Verfahrensinformation

Im vorliegenden und in drei weiteren, gleichzeitig terminierten Verfahren hat das Bundesverwaltungsgericht darüber zu entscheiden, ob Einbürgerungen wegen Täuschung im Einbürgerungsverfahren noch nach Ablauf von 8 bis über 11 Jahren zurückgenommen werden dürfen. Das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht Berlin haben in den Ausgangsverfahren die Rechtmäßigkeit der Rücknahmebescheide jeweils mit unterschiedlicher Begründung verneint und die Revision (das Verwaltungsgericht die Sprungrevision) zugelassen.


Der 1966 in Pakistan geborene Kläger des vorliegenden Verfahrens heiratete im Dezember 1984 in Pakistan eine Pakistanerin; aus dieser Ehe sind vier 1986, 1989, 1993 und 1998 geborene Kinder hervorgegangen. Im März 1989 heiratete er in Lahore/Pakistan außerdem eine deutsche Staatsangehörige und reiste im Juni 1989 im Wege des Familiennachzugs nach Deutschland ein. Aus dieser zweiten Ehe stammt eine 1990 geborene Tochter. Nach seiner Einreise in die Bundesrepublik erhielt der Kläger zunächst eine befristete, später eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft. Die Ehe des Klägers mit der deutschen Staatsangehörigen wurde im Juni 1995 geschieden.


Im Juli 1992 beantragte der Kläger seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband. In dem Antragsformular gab er an, seine erste Ehe im März 1989 geschlossen zu haben und verneinte die Frage nach etwaigen früheren Ehen und nach weiteren, auch aus früheren Ehen hervorgegangenen und nicht mit einzubürgernden Kindern. In einem beigefügten handschriftlichen Lebenslauf gab der Kläger lediglich die Eheschließung mit seiner deutschen Ehefrau an und ließ seine Ehe mit der pakistanischen Staatsangehörigen sowie die aus dieser hervorgegangenen Kinder unerwähnt. Im April 1993 wurde der Kläger als Ehemann einer Deutschen eingebürgert.


Im Rahmen eines Verfahrens zur Erteilung von Visa zur Familienzusammenführung in Deutschland stellte die deutsche Botschaft in Islamabad fest, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Eheschließung mit der deutschen Staatsangehörigen bereits eine rechtsgültige Ehe in Pakistan eingegangen war. Nach Anhörung des Klägers nahm das beklagte Land Berlin daraufhin im Juli 2004 die Einbürgerung des Klägers mit Wirkung für die Vergangenheit zurück.


Pressemitteilung Nr. 6/2008 vom 14.02.2008

Rücknahme erschlichener Einbürgerungen nach mehr als 8 Jahren nicht mehr "zeitnah"

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass die Rücknahme einer durch arglistige Täuschung erwirkten Einbürgerung erst nach achteinhalb Jahren oder später nicht mehr "zeitnah" und daher nach derzeitiger Gesetzeslage unzulässig ist.


In zwei der entschiedenen Fälle hatten Ausländer ihre Einbürgerung dadurch erschlichen, dass sie im Einbürgerungsverfahren eine Zweitehe im Ausland (Pakistan) verschwiegen. In zwei anderen Fällen hatten sich türkische Staatsangehörige als Staatenlose aus dem Libanon ausgegeben.


Das Bundesverwaltungsgericht hat die Revisionen des Landes gegen drei Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Berlin und ein Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin zurückgewiesen sowie die Aufhebung der Rücknahmebescheide in allen vier Verfahren bestätigt. Zur Begründung hat es auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2006 abgestellt. Danach besteht eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Rücknahme durch Täuschung erschlichener Einbürgerungen in Anwendung der allgemeinen Bestimmungen der Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder (§ 48 VwVfG) nur, wenn die Einbürgerung "zeitnah" zurückgenommen wird. Nur dann sei für die Betroffenen - bis zu einer speziellen Regelung im Staatsangehörigkeitsgesetz - die Rücknahme nach § 48 VwVfG als Folge ihres Verhaltens noch vorhersehbar.


Das Bundesverwaltungsgericht hat offen gelassen, bis zu welcher zeitlichen Grenze die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung als noch zeitnah nach geltender Rechtslage zulässig ist. Jedenfalls in den vorliegenden Fällen, in denen die Einbürgerungen erst nach achteinhalb bis über elf Jahren zurückgenommen worden sind, waren die Rücknahmen nicht mehr zeitnah.


