Verfahrensinformation

Die Kläger sind irakische Staatsangehörige. Sie wurden wegen drohender Verfolgung durch das Regime Saddam Husseins zwischen 1997 und 2001 als Flüchtlinge anerkannt. Im Jahr 2005 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wegen der geänderten Verhältnisse im Irak die Flüchtlingsanerkennungen. Das Verwaltungsgericht gab den Klagen gegen die Widerrufsbescheide statt, während das Oberverwaltungsgericht Münster die Klagen abwies. In allen drei Verfahren wurde die Revision wegen der Frage zugelassen, ob für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eine Ermessensentscheidung erforderlich ist, wenn er nach dem 1. Januar 2005 ausgesprochen wird, sich aber auf eine Anerkennung vor diesem Zeitpunkt bezieht (Folgeentscheidung zu mehreren Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. März 2007- u.a. BVerwG 1 C 38.06).


Verfahrensinformation

2007


Die Kläger sind irakische Staatsangehörige. Sie wurden wegen drohender Verfolgung durch das Regime Saddam Husseins zwischen 1997 und 2001 als Flüchtlinge anerkannt. Im Jahr 2005 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wegen der geänderten Verhältnisse im Irak die Flüchtlingsanerkennungen. Das Verwaltungsgericht gab den Klagen gegen die Widerrufsbescheide statt, während das Oberverwaltungsgericht Münster die Klagen abwies. In allen drei Verfahren wurde die Revision wegen der Frage zugelassen, ob für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eine Ermessensentscheidung erforderlich ist, wenn er nach dem 1. Januar 2005 ausgesprochen wird, sich aber auf eine Anerkennung vor diesem Zeitpunkt bezieht (Folgeentscheidung zu mehreren Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. März 2007- u.a. BVerwG 1 C 38.06).


Pressemitteilung Nr. 4/2008 vom 07.02.2008

Europäischer Gerichtshof soll Widerruf der Anerkennung irakischer Flüchtlinge klären

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat mit Beschlüssen vom heutigen Tag in drei Verfahren, in denen es um den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung von Irakern geht, den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in Luxemburg angerufen. Die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen betreffen die Auslegung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates der Europäischen Union (Qualifikationsrichtlinie). Diese dient u.a. der Angleichung der rechtlichen Voraussetzungen von Entstehung und Verlust der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention innerhalb der Europäischen Union. In Deutschland wurde die Richtlinie mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union im August 2007 umgesetzt.


Die Kläger der Ausgangsverfahren sind zwischen 1999 und 2001 nach Deutschland eingereiste irakische Staatsangehörige. Sie wurden als Flüchtlinge anerkannt, weil sie seinerzeit mit Verfolgung durch das Regime Saddam Husseins rechnen mussten. Im Jahr 2005 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Anerkennungen wegen der veränderten politischen Verhältnisse im Irak widerrufen. Das Verwaltungsgericht hat die Entscheidung des Bundesamts in allen drei Fällen aufgehoben, das Oberverwaltungsgericht Münster hat die Widerrufsbescheide dagegen als rechtmäßig angesehen. Es hat dies damit begründet, dass die Flüchtlingsanerkennung zu widerrufen sei, weil die Verfolgungsgefahr im Irak nach der Entmachtung Saddam Husseins und der Zerschlagung seines Regimes endgültig weggefallen sei und den Klägern auch nicht aus anderen Gründen neue Verfolgung drohe.


Auf die Revision der Kläger hat das Bundesverwaltungsgericht dem EuGH die Frage vorgelegt, ob der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nach der Qualifikationsrichtlinie schon dann möglich ist, wenn die Umstände, aufgrund derer die Anerkennung erfolgte, weggefallen sind und der Flüchtling im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland auch nicht aus anderen Gründen Verfolgung befürchten muss, oder ob weitergehende Anforderungen zu stellen sind. Derartige Anforderungen könnten darin bestehen, dass eine prinzipiell schutzmächtige Herrschaftsgewalt im Heimatstaat vorhanden sein muss und, anders als nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dem Ausländer dort auch keine sonstigen Gefahren etwa im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage oder die allgemeinen Lebensbedingungen drohen. Darüber hinaus dient die Vorlage der Klärung, ob in derartigen Widerrufsfällen die Gefahr neuer andersartiger Verfolgung nach denselben Prognosemaßstäben wie bei Neuanträgen zu beurteilen ist. Die Vorlagefragen sind alsbeigefügt.


