Beschluss vom 08.04.2004 -
BVerwG 1 B 201.03ECLI:DE:BVerwG:2004:080404B1B201.03.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 08.04.2004 - 1 B 201.03 - [ECLI:DE:BVerwG:2004:080404B1B201.03.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 201.03

  • VGH Baden-Württemberg - 30.04.2003 - AZ: VGH 11 S 58/03

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. April 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht R i c h t e r und Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 30. April 2003 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 4 000 € festgesetzt.

Die Beschwerde, die sich auf die Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und des Verfahrensmangels der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) stützt, hat keinen Erfolg.
1. Die Beschwerde hält zunächst die Frage für rechtsgrundsätzlich bedeutsam,
"ob ein Anklagevorwurf allein dazu ausreichend sein kann, eine Ausweisungsverfügung gegen einen privilegierten EG-Ausländer zu begründen und aus einem solchen Anklagevorwurf auf charakterliche Eignungen des Ausländers zu schließen, wenn das deswegen gegen den Ausländer eröffnete Strafverfahren gemäß § 154 StPO eingestellt wird, wobei zu berücksichtigen ist, dass für diese Verfahrenseinstellung eine Zustimmung des Angeklagten nicht erforderlich ist und ein Widerspruch des Angeklagten unbeachtlich wäre" (Beschwerdebegründung S. 2).
Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Eine Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage führen kann. Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht. Die gestellte Frage lässt sich nicht verallgemeinerungsfähig beantworten und ist damit einer rechtsgrundsätzlichen Klärung im Revisionsverfahren nicht zugänglich. Sie hängt unter anderem davon ab, auf welchen konkreten Vorwurf die Ausweisungsverfügung gestützt ist, aus welchen Tatsachen dieser Vorwurf abgeleitet wird und welche Schlussfolgerungen sich daraus für die Gefährlichkeit des privilegierten EG-Ausländers im Hinblick auf Schutzgüter der Gesellschaft ableiten lassen. Damit entzieht sich die aufgeworfene Frage einer abstrakten, generalisierenden Bewertung durch das Revisionsgericht. Im Übrigen zeigt die Beschwerde nicht auf, dass sich die aufgeworfene Frage im Falle der Durchführung des Revisionsverfahrens stellen würde. Sie legt selbst dar, dass die aufgeworfene Frage auf die Berücksichtigung des "Anklagevorwurfes wegen des Vorfalles vom 17.01.2001" abzielt (Vorwurf der Nötigung durch Zufahren auf ein Kind), und sich das Gericht - anders als nach dem Inhalt der von der Beschwerde formulierten Frage - nicht allein auf diesen Sachverhalt, sondern nur "wesentlich" auf ihn stütze. Im Übrigen hat sich das Berufungsgericht nicht auf die Tatsache der Anklageerhebung allein, sondern auf die von ihm hierzu sowie zu mehreren anderen Vorfällen festgestellten Tatsachen insgesamt gestützt, und daraus ein erhebliches vom Kläger ausgehendes Gefährdungspotential für die Rechtsgüter seiner Mitmenschen abgeleitet (UA S. 23 f.). Der Beschwerde ist ein rechtsgrundsätzlicher Klärungsbedarf hierzu nicht zu entnehmen.
2. Die Beschwerde sieht eine Abweichung des angefochtenen Urteils von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darin, dass es seiner Entscheidung Feststellungen der Strafgerichte zum Motiv des Klägers für die abgeurteilten sexuellen Nötigungen zugrunde gelegt habe. Dies stehe "insoweit im Gegensatz zu dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.02.1998 - 1 B 21.98 - als die tatsächlichen Feststellungen des strafgerichtlichen Urteils dann der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden können, wenn sie plausibel erscheinen und nicht substantiiert in Frage gestellt werden" (Beschwerdebegründung S. 3).
Eine die Zulassung der Revision rechtfertigende Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt nur dann vor, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts oder des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Die Behauptung einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das Bundesverfassungsgericht oder das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt den Anforderungen einer Divergenzrüge nicht (vgl. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 = NJW 1997, 3328). Die Beschwerde bezeichnet hier keinen Rechtssatz, mit dem das Berufungsgericht einem Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts in dem von ihr zitierten Beschluss vom 24. Februar 1998 (abgedruckt in InfAuslR 1998, 221) widersprochen hätte. Es fehlt schon an der zutreffenden Bezeichnung eines Rechtssatzes aus der genannten Senatsentscheidung. Ein Rechtssatz des von der Beschwerde sinngemäß wiedergegebenen Inhalts, tatsächliche Feststellungen eines strafgerichtlichen Urteils dürften der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden, sofern sie plausibel erscheinen und nicht substantiiert in Frage gestellt werden, findet sich in dem zitierten Senatsbeschluss nicht. Vielmehr wird in der Entscheidung ausgeführt, dass die Ausländerbehörde - namentlich bei ihrer Beurteilung, ob schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 48 Abs. 1 AuslG vorliegen und ob eine Ausnahme von der Regelausweisung gegeben ist - "an die tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts zwar rechtlich nicht gebunden ist, diese Feststellungen ihrer Entscheidung aber in der Regel zugrunde legen darf; allenfalls in Sonderfällen kann anderes gelten, wenn die Ausländerbehörde ausnahmsweise in der Lage ist, den Vorfall besser als die Strafverfolgungsorgane aufzuklären, oder für die Ausländerbehörde ohne weiteres erkennbar ist, dass die Verurteilung auf einem Irrtum beruht" (InfAuslR 1998, 221 <222>). Auch ansonsten bezeichnet die Beschwerde keinen Rechtssatz, mit dem das angefochtene Urteil von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abgewichen wäre, sondern rügt lediglich die Rechtsanwendung im vorliegenden Einzelfall. Damit kann sie die Zulassung der Revision nicht erreichen.
