Beschluss vom 22.05.2019 -
BVerwG 8 B 5.19ECLI:DE:BVerwG:2019:220519B8B5.19.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 22.05.2019 - 8 B 5.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2019:220519B8B5.19.0]

Beschluss

BVerwG 8 B 5.19

  • VG Leipzig - 17.11.2017 - AZ: VG 1 K 1501/16

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. Mai 2019
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rublack und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig wird aufgehoben, soweit es die Klage auf Änderung der Ziffer 7 der dem Bescheid des Beklagten vom 18. März 2015 beigefügten Bescheinigung nach § 17 i.V.m. § 22 des Beruflichen Rehabilitierungsgesetzes (BerRehaG) für Zwecke der Rentenversicherung abgewiesen hat. Insoweit wird die Rechtssache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  2. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Der Kläger begehrt die Anerkennung einer längeren Verfolgungszeit als derjenigen, die mit Bescheid des Beklagten vom 18. März 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. August 2016 anerkannt wurde, sowie eine Änderung der Ziffer 7 der diesem Bescheid beigegebenen Rehabilitierungsbescheinigung nach § 17 i.V.m. § 22 BerRehaG für Zwecke der Rentenversicherung mit dem Ziel, den Zeitraum des rehabilitierten Grundwehrdienstes der bergbaulichen Versicherung zuordnen zu lassen. Das Verwaltungsgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.

2 Die dagegen eingelegte Beschwerde des Klägers, die sich bei sachgerechter Auslegung gemäß § 88 VwGO allein gegen die Abweisung des zweiten Klagebegehrens betreffend Ziffer 7 der Rehabilitierungsbescheinigung richtet, ist zulässig und begründet.

3 1. Nach § 88 VwGO ist das Gericht nicht an die Antragsformulierung gebunden, sondern hat von dem wirklichen Antragsziel auszugehen, das sich aus dem gestellten Antrag und dessen Begründung ergibt. Ausweislich der Beschwerdebegründung wendet sich der Kläger nicht mehr gegen die Abweisung seines Antrags auf Anerkennung einer längeren Verfolgungszeit. Seine Verfahrensrüge gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO richtet sich allein gegen die Abweisung seines weiteren, zweiten Klagebegehrens, das Ziffer 7 der Rehabilitationsbescheinigung betrifft. Damit beschränkt sich der Gegenstand des Beschwerdeverfahrens auf die begehrte Korrektur der Rehabilitationsbescheinigung. Hinsichtlich der Entscheidung über das erste, die Festsetzung der Verfolgungszeit betreffende Begehren ist das verwaltungsgerichtliche Urteil (teil-)rechtskräftig geworden.

4 2. Die Verfahrensrüge gegen die Abweisung des Antrags auf Korrektur der rentenversicherungsrechtlichen Bescheinigung ist gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zulässig und begründet. Das Urteil leidet an der gerügten Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör und kann darauf beruhen (§ 138 Nr. 3 VwGO).

5 a) Das Verwaltungsgericht hat die Zuordnung der dem Kläger zugesprochenen Verfolgungszeit zur bergbaulichen Versicherung sinngemäß mit der Begründung abgelehnt, weder der unmittelbar vor dem Beginn der Verfolgung geleistete Wehrdienst noch die unmittelbar vor dem Wehrdienst ausgeübte Tätigkeit seien der bergbaulichen Versicherung zuzuordnen gewesen. Denn unmittelbar vor dem Wehrdienst habe der Kläger eine Tätigkeit beim Kombinat VEB R. in L. versehen. Zutreffend macht der Kläger insoweit sinngemäß geltend, das Verwaltungsgericht habe eine nach Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen, weil es vor seiner Entscheidung nicht darauf hingewiesen habe, entgegen den Eintragungen im vorgelegten Sozialversicherungsausweis von einer unmittelbar vor dem Grundwehrdienst ausgeübten Beschäftigung des Klägers im genannten Kombinat auszugehen.

