Beschluss vom 23.05.2017 -
BVerwG 2 B 52.16ECLI:DE:BVerwG:2017:230517B2B52.16.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 23.05.2017 - 2 B 52.16 - [ECLI:DE:BVerwG:2017:230517B2B52.16.0]

Beschluss

BVerwG 2 B 52.16

  • VG Düsseldorf - 07.07.2014 - AZ: VG 35 K 7941/11.O
  • OVG Münster - 27.04.2016 - AZ: OVG 3d A 1890/14.O

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Mai 2017
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. von der Weiden und
Dr. Hartung
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. April 2016 wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Beklagte.

Gründe

1 1. Der im Jahr 1964 geborene Beklagte stand seit August 1981 zunächst im Polizeidienst des Bundes (vormals Bundesgrenzschutz) und steht seit Juni 1993 im Polizeivollzugsdienst des klagenden Landes, zuletzt im Rang eines Polizeikommissars.

2 Mit rechtskräftig gewordenem amtsgerichtlichen Urteil vom 9. Juli 2009 wurden der Beklagte und sein mitangeklagter Kollege V. wegen jeweils gemeinschaftlich mit dem anderweitig verfolgten Kollegen G. begangener Untreue in zwölf Fällen zu Gesamtfreiheitsstrafen von je 11 Monaten und 2 Wochen verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Grundlage der Verurteilung war, dass die beiden Angeklagten nach ihren geständigen Einlassungen von Verkehrsteilnehmern wegen Geschwindigkeitsübertretungen Verwarnungsgelder in Höhe von insgesamt 275 € in bar entgegengenommen, das Geld nicht an den Dienstherrn abgeführt, sondern für sich behalten und verwendet sowie Anlagen zu den gefertigten Messprotokollen inhaltlich unzutreffend mit Hinweisen auf Fehlmessungen oder mündlich erteilte Verwarnungen ausgefüllt hatten.

3 Auf die dieselben Tatvorwürfe betreffende Disziplinarklage hin hat das Verwaltungsgericht den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt: Der Beklagte habe ein schwerwiegendes einheitliches innerdienstliches Dienstvergehen begangen, indem er die von den Verkehrsteilnehmern in bar bezahlten Verwarnungsgelder für sich behalten habe, daran mitgewirkt habe, dass sein Kollege G. in bar bezahlte Verwarnungsgelder für sich behalten habe, und unzutreffende Angaben in den polizeilichen Aufzeichnungen dazu gemacht habe. Dabei ist das Oberverwaltungsgericht von den tatsächlichen Feststellungen des amtsgerichtlichen Strafurteils zum äußeren Tathergang, zur vorsätzlichen Begehungsweise und dem Fehlen von Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen ausgegangen. Insoweit bestehe kein Anlass, sich von den den Schuldspruch tragenden Feststellungen des Strafurteils zu lösen. Das gelte sowohl im Hinblick auf die pauschal und vage gebliebene Behauptung des Beklagten, dem Urteil habe eine Absprache zugrunde gelegen, als auch im Hinblick auf Stellungnahmen und Aussagen des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. I. und der Dipl.-Psychologin R. zur Frage einer vom Beklagten behaupteten psychischen Beeinträchtigung im Tatzeitraum; es fehlten hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen eines der gesetzlichen Eingangsmerkmale, die auf eine Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Beklagten hindeuteten.

4 2. Die Beschwerde kann keinen Erfolg haben. Sie zeigt keinen Grund auf, die Revision zuzulassen (§ 67 Satz 1 LDG NRW und § 132 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO).