Das Bundesverwaltungsgericht hat - wie schon das Bundesverfassungsgericht - darauf hingewiesen, dass der Bundesgesetzgeber eine ausreichend klare spezialgesetzliche Regelung bisher nicht geschaffen habe.


BVerwG 5 C 4.07 - Urteil vom 14.02.2008

BVerwG 5 C 5.07 - Urteil vom 14.02.2008

BVerwG 5 C 14.07 - Urteil vom 14.02.2008

BVerwG 5 C 15.07 - Urteil vom 14.02.2008


Urteil vom 14.02.2008 -
BVerwG 5 C 15.07ECLI:DE:BVerwG:2008:140208U5C15.07.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 14.02.2008 - 5 C 15.07 - [ECLI:DE:BVerwG:2008:140208U5C15.07.0]

Urteil

BVerwG 5 C 15.07

  • OVG Berlin-Brandenburg - 29.03.2007 - AZ: OVG 5 B 19.05

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 14. Februar 2008
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt, Dr. Franke, Dr. Brunn und Prof. Dr. Berlit
für Recht erkannt:

  1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 29. März 2007 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme seiner Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.

2 Der Kläger ist ein am 15. Dezember 1966 geborener ehemals pakistanischer Staatsangehöriger. Im Dezember 1984 schloss er in Pakistan die Ehe mit einer Pakistanerin. Aus dieser Ehe sind vier in den Jahren 1986, 1989, 1993 und 1998 geborene Kinder hervorgegangen. Anfang März 1989 heiratete er in Lahore/Pakistan eine deutsche Staatsangehörige und reiste im Juni 1989 im Wege des Familiennachzugs nach Deutschland ein. Aus dieser zweiten Ehe stammt eine am 3. Januar 1990 geborene Tochter. Nach seiner Einreise in die Bundesrepublik erteilte ihm die Ausländerbehörde zunächst eine befristete, nachfolgend eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft. Die Ehe des Klägers mit der deutschen Staatsangehörigen wurde am 7. Juni 1995 geschieden.

3 1992 beantragte der Kläger seine Einbürgerung. In dem Antragsformular gab er an, seine erste Ehe am 8. März 1989 geschlossen zu haben, und verneinte die Frage nach etwaigen früheren Ehen. Die in dem Antragsformular vorgesehene Rubrik „getrennt lebend seit...“ ließ der Kläger unausgefüllt; ebenso verneinte er die Frage nach weiteren, auch aus früheren Ehen hervorgegangenen und nicht mit einzubürgernden Kindern. In einem dem Antrag beigefügten handschriftlichen Lebenslauf gab der Kläger lediglich die Eheschließung mit seiner deutschen Ehefrau an und ließ seine Ehe mit der pakistanischen Staatsangehörigen sowie die aus dieser hervorgegangenen (damals zwei) Kinder unerwähnt. Als Begründung seines Einbürgerungsantrags gab er an, er wolle für immer bei seiner deutschen Frau und seinem Kind in Deutschland leben. Am 8. April 1993 wurde der Kläger eingebürgert.

4 Anlässlich eines Antrags auf Erteilung von Visa zur Familienzuführung für die pakistanische Ehefrau und die gemeinsamen Kinder stellte die deutsche Auslandsvertretung in Islamabad/Pakistan fest, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Eheschließung mit der deutschen Staatsangehörigen bereits in Pakistan eine rechtsgültige Ehe eingegangen war. Dieser Sachverhalt wurde der Ausländerbehörde mitgeteilt. Bei der Anhörung zu der beabsichtigten Rücknahme seiner Einbürgerung trug der Kläger vor, nach pakistanischem Recht sei eine Doppelehe zulässig; in Deutschland habe er lediglich mit seiner zweiten Ehefrau gelebt.

5 Mit Bescheid vom 8. Juli 2004 nahm das beklagte Land die Einbürgerung des Klägers in den deutschen Staatsverband nach § 48 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Berlin mit Wirkung für die Vergangenheit zurück und ordnete unter Androhung eines Zwangsgeldes die Rückgabe der Einbürgerungsurkunde an. Die Einbürgerung des Klägers sei von Anfang an rechtswidrig gewesen. Die Voraussetzungen für eine Einbürgerung auf der Grundlage von § 9 RuStAG hätten nicht vorgelegen, da der Kläger die Einbürgerungsbehörde arglistig über seine Zweitehe getäuscht habe. Im Laufe des Berufungsverfahrens änderte der Beklagte mit Verfügung vom 12. Februar 2007 den angefochtenen Bescheid dahingehend ab, dass die Rücknahme der Einbürgerung nunmehr mit Wirkung ex nunc verfügt wurde.

