Sie formuliert zwar eine Rechtsfrage, die sie für grundsätzlich klärungsbedürftig hält (Beschwerdebegründung S. 5), legt aber weder dar, dass und inwieweit diese Frage im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig noch warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist. Vielmehr wendet sie sich im Stile einer Berufungsbegründung gegen die Auslegung der Ziffer 6 des zwischen den Beteiligten am 13. Mai 2009 geschlossenen außergerichtlichen Vergleichs durch das Oberverwaltungsgericht. Das wird den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht gerecht.

4 2. Die Revision ist auch nicht wegen eines Verfahrensfehlers (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Das Oberverwaltungsgericht hat dadurch, dass es ohne mündliche Verhandlung nach § 130a VwGO entschieden hat, das Recht der Kläger auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) nicht verletzt.

5 Gemäß § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören (§ 130a Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Die Anhörung muss dabei erkennen lassen, dass ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden werden soll und ob das Gericht die Berufung für begründet oder für unbegründet hält (BVerwG, Urteil vom 21. März 2000 - 9 C 39.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 49 = juris Rn. 12). Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass sich die Beteiligten zu dem beabsichtigten Verfahren äußern können (BVerwG, Urteil vom 21. August 1981 - 4 C 6.81 - Buchholz 312 EntlG Nr. 21 = juris Rn. 11). Die - vor der Schlussberatung nur vorläufigen - Gründe für die in Betracht gezogene Sachentscheidung müssen jedoch in der Anhörungsmitteilung nicht angegeben werden (BVerwG, Beschlüsse vom 13. Dezember 1983 - 9 B 1387.82 - Buchholz 312 EntlG Nr. 34 = juris Rn. 5, vom 25. September 2007 - 5 B 53.07 - juris Rn. 16, vom 4. Oktober 2010 - 9 B 17.10 - juris Rn. 6 und vom 28. Januar 2014 - 4 B 50.13 - juris Rn. 7). Diese (formellen) Vorgaben hat das Oberverwaltungsgericht beachtet. Es hat mit Schreiben vom 12. Juni 2014 die Beteiligten zur Absicht, die Berufung ohne mündliche Verhandlung als unbegründet abzuweisen, angehört und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt. Dass die Kläger einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung widersprochen haben, macht das Verfahren nach § 130a VwGO nicht fehlerhaft (BVerwG, Beschluss vom 11. Dezember 1997 - 2 B 117.97 - juris Rn. 1 m.w.N.).

6 Werden die Voraussetzungen des § 130a VwGO beachtet, kann das Berufungsgericht nach pflichtgemäßem Ermessen über die Berufung ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Bei seiner Ermessensentscheidung kann das Gericht unterschiedliche Gesichtspunkte erwägen. Dazu gehört auch die rechtliche oder tatsächliche Komplexität des Streitfalles (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 12. März 1999 - 4 B 112.98 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 35 S. 5 und vom 11. Dezember 2003 - 6 B 60.03 - Buchholz 442.066 § 43 TKG Nr. 3 = juris Rn. 20); das Berufungsgericht ist bei Ausübung seines Ermessens nach § 130a VwGO verpflichtet, Art. 6 Abs. 1 EMRK mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gefunden hat, vorrangig zu beachten (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 - 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <210 ff.>; Beschlüsse vom 25. September 2003 - 4 B 68.03 - Buchholz 140 Art. 6 EMRK Nr. 9, vom 4. August 2005 - 4 B 42.05 - Buchholz 140 Art. 6 EMRK Nr. 10 und vom 25. September 2007 - 5 B 53.07 - juris Rn. 16). Gemessen an diesen Grundsätzen ist auch die Ermessensentscheidung des Oberverwaltungsgerichts nicht zu beanstanden. Das Berufungsgericht hat dargelegt, aus welchen Gründen es nach § 130a VwGO entschieden hat (UA S. 13). Dass diese Entscheidung auf sachfremden Erwägungen oder auf groben Fehleinschätzungen beruht (vgl. zu diesem Maßstab etwa BVerwG, Beschluss vom 3. Februar 1999 - 4 B 4.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 33 S. 2 m.w.N.), ist weder dargetan noch sonst ersichtlich. Die Kläger rügen zwar, das Oberverwaltungsgericht habe ihre Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zugelassen; dass dann die Berufung im Beschlusswege ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen werde, stelle ein Novum dar, zumal unklar gewesen sei, welche Gesichtspunkte für das plötzliche Umschwenken des Senats maßgeblich gewesen seien. Damit ist ein Ermessensfehler aber nicht dargetan. Im ersten Anhörungsschreiben vom 12. Juni 2014 hat das Oberverwaltungsgericht die Beteiligten nicht nur zur beabsichtigten Entscheidung nach § 130a VwGO angehört, sondern auch ausgeführt, dass es die in der Berufungserwiderung der Beklagten vorgetragenen Argumente - nach vorläufiger Einschätzung - für überzeugend halte und deshalb beabsichtige, die Berufung zurückzuweisen (GA Bl. 236). Im Schreiben des Gerichts vom 22. Juli 2014, das die Bevollmächtigten der Kläger ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 28. Juli 2014 erhalten haben (GA Bl. 244, 245), hat das Oberverwaltungsgericht zusätzlich dargelegt, inwiefern im Rahmen der Zulassung der Berufung Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils bestanden hätten. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Vorwurf der Kläger als haltlos.