5 a) Die von der Beschwerde für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gehaltene Frage,
"inwieweit die gesetzlich angeordnete Bindungswirkung der Tatsachenfeststellung eines rechtskräftigen Strafurteils (entfällt), wenn dem Urteil eine Absprache zugrunde liegt, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist",
rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Sie würde sich in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht stellen und ist daher nicht entscheidungserheblich. Die Frage geht an der Begründung und den Tatsachenfeststellungen des Berufungsurteils vorbei. Denn das Oberverwaltungsgericht ist, anders als die Fragestellung der Beschwerde dies voraussetzt, in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen, dass in dem vorangegangenen strafgerichtlichen Verfahren keine Absprache zwischen den Verfahrensbeteiligten stattgefunden hat. Das Oberverwaltungsgericht hat zum einen wegen der von ihm als pauschal und vage gewürdigten Angaben des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Disziplinarsenat, zum anderen wegen der aktenkundigen Erklärung des Vorsitzenden des Schöffengerichts gegenüber dem Ermittlungsführer im Disziplinarverfahren, dass es keine Verfahrensabsprachen gegeben habe, keine Anhaltspunkte für eine solche Absprache gesehen. Nur wenn unter offenkundiger Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften eine Absprache stattgefunden hätte, hätte das Disziplinargericht Anlass für eine Lösung von den Feststellungen des Strafurteils gehabt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. März 2013 - 2 B 78.12 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 20 Rn. 7). Durchgreifende Verfahrensrügen zu den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts in diesem Punkt erhebt die Beschwerde nicht. Der Beklagte hat auch im Berufungsverfahren nicht auf eine weitergehende Sachaufklärung hierzu gedrungen (durch einen Beweisantrag oder Beweisanregungen); das Revisionszulassungsverfahren dient nicht dazu, prozessuale Versäumnisse vor den Tatsachengerichten zu korrigieren. Daher hätte das Bundesverwaltungsgericht in dem angestrebten Revisionsverfahren von diesen Feststellungen auszugehen. Klärungsbedürftig i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO können nur solche Rechtsfragen sein, die das Berufungsgericht entschieden hat, nicht aber solche, die sich stellen würden, wenn es anders entschieden hätte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Juni 1992 - 3 B 102.91 - Buchholz 418.04 Heilpraktiker Nr. 17 S. 5 f.) oder wenn es von einem anderen Sachverhalt ausgegangen wäre.

6 Soweit die Beschwerdebegründung zum Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache auch auf den Aspekt der Lösung von den Feststellungen des Strafgerichts zur Schuldfähigkeit des Beklagten im Tatzeitraum eingeht, wird keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die Frage, ob das Berufungsgericht die Grundsätze der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - hier zu den Voraussetzungen der Lösung von den tatsächlichen Feststellungen eines Strafurteils (BVerwG, Beschluss vom 1. März 2013 - 2 B 78.12 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 20 Rn. 7 m.w.N.) - im konkreten Einzelfall richtig angewendet hat, begründet nicht die rechtsgrundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache.

7 b) Die von der Beschwerde behauptete Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) wird bereits nicht in der gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderlichen Weise dargelegt. Die Beschwerde bezeichnet zwar einen in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten abstrakten Rechtssatz, nämlich dass eine ordnungsgemäße Bemessung der angemessenen Disziplinarmaßnahme voraussetzt, dass sämtliche sich aus § 13 Abs. 2 LDG NRW (entspricht § 13 Abs. 1 BDG) ergebenden Bemessungskriterien mit dem ihnen im Einzelfall zukommenden Gewicht ermittelt und in die Entscheidung eingestellt werden müssen. Die Beschwerde versäumt es aber, dem einen ebenso abstrakten und entscheidungserheblichen Rechtssatz des Oberverwaltungsgerichts entgegenzusetzen, mit dem es im Berufungsurteil von dem genannten Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts abgewichen wäre (vgl. zu diesem Erfordernis etwa BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14 m.w.N., stRspr). Der Sache nach erschöpft sich die Beschwerde in der Kritik, dass die gebotenen umfassenden Bemessungserwägungen des Oberverwaltungsgerichts nicht zu einem für den Beklagten günstigeren Ergebnis, also einer milderen Disziplinarmaßnahme, geführt haben. Mit einer solchen Kritik wird keine Divergenz in Rechtssätzen aufgezeigt.

8 c) Eine Zulassung der Revision wegen des von der Beschwerde geltend gemachten Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) durch einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) scheidet ebenfalls aus.

9 Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Einhaltung der daraus entstehenden verfahrensmäßigen Verpflichtungen ist nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter eine aus seiner Sicht fehlerhafte Verwertung des vorliegenden Tatsachenmaterials rügt, aus dem er andere Schlüsse ziehen will als das angefochtene Urteil. Denn damit wird ein (vermeintlicher) Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung angesprochen. Solche Fehler sind revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen und können einen Verfahrensmangel i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO deshalb grundsätzlich nicht begründen (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 2. November 1995 - 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 18 f.). Eine Ausnahme gilt nur bei einer aktenwidrigen, gegen die Denkgesetze verstoßenden oder sonst von objektiver Willkür geprägten Sachverhaltswürdigung (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 ff.; Beschlüsse vom 2. November 1995 a.a.O., vom 3. April 1996 - 4 B 253.95 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 269 S. 28 und vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14 f.).