6 Das Recht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG wird durch § 108 Abs. 2 VwGO konkretisiert und gewährleistet, dass die Beteiligten sich zu allen entscheidungserheblichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen äußern können. Es verbietet, eine Gerichtsentscheidung ohne vorherigen Hinweis auf einen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt zu stützen, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem Prozessverlauf nicht rechnen musste (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188 <190>; Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1934/93 - BVerfGE 96, 189 <204> und Plenumsbeschluss vom 30. April 2003 - 1 PBvU 1/02 - BVerfGE 107, 395 <409>; BVerwG, Beschluss vom 19. Juli 2010 - 6 B 20.10 - Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 54 Rn. 4). Im vorliegenden Verfahren musste ein solcher Beteiligter nach dem Sach- und Streitstand im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht ohne ausdrücklichen Hinweis davon ausgehen, dass das Verwaltungsgericht annehmen könnte, der Kläger sei bereits vor dem Grundwehrdienst und unmittelbar vor dessen Beginn im Kombinat VEB R. in L. - statt im VEB G. in L. - beschäftigt gewesen. Für eine solche tatsächliche Feststellung bot der vom Kläger vorgelegte und vom Verwaltungsgericht als Beleg herangezogene Sozialversicherungsausweis (Bl. 29 ff. der Verwaltungsvorgänge) keinerlei Anhaltspunkte. In der drittletzten Zeile seiner Seiten 14 und 15 ist für den letzten vor der Einberufung zum Grundwehrdienst liegenden Beschäftigungszeitraum vom 15. September 1966 bis zum 17. Oktober 1966 eine "bergbauversichert[e]" Tätigkeit des Klägers im VEB G. in L. eingetragen. Die folgende, laut Stempel vom Kombinat VEB R. in L. ausgefüllte Zeile gibt als Zeitraum den 2. November 1966 bis zum 8. Januar 1970 an und vermerkt als Tätigkeit den Grundwehrdienst. Eine Beschäftigung im Kombinat ist erst in der darauf folgenden, letzten Zeile für die Zeit vom 19. Januar 1970 bis zum 14. August 1970 vermerkt. Unter diesen Umständen brauchte auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht damit zu rechnen, dass das Verwaltungsgericht in tatsächlicher Hinsicht annehmen könnte, der Kläger habe schon vor seiner Einberufung im Kombinat VEB R. in L. gearbeitet. Erst der entsprechende Hinweis hätte dem Kläger Anlass gegeben, dieser Würdigung durch detaillierte Erläuterungen der Dokumentation des Beschäftigungsverlaufs im Sozialversicherungsausweis vorzubeugen.

7 b) Die überraschende tatsächliche Annahme betraf auch einen für die Entscheidung erheblichen Gesichtspunkt. Nach der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung der Vorinstanz kam es gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 BerRehaG für die begehrte Zuordnung der in den Verfolgungszeitraum fallenden Grundwehrdienstzeit zur bergbaulichen Versicherung auf die Zuordnung der Wehrdienstzeit, und dafür auf die versicherungsrechtliche Einordnung des Tätigkeitsbereichs selbst oder der letzten unmittelbar vor dem Wehrdienst ausgeübten Tätigkeit an. Hätte das Verwaltungsgericht sich davon überzeugt, dass dies die "bergbauversicherte" Tätigkeit im VEB G. in L. war, hätte es die Grundwehrdienstzeit möglicherweise - ebenso wie schon der Rentenversicherungsträger - als bergbaulich versicherte - Beschäftigung eingeordnet und dem zweiten Klageantrag stattgegeben.

8 Die weiteren Erwägungen auf Seite 10 f. des verwaltungsgerichtlichen Urteils stehen dem nicht entgegen, weil sie keine die Abweisung des zweiten Klageantrags selbständig tragende Alternativbegründung enthalten. Die Annahme, nach § 14 Abs. 2 BerRehaG habe das Verwaltungsgericht die versicherungsrechtliche Zuordnung von Wehrdienstzeiten vor Verfolgungsbeginn nicht zu prüfen, weil der zuständige Rentenversicherungsträger diese Frage zu klären habe, genügt dazu nicht. Gegenstand des zweiten Klagebegehrens ist bei sachgerechter Auslegung gemäß § 88 VwGO nicht die nach der Auffassung der Vorinstanz vom Rentenversicherungsträger vorzunehmende Zuordnung von Verfolgungszeiten gemäß § 14 Abs. 2 BerRehaG, sondern die Ergänzung der für diese Zuordnung maßgeblichen, nach § 22 Abs. 1 Nr. 7 BerRehaG von der Rehabilitierungsbehörde zu treffenden Feststellungen in der Rehabilitierungsbescheinigung.