Bis zur Entscheidung des Gerichtshofs hat das Bundesverwaltungsgericht die Revisionsverfahren ausgesetzt.


BVerwG 10 C 23.07

BVerwG 10 C 31.07

BVerwG 10 C 33.07


Beschluss vom 07.02.2008 -
BVerwG 10 C 31.07ECLI:DE:BVerwG:2008:070208B10C31.07.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 31.07 - [ECLI:DE:BVerwG:2008:070208B10C31.07.0]

Beschluss

BVerwG 10 C 31.07

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 01.08.2006 - AZ: OVG 9 A 234/06.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. Februar 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter sowie
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Beck und Fricke
beschlossen:

  1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
  2. Es wird gemäß Art. 234 Abs. 1 und 3, 68 Abs. 1 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zu folgenden Fragen eingeholt:
  3. 1. Ist Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e) der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 dahin auszulegen, dass - abgesehen von Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention) - die Flüchtlingseigenschaft bereits dann erlischt, wenn die begründete Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchstabe c) der Richtlinie, aufgrund derer die Anerkennung erfolgte, entfallen ist und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchstabe c) der Richtlinie haben muss?
  4. 2. Für den Fall, dass Frage 1 zu verneinen ist: Setzt das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e) der Richtlinie darüber hinaus voraus, dass in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Flüchtling besitzt,
  5. a) ein Schutz bietender Akteur im Sinne des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie vorhanden ist und reicht es hierbei aus, dass die Schutzgewährung nur mit Hilfe multinationaler Truppen möglich ist,
  6. b) dem Flüchtling kein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie droht, der zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Art. 18 der Richtlinie führt, und/oder
  7. c) die Sicherheitslage stabil ist und die allgemeinen Lebensbedingungen das Existenzminimum gewährleisten?
  8. 3. Sind in einer Situation, in der die bisherigen Umstände, aufgrund derer der Betreffende als Flüchtling anerkannt worden ist, entfallen sind, neue andersartige verfolgungsbegründende Umstände
  9. a) an dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu messen, der für die Anerkennung von Flüchtlingen gilt, oder findet zugunsten des Betreffenden ein anderer Maßstab Anwendung,
  10. b) unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zu beurteilen?

Gründe

I

1 Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung.

2 Der 1970 in Suleimaniya (Nordirak) geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und moslemischen Glaubens. Er reiste im Januar 1997 nach Deutschland ein und beantragte Asyl. Zur Begründung gab er an, er fürchte im Falle seiner Rückkehr politische Verfolgung, weil er als Anhänger der PKK in Zeitungsartikeln die irakische Regierung angegriffen habe. Mit Bescheid vom 30. April 1997 anerkannte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - den Kläger als Asylberechtigten nach Art. 16a des Grundgesetzes - GG - und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen. Der Bescheid wurde bezüglich der Flüchtlingsanerkennung bestandskräftig. Gegen die Asylanerkennung hat der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten Klage erhoben. Nach Rücknahme des Antrages wurde das Verfahren insoweit eingestellt. Im Oktober 2005 leitete das Bundesamt wegen der veränderten politischen Verhältnisse im Irak ein Widerrufsverfahren ein und widerrief nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 7. November 2005 die Flüchtlingsanerkennung. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen.

3 Im Klageverfahren hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 5. Dezember 2005 den Widerrufsbescheid des Bundesamtes aufgehoben. Angesichts der hochgradig instabilen Lage im Irak könne von einer dauerhaften und stabilen, einen Widerruf rechtfertigenden Änderung der politischen Verhältnisse nicht ausgegangen werden.

