Beschluss vom 05.09.2011 -
BVerwG 10 B 25.11ECLI:DE:BVerwG:2011:050911B10B25.11.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 05.09.2011 - 10 B 25.11 - [ECLI:DE:BVerwG:2011:050911B10B25.11.0]

Beschluss

BVerwG 10 B 25.11

  • Bayerischer VGH München - 02.03.2011 - AZ: VGH 11 B 09.30200

In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 5. September 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig sowie
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck
beschlossen:

  1. Den Klägern wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt …, …, beigeordnet.
  2. Auf die Beschwerde der Kläger wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 2. März 2011 aufgehoben.
  3. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  4. Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  5. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe

1 Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen vor (§ 166 VwGO, §§ 114 ff. ZPO).

2 Die Beschwerde hat mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Die Kläger rügen zu Recht, dass das Berufungsgericht ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat wesentliches Vorbringen der Kläger nicht in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen und erwogen.

3 Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen der Beteiligten, wie es Art. 103 Abs. 1 GG vorschreibt, zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Etwas anderes gilt aber, wenn besondere Umstände deutlich ergeben, dass das Gericht bestimmtes Vorbringen nicht berücksichtigt hat (stRspr, vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE  86, 133, 145 f.). Das ist hier der Fall.

4 Die Beschwerde beruft sich darauf, dass dem Kläger zu 1 bei Rückkehr in die Russische Föderation eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung drohe. In der Strafhaft erwarte ihn eine menschenrechtswidrige Behandlung, die ein Abschiebungsverbot begründe. Zum Nachweis habe er in der mündlichen Verhandlung vom 28. Februar 2011 dem Vorsitzenden des Senats ausweislich des Sitzungsprotokolls das „Original einer Ladung zur Beweisaufnahme“ nebst Übersetzung übergeben. Hierauf sei das Berufungsgericht weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen des Urteils eingegangen.

5 Damit rügt die Beschwerde zu Recht eine Verletzung der Pflicht zur Kenntnisnahme und Erwägung erheblichen Parteivorbringens. Das Berufungsgericht hätte die Gefahr eines Strafverfahrens gegen den Kläger zu 1 nicht verneinen dürfen, ohne sich mit der vorgelegten Ladung auseinanderzusetzen. Zwar befinden sich weder das Original noch die nach dem Sitzungsprotokoll gleichermaßen übergebene beglaubigte Übersetzung aus dem Russischen bei den Gerichtsakten. Eine Durchsicht der Akte des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ergab jedoch, dass dort nachträglich ein russisches Dokument mit beglaubigter Übersetzung eingeheftet wurde. Hierbei handelt es sich offenkundig um die in der mündlichen Verhandlung vom 28. Februar 2011 überreichten Dokumente. Sie finden sich in dem unpaginierten Bereich zwischen Deckblatt und Beginn der paginierten Bundesamtsakte. Danach soll der Kläger zu 1 auf der Grundlage eines Befehls der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation für den 13. April 2004 zur Vernehmung als verdächtige Person geladen worden sein. Nach Angaben der Beschwerde erfolgte die Ladung, weil sich der Kläger zu 1 durch seine Ausreise dem Wehrdienst entzogen habe. Die vom Berufungsgericht nicht zur Kenntnis genommenen Dokumente beziehen sich - wie die Beschwerde zutreffend darlegt - unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts auf entscheidungserhebliche Tatsachen. Das gilt zunächst für die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 ff. AufenthG. Denn das Berufungsgericht stützt seine Ablehnung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG darauf, dass keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die Kläger einem Strafverfahren unterzogen und in dessen Rahmen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren würden (UA Rn. 33). Träfe es zu, dass der Kläger zu 1 von den russischen Strafverfolgungsbehörden einer Straftat verdächtigt wird, hätte sich das Berufungsgericht bei den von ihm getroffenen Feststellungen zum Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 ff. AufenthG mit dieser Tatsache auseinandersetzen müssen. Daran ändert auch das Vorbringen der Beklagten im Schriftsatz vom 31. August 2011 nichts.

6 Die unterlassene Kenntnisnahme wirkt sich - wie der Beschwerde der Sache nach zu entnehmen ist - auch auf die Feststellungen des Berufungsgerichts zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus. Denn das Berufungsgericht hat offen gelassen, ob den Klägern Verfolgung in Tschetschenien droht und entscheidungserheblich darauf abgestellt, dass von ihnen unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG vernünftigerweise verlangt werden könne, sich in anderen Teilen der Russischen Föderation aufzuhalten (Rn. 24). Dort bestehe für sie weder eine begründete Furcht vor Verfolgung noch die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Bei der für das Berufungsgericht entscheidungserheblichen Frage, ob dem Kläger zu 1 in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens die Gefahr eines ernsthaften Schadens droht, hätte es sich mit den in der mündlichen Verhandlung überreichten Dokumenten auseinandersetzen müssen.

7 Die Gehörsverletzung erstreckt sich auch auf den Anspruch der Klägerin zu 2, da sie im Falle einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den Kläger zu 1 jedenfalls Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 4 AsylVfG beanspruchen könnte.

8 Auf die weiter erhobenen Rügen kommt es nicht mehr entscheidungserheblich an. Allerdings bemerkt der Senat, dass diese voraussichtlich ohne Erfolg geblieben wären. Hinsichtlich der Divergenzrüge weist der Senat darauf hin, dass das Berufungsgericht die von der Beschwerde als unterlassen gerügte Gesamtwürdigung der verfolgungsrelevanten Umstände sehr wohl vorgenommen und seiner Würdigung der Einzeltatbestände vorangestellt hat (UA Rn. 21).

9 Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.