Verfahrensinformation

Das Verfahren betrifft die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Widerruf der Asylberechtigung eines afghanischen Staatsangehörigen wegen der Änderung der politischen Verhältnisse in seinem Herkunftsland zulässig ist. Der Kläger wendet sich gegen einen im Jahre 2000, also vor dem Sturz der Taliban in Afghanistan erlassenen Widerruf seiner Anerkennung als Asylberechtigter. Seine Klage hiergegen wurde im Berufungsverfahren von dem Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgericht abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht war der Auffassung, auch wenn in Afghanistan weder eine effektive Staatsgewalt noch eine durch internationale Maßnahmen anerkannte Friedensordnung existiere, sei der Widerruf nicht nach § 73 Abs. 1 Satz 3 Asylverfahrensgesetz ausgeschlossen. Es fehle nämlich an der Kausalität zwischen der seinerzeit zur Asylanerkennung führenden Verfolgung und den für eine Rückkehr bedeutsamen Umständen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision.


Pressemitteilung Nr. 55/2005 vom 01.11.2005

Widerruf einer Asylanerkennung

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, unter welchen Voraussetzungen nach einem Regimewechsel (hier: in Afghanistan) die Anerkennung als Asylberechtigter zu widerrufen ist.


Der Kläger, ein aus Kabul stammender afghanischer Staatsangehöriger, reiste 1989 nach Deutschland ein. 1991 erkannte ihn das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) als Asylberechtigten und als politischen Flüchtling an, weil er von dem früheren kommunistischen Regime in Afghanistan politisch verfolgt worden war. 1996 wurde der Kläger wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Im Juni 2000 widerrief das Bundesamt die Asylanerkennung des Klägers. Zur Begründung führte es aus, das Gesetz sehe einen derartigen Widerruf vor, wenn die Annerkennungsvoraussetzungen nicht mehr vorlägen (§ 73 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrensgesetz). Dies sei hier der Fall, weil in Afghanistan keine der Verfolgung fähige staatliche oder staatsähnliche Gewalt mehr vorhanden sei. Die hiergegen gerichtete Klage blieb in der ersten und zweiten Instanz erfolglos. Das Oberverwaltungsgericht Schleswig hat angenommen, dass die Zumutbarkeit der Rückkehr in das Herkunftsland grundsätzlich das Bestehen eines schutzfähigen Staates voraussetzt, der indessen in Afghanistan nicht existiere. Der Widerruf sei gleichwohl zu Recht erfolgt, weil es hier an der Kausalität zwischen der zur Asylanerkennung führenden Verfolgung und den für eine Rückkehr bedeutsamen Umständen fehle.


Auf die Revision des Klägers hat das Bundesverwaltungsgericht das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur weiteren Tatsachenfeststellung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Es hat entschieden, dass die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung insbesondere zu widerrufen ist, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. Dann kann die betroffene Person, wie von der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) vorgesehen, „nach Wegfall der Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen …, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt“ (Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK). Diese Klausel, die bei der Auslegung der Widerrufsbestimmungen zu berücksichtigen ist, bezieht sich nach dem heutigen Urteil ausschließlich auf den Schutz vor erneuter Verfolgung. Gegen den Widerruf kann der Ausländer dagegen nicht einwenden, dass ihm im Heimatstaat nunmehr sonstige, namentlich allgemeine Gefahren (z.B. auf Grund einer schlechten Versorgungslage) drohen. Ob ihm deswegen eine Rückkehr unzumutbar ist, ist beim Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nicht zu prüfen. Schutz kann insoweit nach den Bestimmungen des deutschen Ausländerrechts (Aufenthaltsgesetz) gewährt werden.


Das Oberverwaltungsgericht wird die auf zu schmaler Tatsachengrundlage erfolgte Prüfung einer Verfolgung des Klägers bei Rückkehr nach Afghanistan unter Beachtung der dargestellten Maßstäbe erneut vorzunehmen haben. Im Rahmen der Entscheidung über den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wird das Oberverwaltungsgericht zusätzlich prüfen müssen, ob dem Kläger eine Verfolgung von nichtstaatlicher Seite droht, wie sie nach dem seit dem 1. Januar 2005 geltenden neuen Aufenthaltsgesetz zu berücksichtigen ist (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Aufenthaltsgesetz).


Unabhängig hiervon wäre der angefochtene Widerrufsbescheid rechtmäßig, wenn der Kläger im Hinblick auf die von ihm begangenen Straftaten und eine von ihm ausgehende Wiederholungsgefahr aus schwerwiegenden Gründen eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet (vgl. § 60 Abs. 8 Aufenthaltsgesetz). Auch dann würden nämlich die Voraussetzungen der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nicht mehr vorliegen (vgl. künftig Art. 14 Abs. 4 der noch nicht umgesetzten EG-Richtlinie 2004/83). Sollte es hierauf ankommen, so wird das Oberverwaltungsgericht insoweit weitere Feststellungen zu treffen haben. Die Aussetzung des Strafrests zur Bewährung, auf die das Oberverwaltungsgericht verweist, rechtfertigt allein noch nicht die Verneinung einer Wiederholungsgefahr.


BVerwG 1 C 21.04 - Urteil vom 01.11.2005


Urteil vom 01.11.2005 -
BVerwG 1 C 21.04ECLI:DE:BVerwG:2005:011105U1C21.04.0

Leitsätze:

1. Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung insbesondere zu widerrufen, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. Diese Vorschrift entspricht ihrem Inhalt nach Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK.

2. § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG enthält eine einzelfallbezogene Ausnahme von der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft, die unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen von Satz 1 der Vorschrift gilt.

3. Ob dem Ausländer wegen allgemeiner Gefahren im Herkunftsstaat eine Rückkehr unzumutbar ist, ist beim Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht zu prüfen, sondern im Rahmen der allgemeinen ausländerrechtlichen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes zu berücksichtigen.

4. § 73 Abs. 2 a AsylVfG findet auf vor dem 1. Januar 2005 ergangene Widerrufsentscheidungen keine Anwendung.

  • Rechtsquellen
    GG Art. 16 a
    Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - Art. 1 A Nr. 2, Art. 1 C Nr. 5 und 6,
    Art. 33 Abs. 2
    Wiener Abkommen über das Recht der Verträge Art. 4, 31 Abs. 1
    VwVfG § 48 Abs. 4, § 49 Abs. 2 Satz 2
    AsylVfG § 73 Abs. 1 und 2 a
    AufenthG § 60 Abs. 1 und 8
    AuslG § 51 Abs. 1 und 3

  • OVG Schleswig - 16.06.2004 - AZ: OVG 2 LB 54/03 -
    Schleswig-Holsteinisches OVG - 16.06.2004 - AZ: OVG 2 LB 54/03

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21.04 - [ECLI:DE:BVerwG:2005:011105U1C21.04.0]

Urteil

BVerwG 1 C 21.04

  • OVG Schleswig - 16.06.2004 - AZ: OVG 2 LB 54/03 -
  • Schleswig-Holsteinisches OVG - 16.06.2004 - AZ: OVG 2 LB 54/03

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 1. November 2005
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und R i c h t e r ,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k sowie den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 16. Juni 2004 wird aufgehoben, soweit es sich auf das Anfechtungsbegehren gegen den Widerrufsbescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Juni 2000 bezieht.
  2. Insoweit wird die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

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