9 Die missverständliche, aus dem Vordruck der Rehabilitierungsbescheinigung zu Ziffer 7 übernommene Antragsformulierung steht dieser Auslegung nicht entgegen. Nach § 88 VwGO ist das Gericht nicht an den Wortlaut des Klageantrags gebunden, sondern hat das tatsächliche Klagebegehren nach dem erkennbaren Klageziel unter Berücksichtigung der Klagebegründung zu ermitteln. Danach erstrebt der Kläger unter ausdrücklicher Berufung auf § 22 Abs. 1 Nr. 7 BerRehaG eine Ergänzung der Ziffer 7 der Rehabilitierungsbescheinigung durch die Feststellung, dass der bei Verfolgungsbeginn geleistete Grundwehrdienst in den Bereich der bergbaulichen Versicherung im Sinne des § 14 Abs. 2 Nr. 1 BerRehaG fiel. Dazu beruft er sich unter anderem auf seine letzte Beschäftigung vor der Wehrdienstzeit. § 22 Abs. 1 Nr. 7 BerRehaG ermächtigt und verpflichtet die Rehabilitierungsbehörde, eine für die Zuordnung nach § 14 Abs. 2 BerRehaG maßgebliche, zu Beginn der Verfolgung ausgeübte Beschäftigung in einem der in § 14 Abs. 2 BerRehaG genannten Bereiche anzugeben. Dies schließt die Befugnis ein, die dazu erforderliche Subsumtion unter § 14 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 BerRehaG vorzunehmen. An die Feststellungen des Rehabilitierungsbescheides zur Beschäftigung bei Verfolgungsbeginn ist die für die Zuordnung nach § 14 Abs. 2 BerRehaG zuständige Behörde gemäß § 22 Abs. 3 BerRehaG gebunden. Gerade mit dieser Bindungswirkung für den Rentenversicherungsträger begründet der Kläger sein Begehren, die Rehabilitierungsbescheinigung zu ändern.

10 Das Urteil enthält schließlich keinen Rechtssatz dahingehend, dass ein zu Beginn der Verfolgung geleisteter Grundwehrdienst in der NVA auch dann keine Beschäftigung im Sinne des § 14 Abs. 2 Nr. 1 BerRehaG darstellen kann, wenn unmittelbar vor Wehrdienstbeginn eine Erwerbstätigkeit im Bereich der bergbaulichen Versicherung ausgeübt wurde.

11 Zur Verfahrensbeschleunigung macht der Senat gemäß § 133 Abs. 6 VwGO von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit im noch verfahrensgegenständlichen, aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

12 Im zurückverwiesenen Verfahren dürfte sich die Frage stellen, ob als Beschäftigung im Sinne des § 22 Abs. 1 Nr. 7 und § 14 Abs. 2 BerRehaG nur eine der Rentenversicherungspflicht unterliegende Erwerbstätigkeit anzusehen ist, oder ob nach dem Sinn und Zweck der Regelungen (vgl. BT-Drucks. 12/4994, S. 49 f.) auch der Grundwehrdienst in der NVA unter bestimmten Voraussetzungen als tatbestandsmäßige Beschäftigung in Betracht kommt. Dafür könnte erheblich sein, ob der bei Beginn der Verfolgung geleistete Wehrdienst rentenversicherungsrechtlich einem der Bereiche des § 14 Abs. 2 BerRehaG unterfiel, etwa wegen einer einschlägigen Vorbeschäftigung. Wäre der vom Kläger zu Beginn der Verfolgung geleistete Wehrdienst aus gegebenenfalls noch zu ermittelnden Gründen in den Bereich der bergbaulichen Versicherung gefallen, könnte die den Dienst unterbrechende Verfolgung zu rentenrechtlichen Nachteilen geführt haben, auf deren Ausgleich § 14 Abs. 2 BerRehaG abzielt.

13 Die einheitlich zu treffende Kostenentscheidung war der Schlussentscheidung vorzubehalten, weil sich erst aus dieser ergibt, ob die Verfahrenskosten - bei einem Erfolg (nur) des zweiten Antrags - nach § 155 Abs. 1 VwGO zu teilen sind oder ob sie - bei einem Misserfolg (auch) dieses Antrags - gemäß § 154 Abs. 2 VwGO insgesamt dem Kläger zur Last fallen.

14 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG.