Beschluss vom 03.04.2003 -
BVerwG 9 B 55.02ECLI:DE:BVerwG:2003:030403B9B55.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 03.04.2003 - 9 B 55.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:030403B9B55.02.0]

Beschluss

BVerwG 9 B 55.02

  • OVG des Landes Sachsen-Anhalt - 10.05.2002 - AZ: OVG A 2 S 208/98

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. April 2003
durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts
H i e n und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. S t o r o s t und Dr. E i c h b e r g e r
beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 10. Mai 2002 wird dieses Urteil aufgehoben, soweit die Klage auf Zahlung weiterer 373 030,90 € nebst 8 % Zinsen seit dem 27. März 1995 abgewiesen und über die Kosten des Verfahrens entschieden wurde.
  2. Insoweit wird der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 373 030,90 € festgesetzt.

Die Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zulässig und begründet. Es liegt ein von der Klägerin geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des Berufungsgerichts, die erstinstanzliche Klageabweisung in diesem Umfang zu bestätigen, beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Dies führt insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht (§ 133 Abs. 6 VwGO).
Die Klägerin rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht es unter Verstoß gegen § 86 Abs. 3 VwGO unterlassen hat, sie auf die seiner Ansicht nach fehlende Schlüssigkeit ihres Vortrags zur entgangenen Provisionsvergütung von 660 000 DM (= 8 800 DM je vermitteltem Haus) und zum entgangenen Gewinn von 322 500 DM (= 4 300 DM je Bauparzelle) aus so genannten Regie- und Umlagekosten hinzuweisen. Bereits im erstinstanzlichen Verfahren hatte sie mit Schriftsatz vom 5. September 1995 unter Beweisantritt vorgetragen, dass auf jedes von ihr für die Beigeladene vermittelte Haus ein durchschnittlicher Provisionserlös von 8 800 DM entfalle und dass sie den an die Beigeladene vermittelten Käufern für jedes von ihr beschaffte Hausgrundstück 8 900 DM so genannte Regie- und Umlagekosten berechne, obwohl ihr für die damit abgegoltenen Dienstleistungen und Unterlagen pro Grundstück nur feste Kosten von 3 800 DM zuzüglich 800 DM Verwaltungsallgemeinkosten und Gehaltsaufwendungen entständen. Unter Bezugnahme auf dieses schriftsätzliche Vorbringen hat sie die sich daraus ergebenden Beträge in der Berufungsbegründungsschrift erneut geltend gemacht, nachdem ihr das Verwaltungsgericht den Schadensersatzanspruch schon dem Grunde nach abgesprochen hatte.
Nachdem das Berufungsgericht durch sein rechtskräftiges Grundurteil vom 24. Februar 2000 diese Rechtsauffassung korrigiert und dabei nicht ausgeschlossen hatte, dass die Höhe des Schadensersatzanspruchs der Klägerin im Einzelfall und bei einzelnen Positionen die Grenze des "Erfüllungsschadens" erreichen könne, hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 29. Dezember 2000 hinsichtlich des entstandenen Schadens nochmals auf ihre Berufungsbegründungsschrift und die bisherigen Beweisantritte Bezug genommen und dabei die bereits im erstinstanzlichen Verfahren als entgangener Gewinn spezifizierten Beträge zum dritten Mal ausdrücklich geltend gemacht. Zwar musste sie der gerichtlichen Verfügung vom 23. November 2001 und der mit einem entsprechenden Vergleichsvorschlag verbundenen Mitteilung des voraussichtlichen Entscheidungstenors vom 22. Februar 2002 entnehmen, dass das Gericht ihr den geltend gemachten Anspruch auf Ersatz entgangenen Gewinns im Ergebnis nicht zusprechen wollte. Ihre mit Schreiben vom 5. März 2002 geäußerte Bitte um Erläuterung der rechtlichen Grundlagen dieses Vergleichsvorschlags, insbesondere um Mitteilung, warum das Gericht den entgangenen Gewinn nicht für schadensersatzrelevant erachte, blieb jedoch unbeantwortet.