4 Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 10. August 2006 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Widerruf sei rechtmäßig. Es könne auf sich beruhen, ob der Kläger den Irak unter dem Druck erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung durch das Baath-Regime Saddam Husseins verlassen habe. Denn er sei vor einer solchen Verfolgung jetzt hinreichend sicher. Das Regime Saddam Husseins habe seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die im März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren. Eine Rückkehr des Regimes sei nach den aktuellen Machtverhältnissen ebenso ausgeschlossen wie die Herausbildung einer Struktur, die vom früheren Regime als Gegner angesehene Personen erneut (wiederholend) verfolge. Dem Kläger drohe auch nicht aus anderen Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut eine - wie auch immer geartete - Verfolgung. Greifbare Anhaltspunkte für asylerhebliche Übergriffe von Seiten der neu gebildeten irakischen Regierung oder dem irakischen Staat sonst zurechenbarer Kräfte einschließlich der multinationalen Streitkräfte und der kurdischen Parteien im Nordirak ließen sich den aktuellen Erkenntnissen nicht entnehmen. Dabei könne auf sich beruhen, ob mit der neuen Regierung ein zu politischer Verfolgung fähiges Machtgebilde in dem Sinne entstanden sei, dass es eine gewisse Stabilität aufweise und die Fähigkeit zur Schaffung und Aufrechterhaltung einer übergreifenden Friedensordnung besitze. Auch für eine nichtstaatliche Verfolgung gebe das Vorbringen des Klägers nichts Tragfähiges her. Soweit es nach wie vor insbesondere zu terroristischen Anschlägen und fortgesetzten offenen Kampfhandlungen zwischen militanter Opposition sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften komme, sei nicht erkennbar, dass dieses Geschehen bezogen auf den Kläger an asylerhebliche Merkmale anknüpfe. Die Widerrufsentscheidung begegne auch nicht mit Blick auf die Richtlinie 2004/83/EG rechtlichen Bedenken, da diese vor Ablauf der Umsetzungsfrist keine unmittelbare Wirkung entfalte und § 60 Abs. 1 AufenthG in seinem Kerngehalt nicht ändere. Der Kläger könne auch nicht die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG beanspruchen.

5 Mit der vom Senat beschränkt auf den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Er macht u.a. geltend, der Widerruf verstoße gegen die zwischenzeitlich umgesetzte Richtlinie 2004/83/EG und gegen Art. 1 C Genfer Flüchtlingskonvention - GF -. Deren Schutzbereich erschöpfe sich nach einhelliger Staatenpraxis nicht im Schutz vor politischer Verfolgung. Ein Entzug des Flüchtlingsstatus setze voraus, dass im Herkunftsland auch die Mindestbedingungen einer staatlichen Friedensordnung und einer menschenwürdigen Existenz vorgefunden werden könnten. Erforderlich sei eine wertende Gesamtschau unter Einbeziehung der allgemeinen Verhältnisse. Hierzu fehlten ausreichende Tatsachenfeststellungen. Auch der vom Berufungsgericht angewandte Wahrscheinlichkeitsmaßstab sei völker- und europarechtswidrig.

6 Der Kläger beantragt,
den Beschluss des Oberverwaltungsgerichtes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. August 2006 zu ändern, soweit er den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung betrifft, und die Berufung der Beklagten insoweit zurückzuweisen.

7 Die Beklagte ist der Revision entgegengetreten. Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren nicht beteiligt.

II

8 Der Rechtsstreit ist auszusetzen und es ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Auslegung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304 vom 30. September 2004, S. 12; berichtigt ABl. L 204 vom 5. August 2005, S. 24) einzuholen (Art. 234 Abs. 1 und 3, 68 Abs. 1 EG). Da es um die Auslegung von Gemeinschaftsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig. Die vorgelegten Fragen zur Auslegung der Richtlinie sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof. Insoweit wird zur weiteren Begründung auf den Vorlagebeschluss vom heutigen Tag im Verfahren 10 C 33.07 verwiesen.