10 Dass die gerichtliche Sachverhaltswürdigung im Streitfall durch das Oberverwaltungsgericht an einem solchen Mangel leidet, wird mit der Beschwerde nicht schlüssig dargetan.

11 Die Beschwerde meint, das Oberverwaltungsgericht habe die Bekundungen der Frau R. und des Herrn Dr. I. "nicht ordnungsgemäß gewürdigt", insbesondere hätte es eine Schuldunfähigkeit des Beklagten nicht deshalb verneinen dürfen, weil es keine Anhaltspunkte dafür gesehen hat, dass beim Beklagten bereits im Tatzeitraum eines der Eingangsmerkmale i.S.v. § 20 StGB vorgelegen hat.

12 Damit ist ein Verfahrensfehler nicht dargetan. Entgegen der Annahme der Beschwerde leidet die von § 13 Abs. 2 LDG NRW für die Bemessung der angemessenen Disziplinarmaßnahme verlangte Würdigung aller be- und entlastenden Umstände nicht daran, dass das Oberverwaltungsgericht wesentliche Umstände der Ausführungen in den Stellungnahmen und Aussagen des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. I. und der Dipl.-Psychologin R. unberücksichtigt gelassen hätte. Vielmehr hat es sich mit deren Bekundungen ausführlich und eingehend (UA S. 18 unten bis S. 22 unten) auseinandergesetzt und diese gewürdigt. Es hat die von Herrn Dr. I. angeführten Aspekte, aus denen die Beschwerde auf das Vorliegen eines Eingangsmerkmals i.S.v. § 20 StGB schließen will, aufgeführt, diese aber als nicht hinreichend gewürdigt, u.a. weil Herr Dr. I. weder tatsächliche Anknüpfungspunkte benannt habe, die das Vorliegen eines solchen Eingangsmerkmals bereits im Tatzeitraum auch nur im Ansatz begründen könnten, noch ein Ereignis aufgezeigt habe, das die von ihm angeführte Anpassungsstörung ausgelöst haben könnte. Der Aussage von Frau R. hat das Oberverwaltungsgericht u.a. deshalb keine hinreichenden Anhaltspunkte für die vom Beklagten geltend gemachte Schuldunfähigkeit oder zumindest erheblich verminderte Schuldfähigkeit entnehmen können, weil sie ausdrücklich bestätigt hat, dass die Persönlichkeitsstruktur des Beklagten zwar Tendenzen einer Persönlichkeitsstörung aufweise, diese aber keinen Krankheitswert besitze; deshalb sei die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung ausgeblieben. Dass das Oberverwaltungsgericht in Würdigung der Aussagen beider genannten Auskunftspersonen sowohl für die Annahme eines Eingangsmerkmals i.S.v. § 20 StGB bereits im Tatzeitraum als auch für eine dahin gehende weitere Sachaufklärung keinen Anlass gesehen hat, weil beide Auskunftspersonen erst deutlich nach dem Tatzeitraum (Dr. I. mehr als 14 Monate, Frau R. rund fünf Jahre danach) erstmals persönlichen Kontakt mit dem Beklagten hatten, und keine konkreten Anknüpfungstatsachen für das Vorliegen eines Eingangsmerkmals i.S.v. § 20 StGB bereits im Tatzeitraum aufgezeigt hätten, liegt innerhalb des revisionsgerichtlich nicht zu beanstandenden Wertungsrahmens des Disziplinar-Tatsachengerichts (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 9. Februar 2016 - 2 B 84.14 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 41 Rn. 23 f.).

13 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes bedarf es nicht, weil die Höhe der Gerichtsgebühren streitwertunabhängig bestimmt werden (§ 75 Satz 1 LDG NRW i.V.m. Nr. 10 und 62 des Gerichtsgebührenverzeichnisses zu § 75 LDG NRW).