7 Ferner tragen die Kläger vor, jedenfalls nach der Antragsumstellung vom ursprünglichen Feststellungsantrag auf eine allgemeine Leistungsklage mit Hilfsantrag sei es unzulässig gewesen, ohne mündliche Verhandlung nach § 130a VwGO zu entscheiden. Wie die Begründung des Beschlusses zeige, habe das Berufungsgericht eine völlig neue rechtliche Betrachtung der streitgegenständlichen Vereinbarung der Beteiligten vorgenommen. Die Änderung der Klageanträge und der Umstand, dass Auslegungen solcher Art von der Vorinstanz nicht angestellt worden seien, führe dazu, dass das Oberverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung hätte durchführen müssen, in welcher es die beabsichtigte Auslegung hätte darlegen können, womit die Kläger Gelegenheit gehabt hätten, zu den einzelnen Auslegungskriterien und Ergebnissen konkret Stellung zu nehmen. Auch diese Ausführungen führen nicht auf einen Verfahrensfehler. Für die Frage, ob im Falle einer Antragsänderung im Berufungsverfahren eine mündliche Verhandlung erforderlich ist oder gleichwohl nach § 130a VwGO verfahren werden kann, kommt es - im Lichte des Art. 6 Abs. 1 EMRK - maßgeblich darauf an, ob hierdurch neue, im erstinstanzlichen Verfahren noch nicht relevante Rechtsfragen oder Tatsachen entscheidungserheblich werden (BVerwG, Beschluss vom 18. Dezember 2014 - 8 B 47.14 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 85 = juris Rn. 7). Ist das der Fall, dann müssen die Beteiligten die Gelegenheit erhalten, sich zu den neuen entscheidungserheblichen Fragen in einer mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht zu äußern (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. September 1998 - 8 B 102.98 - Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 40 = juris Rn. 7; Kopp/Schenke, VwGO, 21. Auflage 2015, § 130a Rn. 2 m.w.N.). Das gilt für neue Rechtsfragen ebenso wie für neue Tatsachenfragen, weil zu beidem rechtliches Gehör in prozessordnungsgemäßer Form zu gewähren ist. Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit muss ebenso wie bei der Prüfung sonstiger Verfahrensmängel von der materiellrechtlichen Rechtsauffassung des Berufungsgerichts ausgegangen werden (BVerwG, Beschluss vom 18. Dezember 2014 a.a.O.). Gemessen hieran konnte das Oberverwaltungsgericht von einer mündlichen Verhandlung absehen. Kernpunkt des vorliegenden Verfahrens war sowohl in der ersten (vgl. UA S. 3 und 4) als auch in der zweiten Instanz Wirksamkeit und Auslegung der Ziffer 6 des zwischen den Beteiligten am 13. Mai 2009 geschlossenen außergerichtlichen Vergleichs. Hieran änderte die Antragsumstellung mit Schriftsatz vom 1. Oktober 2014 nichts, denn die Kläger trugen damit allein dem Umstand Rechnung, dass die Bauarbeiten am Elbe-Havel-Kanal seit Mai 2014/September 2014 abgeschlossen waren und damit eine auf den Zeitraum vor Beginn der Ausbaumaßnahmen bezogene Feststellungsklage ersichtlich keinen Sinn mehr machte. Sowohl vor als auch nach der Antragsumstellung ging es jedoch stets um die Frage, ob die Kläger den von ihnen behaupteten Anspruch gegen die Beklagte aus Ziffer 6 des zwischen ihnen geschlossenen außergerichtlichen Vergleichs herleiten können. Damit haben sich trotz Antragsumstellung weder die Tatsachengrundlagen noch die Rechtsfragen geändert. Davon ist auch das Oberverwaltungsgericht ausgegangen (vgl. UA S. 14) und das räumen letztlich auch die Kläger ein, in dem sie in ihrem Schriftsatz vom 1. Oktober 2014 (GA Bl. 250) selbst ausführen, dass die "Sache im Wesentlichen ausgeschrieben" sei. Der Umstand, dass das Verwaltungsgericht Ziffer 6 des Vergleichs nicht selbst ausgelegt hat, sondern der klägerischen Auslegung gefolgt ist, weil es die Regelung für nichtig hielt, zwingt zu keiner anderen Beurteilung.

8 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.