Beschluss vom 21.07.2015 -
BVerwG 1 B 26.15ECLI:DE:BVerwG:2015:210715B1B26.15.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 21.07.2015 - 1 B 26.15 - [ECLI:DE:BVerwG:2015:210715B1B26.15.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 26.15

  • VG Stade - 28.02.2013 - AZ: VG 4 A 253/11
  • OVG Lüneburg - 09.03.2015 - AZ: OVG 11 LB 8/14

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Juli 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 9. März 2015 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

2 1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), die ihr die Beschwerde beimisst.

3 Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 10. März 2015 - 1 B 7.15 - juris und vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - AuAS 2014, 110).

4 a) Soweit die Beschwerde folgende Fragen als grundsätzlich klärungsbedürftig aufwirft:
"Ist eine Ausweisung eines Ausländers mit Art. 24 der GR-Charta vereinbar, wenn er dadurch gezwungen wird, die häusliche Gemeinschaft und den direkten Kontakt zu seinem minderjährigen Kind für einen nicht nur vorübergehenden Zeitraum aufzugeben?"
und
"Ist eine Ausweisung eines Ausländers, der aufgrund bestehender Assoziationsrechte nach dem ARB 1/80 nur aus Gründen der Spezialprävention ausgewiesen werden darf, mit Art. 24 GR-Charta vereinbar, wenn er dadurch gezwungen wird, die häusliche Gemeinschaft und den direkten Kontakt zu seinem minderjährigen Kind für einen nicht nur vorübergehenden Zeitraum aufzugeben?"
rechtfertigen diese nicht die Zulassung der Revision. Denn diese Fragen sind, soweit sie fallübergreifender Beantwortung zugänglich sind, nicht weiter klärungsbedürftig. Der Kläger hat zur Begründung seiner Grundsatzrüge sinngemäß im Wesentlichen vorgetragen, das Berufungsgericht habe das Wohl seines minderjährigen Kindes unzureichend berücksichtigt bzw. gewichtet, indem es dem Wohl des Kindes entsprechend Art. 24 Abs. 2 GR-Charta nicht absoluten Vorrang eingeräumt habe.

5 Es ist indes bereits höchstrichterlich geklärt, dass es bei der im Rahmen der Ermessensentscheidung zu prüfenden Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung einer einzelfallbezogenen Würdigung und Abwägung des für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers unter Beachtung der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien bedarf (BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009 - 1 C 26.08 - BVerwGE 135, 137 Rn. 28 m.w.N.). Zwar genießt das Familienleben auch nach der Grundrechte-Charta besonderen Schutz. In Art. 7 GR-Charta, der Rechte enthält, die den in Art. 8 Abs. 1 EMRK garantierten Rechten entsprechen, wird das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens anerkannt. Diese Vorschrift ist zudem in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 24 Abs. 2 GR-Charta und unter Beachtung des in deren Art. 24 Abs. 3 niedergelegten Erfordernisses zu lesen, dass das Kind regelmäßig persönliche Beziehungen zu beiden Eltern unterhält (EuGH, Urteile vom 27. Juni 2006 - C-540/03 [ECLI:​EU:​C:​2006:​429] - Rn. 58 und vom 6. Dezember 2012 - C-356/11 [ECLI:​EU:​C:​20:​12:776] u.a. - Rn. 76). Der Gerichtshof der Europäischen Union (Urteil vom 27. Juni 2006 - C-540/03 - Rn. 59) hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass ein angemessener Ausgleich zwischen den einander gegenüberstehenden Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft herbeizuführen ist (Rn. 54), aber sich hieraus ein das Ermessen auf Null reduzierender, grundsätzlicher Vorrang des Kindeswohls nicht ergibt (Rn. 59). Inhaltlich entspricht das Recht nach Art. 7 und 24 GR-Charta den in Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Rechten in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) (EuGH, Urteil vom 15. November 2011 - C-256/11 [ECLI:EU:2011:734], Dereci u.a. - Rn. 70; BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - Buchholz 402.242 § 5 AufenthG Nr. 14 Rn. 23). Art. 7 und 24 GR-Charta ist somit die gleiche Bedeutung und Tragweite beizumessen wie Art. 8 Abs. 1 EMRK. Das Berufungsgericht ist daher zu Recht davon ausgegangen, dass Art. 7 und 24 GR-Charta kein unbedingter Vorrang des Kindeswohls vor entgegenstehenden öffentlichen Interessen zu entnehmen ist. Die Beschwerde legt keinen weitergehenden oder neuerlichen Klärungsbedarf dar und macht der Sache nach allenfalls eine - vermeintlich - fehlerhafte Anwendung der benannten Grundsätze geltend.

