Beschluss vom 03.04.2007 -
BVerwG 1 B 100.06ECLI:DE:BVerwG:2007:030407B1B100.06.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 03.04.2007 - 1 B 100.06 - [ECLI:DE:BVerwG:2007:030407B1B100.06.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 100.06

  • Hessischer VGH - 26.04.2006 - AZ: VGH 6 UE 2813/04.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. April 2007
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann und Richter
beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde der Kläger wird das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 26. April 2006 aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  3. Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe

1 Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Kläger rügen zu Recht, dass das Berufungsgericht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat entscheidungserhebliches Vorbringen der Kläger nicht in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen.

2 Die Beschwerde sieht zu Recht einen Verfahrensverstoß in den Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht in dem angegriffenen Urteil (UA S. 14 ff.) den Klägern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Übergriffe in Gestalt von faktischer Sippenhaft in Bezug auf den Bruder des Klägers zu 1 verneint hat, der dem Vorbringen der Kläger zufolge in der Türkei wegen vermuteter separatistischer Aktivitäten gesucht wird (UA S. 3). Diesen Ausführungen des Berufungsgerichts zufolge wird in dem - von dem Bevollmächtigten der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht überreichten - Gutachten des Sachverständigen O. an amnesty international (Januar 2006) untersucht, inwieweit durch Folter oder Zwang erlangte Geständnisse in einem Strafprozess in der Praxis ungeachtet der in der Türkei durchgeführten Reformen weiterhin verwendet werden. Auch die angeführten Fallbeispiele befassten sich - so das Berufungsgericht weiter - mit diesem Problemkreis und ließen keine, auch keine mittelbaren Rückschlüsse auf die hier in Frage stehende Gefahr einer faktischen Sippenhaft zu. Lediglich bei einer Einzelfallentscheidung auf S. 120 des Gutachtens sei davon die Rede, dass eine Kurdin wegen des Verdachts verhaftet und im Polizeigewahrsam gefoltert worden sei, ihr Ehemann habe sich der PKK angeschlossen. Hierbei solle es sich um einen Vorgang aus dem Jahr 1996 handeln. Verallgemeinerungsfähige Schlussfolgerungen in Bezug auf eine aktuelle und systematische Praktizierung der faktischen Sippenhaft entgegen den im Berufungsurteil zuvor zitierten Erkenntnisquellen ließen sich daraus auch nicht ansatzweise entnehmen.

3 Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles ist davon auszugehen, dass das Berufungsgericht damit das in Rede stehende Gutachten nur unzureichend zur Kenntnis genommen und berücksichtigt hat. Wie die Beschwerde geltend macht, wird in dem Gutachten nämlich über zwei weitere Fälle sippenhaftähnlicher Praktiken in der Türkei aus den Jahren 2000 und 2004 berichtet (a.a.O. S. 32 ff., 171). Auch wird darauf hingewiesen, dass auch im Jahr 2000 noch Geständnisse mit der Drohung von sexuellen Übergriffen gegen Ehefrauen erpresst worden seien (S. 255, Fußnote 124). Da das Berufungsgericht ausführt, die in dem erwähnten Gutachten angeführten Fallbeispiele ließen keine, auch keine mittelbaren Rückschlüsse auf die Gefahr einer faktischen Sippenhaft zu, „lediglich“ auf S. 120 finde sich eine Einzelfallbeschreibung des erwähnten Inhalts (US S. 15 o.), kann nicht von einer hinreichenden Kenntnisnahme und Berücksichtigung des Gutachtens ausgegangen werden. Dafür spricht auch die Aussage im Berufungsurteil, in den letzten Jahren seien keine Fälle von Sippenhaft mehr bekannt geworden (UA S. 15).

4 Das angegriffene Urteil beruht auch auf der Gehörsverletzung. Dem steht nicht entgegen, dass in dem Berufungsurteil ausgeführt wird, K. habe in seinem Gutachten vom 10. Dezember 2005 überzeugend dargestellt, es sei bereits unwahrscheinlich, dass anlässlich der routinemäßigen Überprüfung bei der Einreise überhaupt festgestellt werden könne, ob es sich um einen Bruder oder um eine Schwester einer möglicherweise in der Türkei gesuchten Person handle (UA S. 14). Insoweit wird nämlich nicht deutlich, ob sich das Berufungsgericht diese Ausführungen zu eigen gemacht hat. Die Entscheidungserheblichkeit der Gehörsverletzung entfällt auch nicht deshalb, weil sich der - nach den Angaben der Kläger in Deutschland als politischer Flüchtling anerkannte (UA S. 3) - Bruder des Klägers zu 1 offenbar dort aufhält (UA S. 15). Sollte ein Interesse der türkischen Behörden an Informationen über den Bruder des Klägers zu 1 bestehen, so ist nämlich nicht ersichtlich, inwiefern es auf den Aufenthaltsort des Bruders beschränkt wäre (vgl. Beschwerdebegründung S. 3).

5 Der Senat verweist die Sache im Interesse der Verfahrensbeschleunigung nach § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung der Berufungsentscheidung an das Berufungsgericht zurück.