3. Ohne Erfolg rügt die Beschwerde auch eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).
a) Entgegen der Auffassung der Beschwerde ist eine Gehörsverletzung nicht darin zu sehen, dass das Berufungsgericht den Kläger nicht darauf hingewiesen habe, die dem strafrechtlichen Vorwurf der Nötigung des Kindes K. vom 17. Januar 2001 zugrunde liegenden Tatsachen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren trotz Einstellung des strafgerichtlichen Verfahrens nach § 154 StPO berücksichtigen zu wollen (vgl. Beschwerdebegründung S. 5). Die Beschwerde verkennt, dass aus Art. 103 Abs. 1 GG keine generelle Pflicht des Gerichts abzuleiten ist, den Beteiligten vorab mitzuteilen, in welcher Weise es in das Verfahren eingeführte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen und zu würdigen beabsichtigt (stRspr, vgl. Beschluss vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 - Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 46 und Beschluss vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52). Besondere Umstände, die ausnahmsweise ein anderes Vorgehen hätten gebieten können, trägt die Beschwerde nicht vor. Insbesondere zeigt sie nicht auf, dass das Gericht mit der Berücksichtigung des Vorfalls vom 17. Januar 2001 dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hätte, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht hätten rechnen müssen (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188 <190>; Beschluss vom 25. April 2001 - BVerwG 4 B 31.01 - <juris> und vom 11. Mai 1999 - BVerwG 9 B 1076.98 - <juris> m.w.N.). Sie setzt sich außerdem nicht damit auseinander, dass sich der Beklagte auf den Vorfall in der Berufungsbegründung im Rahmen der Erörterung zur Wiederholungsgefahr und der Persönlichkeitsstruktur des Klägers bezogen und die Einstellung nach § 154 StPO insoweit ausdrücklich als nicht entgegenstehend angesehen hat (UA S. 8). Der Kläger musste von daher mit der Möglichkeit der Berücksichtigung des Vorfalls vom 17. Januar 2001 durch das Berufungsgericht rechnen. Die Gelegenheit zur Stellungnahme hat er in seiner Berufungserwiderung, in der er selbst auf diesen Gesichtspunkt eingegangen ist (UA S. 9), wahrgenommen.
b) Ohne Erfolg beruft sich die Beschwerde schließlich darauf, das Berufungsgericht habe das Vorbringen des Klägers nicht zur Kenntnis genommen und unberücksichtigt gelassen, dass ihn die verbüßte Freiheitsstrafe nachhaltig beeindruckt habe und ihn davon abhalten werde, erneut straffällig zu werden (Beschwerdebegründung S. 6). Eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) wird damit nicht dargetan. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts ist grundsätzlich - und so auch hier - davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben; die Gerichte brauchen sich dabei nicht mit jedem Vorbringen in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich auseinander zu setzen. Aus einem Schweigen der Urteilsgründe zu Einzelheiten des Prozessstoffs allein kann noch nicht der Schluss gezogen werden, das Gericht habe diese nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs kann daher nur dann festgestellt werden, wenn es sich aus den besonderen Umständen des Falles deutlich ergibt, dass das Gericht tatsächliches Vorbringen der Beteiligten nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. etwa Beschluss vom 5. Februar 1999 - BVerwG 9 B 797.98 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 4 unter Hinweis auf BVerfGE 96, 205 <216 f.>). Solche besonderen Umstände zeigt die Beschwerde nicht auf. Vielmehr weist sie selbst darauf hin, dass das Berufungsurteil jedenfalls auf die ungekündigte Beschäftigung eingegangen ist, der der Kläger seinerzeit im Rahmen einer Freigängerregelung nachging und von der das Gericht erwartet hat, dass er ihr auch nach seiner Haftentlassung weiter nachgehen werde (UA S. 26 f.). Daraus wird erkennbar, dass die angefochtene Entscheidung die Tatsache der Strafverbüßung und damit zusammenhängende Umstände durchaus berücksichtigt hat. Es sind keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das Berufungsgericht den Vortrag des Klägers zu seiner nachhaltigen Prägung durch den Strafvollzug nicht zur Kenntnis genommen und hinreichend erwogen hat. Dass es diesem Umstand keine entscheidende Bedeutung beigemessen und ihn auch nicht gesondert erwähnt hat, ist angesichts der Fülle der vom Berufungsgericht für die Annahme der Gewaltbereitschaft des Klägers verwerteten Tatsachen nachvollziehbar. Auch mit den Angriffen der Beschwerde gegen die Tatsachen- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, die sich auf dessen Gefahrenprognose hinsichtlich der Neigung des Klägers zu Gewalttätigkeiten unter Missachtung der persönlichen und körperlichen Integrität von Betroffenen beziehen (Beschwerdebegründung S. 7 f.), wird eine Gehörsverletzung nicht aufgezeigt.
c) Soweit die Beschwerde rügt, der Abwägung der familiären Interessen des Klägers und seiner Angehörigen gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Ausweisung lägen "unvollständige und rechtsfehlerhafte Erwägungen" zugrunde (Beschwerdebegründung S. 8), wendet sie sich lediglich gegen die Anwendung materiellen Rechts durch das Berufungsgericht, ohne damit einen Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO aufzuzeigen.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.