Unter diesen Umständen stellte es ein mit Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 und § 86 Abs. 3 VwGO unvereinbares "Überraschungsurteil" dar, dass das Gericht mit dem Teil seiner Urteilsbegründung, der die Bestätigung der Klageabweisung hinsichtlich der entgangenen Provisionsvergütung und des entgangenen Gewinns aus der Pauschale für "Regie- und Umlagekosten" trägt, ohne entsprechenden vorherigen Hinweis auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen Gesichtspunkt abstellte und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gab, mit dem die Klägerin nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 31. Mai 1983 - BVerwG 4 C 20.83 - und vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nrn. 135 und 235 m.w.N.). Angesichts der sich aus § 287 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 173 VwGO und entsprechend § 252 Satz 2 BGB ergebenden Grundsätze der Sachverhalts- und Beweiswürdigung im Schadensersatzrecht im Allgemeinen und für den entgangenen Gewinn im Besonderen musste auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht damit rechnen, dass das Gericht die umfangreichen Ausführungen der Klägerin zur durchschnittlichen Höhe ihrer entgangenen Provisionsansprüche und ihres Gewinns aus der Pauschale für "Regie- und Umlagekosten" mangels schlüssiger Darlegung dieser Positionen als unbeachtlich behandeln würde. Dies gilt umso mehr, als das Berufungsgericht ausweislich dieses Teils der Urteilsbegründung beide Positionen zwar grundsätzlich von dem dem Grunde nach zuerkannten Schadensersatzanspruch für umfasst hält, aber im Dunkeln lässt, welche über den Vortrag der Klägerin hinausgehenden, erfüllbaren Anforderungen es an eine schlüssige Darlegung des - wegen seiner hypothetischen Natur regelmäßig nicht exakt bezifferbaren - entgangenen Gewinns stellt.
Bei dieser Sachlage war das Berufungsgericht gehalten, die Klägerin vor der Entscheidung auf den von ihm als insoweit tragend angesehenen Gesichtspunkt hinzuweisen, damit sie sich dazu äußern und ggf. ihre tatsächlichen Angaben ergänzen konnte. Diesen Hinweis hat das Berufungsgericht trotz ausdrücklicher Bitte der Klägerin nicht gegeben, so dass das Urteil verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist.
Auf diesem Verfahrensfehler beruht auch das Urteil, soweit es über den Anspruch der Klägerin auf Ersatz entgangenen Gewinns entschieden hat. Da das Berufungsgericht nicht verlautbart hat, welche Anforderungen es an eine schlüssige Darlegung dieses Anspruchs stellt, ist nicht auszuschließen, dass die Klägerin nach Erteilung eines entsprechenden Hinweises Tatsachen vorgetragen hätte, die diesen Anforderungen genügen. Aus demselben Grund kann von ihr jedoch nicht - wie für die Zulässigkeit einer solchen Verfahrensrüge sonst regelmäßig erforderlich - verlangt werden, diesen Vortrag schon im Beschwerdeverfahren zu spezifizieren.
Führt bereits dieser Verfahrensmangel im vollen Umfang der von der Klägerin geltend gemachten Beschwer zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz, so bedarf es keiner Entscheidung, ob auch die Aufklärungsrüge der Klägerin zulässig und begründet sein könnte, obwohl das Berufungsgericht nach seiner für das Verfahren maßgebenden materiellrechtlichen Sicht den Anspruch auf entgangenen Gewinn als nicht schlüssig dargelegt angesehen hat und es, wenn ein Anspruch nicht schlüssig dargelegt ist, keiner Beweiserhebung über das Vorliegen seiner Tatbestandsvoraussetzungen bedarf.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 13 Abs. 2, § 14 GKG.