Verfahrensinformation

Die Kläger, ein aus Tschetschenien stammendes Ehepaar armenischer Volks- und christlicher Religionszugehörigkeit, der Bruder des Ehemannes und seine Eltern begehren ihre Anerkennung als Flüchtlinge. Der Ehemann und sein Bruder gaben an, von russischen Militärs als Terroristen beschuldigt und interniert worden zu sein. Die Ehefrau habe infolge von Misshandlungen eine Fehlgeburt erlitten. Die später ausgereisten Eltern seien von russischen Soldaten inhaftiert worden.


Nach Ablehnung ihrer Anträge durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) hatte ihr Begehren vor dem Verwaltungsgericht und dem Verwaltungsgerichtshof Erfolg. Dieser hat die Kläger sowohl wegen der Zugehörigkeit zur Gruppe der aus Tschetschenien stammenden Kaukasier als auch aus individuellen Gründen als vorverfolgt angesehen. Die - zusätzliche - Prüfung einer internen Schutzmöglichkeit im Zeitpunkt der Ausreise sei für Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG nicht mehr von Bedeutung. Die Kläger könnten weder nach Tschetschenien noch in die anderen Regionen der Russischen Föderation zurückkehren, weil keine stichhaltigen Gründe dagegen sprächen, dass sie nicht erneut von Verfolgung bedroht würden.


Mit ihren Revisionen rügen das Bundesamt und der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten die fehlende Prüfung einer inländischen Fluchtalternative im Zeitpunkt der Ausreise. Das Bundesamt beanstandet darüber hinaus, dass das Berufungsgericht den Prognosemaßstab und damit die Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie auch auf die Prüfung des internen Schutzes gemäß Art. 8 erstreckt habe.


Urteil vom 05.05.2009 -
BVerwG 10 C 22.08ECLI:DE:BVerwG:2009:050509U10C22.08.0

Urteil

BVerwG 10 C 22.08

  • Hessischer VGH - 09.04.2008 - AZ: VGH 3 UE 459/06.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 5. Mai 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Richter,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:

  1. Die Revisionen der Beklagten und des Bundesbeauftragten gegen den Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. April 2008 werden zurückgewiesen.
  2. Die Beklagte und der Bundesbeauftragte tragen die Kosten des Revisionsverfahrens je zur Hälfte.

Gründe

I

1 Der Kläger, ein aus Tschetschenien stammender russischer Staatsangehöriger, erstrebt seine Anerkennung als Flüchtling.

2 Der nach seinen eigenen Angaben am 1. September 1981 geborene Kläger ist armenischer Volkszugehöriger und Christ. Er reiste zusammen mit seinem Bruder und dessen Ehefrau, den Klägern im Verfahren BVerwG 10 C 21.08 , im August 2001 nach Deutschland ein und stellte einen Asylantrag.

3 Sein Asylbegehren begründete er wie folgt: Zusammen mit seinem Bruder und dessen Ehefrau seien sie in eine Kontrolle von russischen Militärs geraten, in Erdlöcher gesteckt und geschlagen worden. Im April 2001 hätten Angehörige der russischen Sicherheitskräfte ihn und seinen Bruder als Terroristen beschuldigt und in ein „Filtrationslager“ gebracht, in dem sie misshandelt worden seien. Er sei bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen worden und sei in einem Krankenhaus wieder aufgewacht, wo man ihn operiert habe. Durch Bestechung hätten er und sein Bruder fliehen können.

4 Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - lehnte mit Bescheid vom 24. Juni 2002 die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen, und drohte ihm die Abschiebung in die Russische Föderation an.

5 Auf die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht die Beklagte mit Urteil vom 2. Juni 2004 verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und flüchtlingsrechtlichen Abschiebungsschutz zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf eine in Tschetschenien herrschende Gruppenverfolgung der Tschetschenen gestützt; eine inländische Fluchtalternative in den übrigen Regionen der Russischen Föderation bestehe nicht.

6 Dagegen haben die Beklagte und der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten - Bundesbeauftragter - Berufung eingelegt. Im Berufungsverfahren hat der Kläger seine Klage zurückgenommen, soweit diese auf die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG gerichtet war.

7 Mit Beschluss vom 9. April 2008 hat der Verwaltungsgerichtshof das Verfahren eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen worden ist, und die Berufungen im Übrigen zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger als Flüchtling anzuerkennen sei. Sein Leben und seine Freiheit seien im Zeitpunkt der Ausreise allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der aus Tschetschenien stammenden Kaukasier unmittelbar bedroht gewesen. Zusätzlich sei der Kläger aber auch aus individuellen Gründen vorverfolgt. Die von ihm erlittenen Maßnahmen seien nicht als legitime Terrorismusbekämpfung gerechtfertigt. Unter Geltung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG komme es auf die zusätzliche Prüfung einer internen Schutzmöglichkeit zum Ausreisezeitpunkt nicht mehr an. Zur Überzeugung des Senats stehe fest, dass der Kläger jetzt weder nach Tschetschenien noch in andere Gebiete der Russischen Föderation zurückkehren könne, da keine stichhaltigen Gründe dagegen sprächen, dass er nicht erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wäre. Nachdem er nur durch Bestechung habe freikommen können, sei davon auszugehen, dass er von den russischen Sicherheitskräften als Terrorist gesucht und verhaftet werden könne. Bei einer Festsetzung durch den Inlandsgeheimdienst wegen des Terrorismusverdachts könnten erneute Übergriffe der Sicherheitsbehörden nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden.

8 Mit ihren vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revisionen machen das Bundesamt und der Bundesbeauftragte geltend, auch unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie komme es auf das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative zum Zeitpunkt der Ausreise an. Die Beklagte beanstandet ferner, das Berufungsgericht habe den Prognosemaßstab und damit die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG auch auf den internen Schutz erstreckt; damit würden beide Elemente der Flüchtlingsanerkennung in unzulässiger Weise vermengt. Der Bundesbeauftragte trägt vor, die Rückkehrprognose des Berufungsgerichts beruhe auf Unterstellungen; er rügt in diesem Zusammenhang sowohl die Verletzung materiellen Rechts als auch Verfahrensmängel.

9 Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich am Verfahren beteiligt. Er ist der Auffassung, dass das Prüfprogramm in der angefochtenen Entscheidung nicht zu beanstanden sei. Das Berufungsgericht habe jedoch die Regelungen in Art. 4 Abs. 4 und Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG nicht hinreichend klar voneinander abgegrenzt. Drohe dem Kläger landesweit individuelle staatliche Verfolgung, komme eine inländische Fluchtalternative nicht in Betracht.

II

10 Die Revisionen der Beklagten und des Bundesbeauftragten bleiben ohne Erfolg. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ohne Verstoß gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) bejaht. Seine Würdigung, bei dem aus individuellen Gründen als vorverfolgt anzusehenden Kläger sprächen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass er bei Rückkehr nach Tschetschenien nicht erneut von solcher Verfolgung bedroht werde und auch keine Möglichkeit internen Schutzes in anderen Regionen der Russischen Föderation bestehe, ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.

11 Wegen der Einzelheiten der Begründung der vorliegenden Entscheidung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf das Urteil des Senats vom gleichen Tag in der gemeinsam verhandelten Sache BVerwG 10 C 21.08 Bezug genommen; die dort den Bruder des Klägers betreffenden Ausführungen gelten für den Kläger entsprechend.

12 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.