6 Mit Urteil vom 12. Juli 2005 hat das Verwaltungsgericht die hiergegen erhobene Klage mit der Erwägung abgewiesen, dass § 48 VwVfG nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Rücknahme einer rechtswidrigen Einbürgerung darstelle.

7 Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 29. März 2007 das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und den Bescheid des Beklagten vom 8. Juli 2004 in der Gestalt vom 12. Februar 2007 aufgehoben.

8 Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es folge der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 24. Mai 2006 - 2 BvR 669/04 -), nach der die zeitliche Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung auf der Grundlage des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts grundsätzlich zulässig sei und nicht das in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG statuierte Verbot der Entziehung der Staatsangehörigkeit verletze. Der Kläger habe auch seine Einbürgerung erschlichen, indem er über seine in Pakistan geschlossene Zweitehe arglistig getäuscht habe. Der Begriff „zeitnah“ beziehe sich auf den von der Einbürgerung bis zu ihrer Rücknahme verstrichenen Zeitraum. Im vorliegenden Fall könne dahingestellt bleiben, wo eine exakte zeitliche Grenze zwischen der zeitnahen und der nicht mehr zeitnahen Rücknahme der Einbürgerung verlaufe, da bei dem verstrichenen Zeitraum von elfeinviertel Jahren jedenfalls nicht mehr von einer zeitnahen Rücknahme gesprochen werden könne.

9 Mit seiner Revision macht der Beklagte geltend, auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei hier die Rücknahme der erschlichenen Einbürgerung auf der Grundlage von § 48 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Berlin auch elfeinviertel Jahre nach der Einbürgerung noch möglich. Denn dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts lasse sich nicht entnehmen, dass eine Rücknahme auf der Grundlage des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts lediglich innerhalb einer bestimmten Zeitspanne möglich sein solle; auch der Grundsatz der Vorhersehbarkeit der Entscheidung gebiete diese Annahme nicht.

10 Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.

II

11 Die Revision des Beklagten ist unbegründet.

12 Das Berufungsgericht hat den Rücknahmebescheid des Beklagten vom 8. Juli 2004 in der Gestalt vom 12. Februar 2007 zu Recht aufgehoben. Im Einklang mit Bundesrecht (vgl. § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) ist es davon ausgegangen, § 48 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Berlin stelle keine ausreichende Rechtsgrundlage für die Rücknahme der nach den Feststellungen des Berufungsgerichts erschlichenen Einbürgerung des Klägers dar, weil diese nicht zeitnah erfolgt ist.

13 Der Senat hat mit dem gleichzeitig ergehenden Urteil im Verfahren BVerwG 5 C 4.07 , auf das er Bezug nimmt, im Einzelnen ausgeführt, dass er der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 - 2 BvR 669/04 - BVerfGE 116, 24) folgt, nach der mit Rücksicht auf den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz der deutschen Staatsangehörigkeit § 48 VwVfG - hier i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Berlin - nur in bestimmten Fällen eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die Rücknahme von Einbürgerungen bietet. Danach steht die Anwendung der allgemein geltenden Rücknahmeermächtigung nur „für den Fall der zeitnahen Rücknahme einer Einbürgerung, über deren Voraussetzungen der Eingebürgerte selbst erwiesenermaßen getäuscht hat“ in Einklang mit dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes. Nur für diesen Fall enthält § 48 VwVfG ein für den Betroffenen berechenbares rechtsstaatliches Abwägungsprogramm und ist dessen Anwendung auch unter dem Aspekt der Gewaltenteilung unbedenklich (BVerfG a.a.O. S. 52).

14 An einer solchen zeitnahen Rücknahme fehlt es hier, wie auch das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat. Bei dem zwischen der Einbürgerung der Kläger am 8. April 1994 und deren Rücknahme am 8. Juli 2004 verstrichenen Zeitraum von mehr als elf Jahren kann nach der Überzeugung des Senats nicht mehr von einer zeitnahen Rücknahme gesprochen werden (vgl. auch insoweit die Ausführungen in dem gleichzeitig ergehenden Urteil im Verfahren BVerwG 5 C 4.07 ).

15 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.