6 b) Des Weiteren wirft der Kläger es als grundsätzlich klärungsbedürftig auf:
"ob nicht bereits ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in das geschützte Familienleben des Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 ERMK des Klägers vorliegt, da sich die im Anschluss an die strafrechtliche Sanktionierung seines kriminellen Verhaltens (nunmehr) auch beabsichtigte Aufenthaltsbeendigung - mit voraussichtlich längerem Einreiseverbot - als unzulässige 'Doppelbestrafung' darstellt."

7 Auch diese Frage ist bereits höchstrichterlich geklärt. Die EMRK garantiert einem Ausländer nicht generell das Recht, in einen bestimmten Drittstaat einzureisen, sich dort aufzuhalten oder - vorbehaltlich des in Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK verbürgten Schutzes vor Kollektivausweisungen - nicht ausgewiesen zu werden, sodass die Vertragsstaaten grundsätzlich das Recht haben, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Ausländern zu regeln (EGMR, Urteil vom 6. Februar 2001 - Nr. 44599/98 [ECLI:​CE:​ECHR:​2001:​0206JUD004459998], Bensaid -). Insbesondere verleiht Art. 8 EMRK Ausländern, die als Erwachsene bzw. in früher Kindheit in das Gastland eingereist oder sogar dort geboren sind, kein absolutes Recht, nicht aus dem Hoheitsgebiet ausgewiesen zu werden. Die Ausweisung eines Ausländers nach einer strafrechtlichen Verurteilung stellt auch keine Doppelbestrafung dar, weder im Sinne des Art. 4 des Zusatzprotokolls Nr. 7 zur EMRK noch im allgemeineren Sinne (EGMR, Urteile vom 28. Juni 2007 - Nr. 31753/02 [ECLI:​CE:​ECHR:​2007:​0628JUD003175302], Kaya - Rn. 52 und vom 18. Oktober 2006 - Nr. 46410/99 [ECLI:​CE:​ECHR:​2006:​1018JUD004641099], Ümer - Rn. 56). Die Vertragsstaaten haben vielmehr das Recht, gegenüber Personen, die wegen Straftaten verurteilt worden sind, Maßnahmen zum Schutz der Gesellschaft zu treffen, vorausgesetzt, diese Maßnahmen sind, sofern sie die nach Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechte beeinträchtigen, auf jeden Fall in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und in Bezug auf das verfolgte Ziel verhältnismäßig. Solche Verwaltungsmaßnahmen sind präventiver Natur und nicht als Bestrafung zu werten (EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006 - Nr. 46410/99 - Rn. 56). Auch insoweit rügt die Beschwerde im Gewand der Grundsatzrüge eine - vermeintlich - fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall.

8 2. Der von der Beschwerde gerügte Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), dass das Berufungsgericht hinsichtlich der von ihr genannten Fragen keine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs nach Art. 267 Abs. 3 AEUV eingeholt habe, liegt ebenfalls nicht vor. Das Berufungsgericht war nicht zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofs verpflichtet, weil seine Entscheidung mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision angefochten werden kann. Diese Beschwerde ist ein Rechtsmittel im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV jedenfalls insoweit, als es um die Auslegung und Anwendung revisiblen Rechts geht (BVerwG, Beschluss vom 22. Dezember 2004 - 10 B 21.04 - Buchholz 401.65 Hundesteuer Nr. 8 - Rn. 34). Das Oberverwaltungsgericht ist demnach auch dann nicht zur Vorlage an den EuGH verpflichtet, wenn es im konkreten Fall die Revision bzw. die Vorlage zum Bundesverwaltungsgericht nicht zulässt (vgl. Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV, AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rn. 26). Aus den Erwägungen zu den Grundsatzrügen folgt zudem, dass insoweit auch in der Sache die Vorlagevoraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht vorliegen.

9 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.