Urteil vom 08.12.2010 -
BVerwG 2 WD 24.09ECLI:DE:BVerwG:2010:081210U2WD24.09.0

Urteil

BVerwG 2 WD 24.09

  • Truppendienstgericht Nord 1. Kammer - 01.04.2009 - AZ: TDG N 1 VL 20/08

In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts in der nichtöffentlichen Hauptverhandlung am 8. Dezember 2010, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht Golze,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Burmeister,
ehrenamtlicher Richter Oberstleutnant Schwatlo und
ehrenamtlicher Richter Oberfeldwebel Conrad,
Leitender Regierungsdirektor ...
als Vertreter des Bundeswehrdisziplinaranwalts,
Rechtsanwalt ...
als Pflichtverteidiger,
Geschäftsstellenverwalterin ...
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:

  1. Auf die Berufungen der Soldatin und der Wehrdisziplinaranwaltschaft wird das Urteil der 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 1. April 2009 aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kammer des Truppendienstgerichts Nord zurückverwiesen.
  3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I

1 Die 32 Jahre alte ledige Soldatin trat am 3. September 2001 als Freiwillige in den Dienst der Bundeswehr und wurde am 6. September 2001 in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen. Ihre Dienstzeit wurde zuletzt auf 12 Jahre festgesetzt, so dass sie planmäßig mit Ablauf des 31. August 2013 enden wird. Die Soldatin wurde regelmäßig befördert, zuletzt am 7. Juli 2006 zum Feldwebel. Aufgrund der Anordnung des Amtschefs des Personalamts der Bundeswehr vom 12. März 2008 wurde die Soldatin wegen des Verdachts, ein Dienstvergehen begangen zu haben, vorläufig des Dienstes enthoben. Zugleich wurde ein Uniformtrageverbot ausgesprochen.

II

2 1. Der Amtschef des Personalamts der Bundeswehr hat - nach Anhörung der Soldatin - gegen diese mit Verfügung vom 10. August 2007, ausgehändigt am 14. August 2007, das gerichtliche Disziplinarverfahren eingeleitet. Eine vorherige Anhörung der Vertrauensperson fand nicht statt. Gemäß der Niederschrift über die Vernehmung der Soldatin vom 4. Juli 2006 hatte diese einer Anhörung ihrer Vertrauensperson ausdrücklich „nicht widersprochen“. In ihrer Vernehmung vom 8. Mai 2007 wurde vermerkt, dass die Soldatin auf eine Anhörung der Vertrauensperson „verzichte“.

3 2. Mit Anschuldigungsschrift der Wehrdisziplinaranwaltschaft für den Bereich des Personalamts der Bundeswehr vom 16. Dezember 2008 wird der Soldatin zur Last gelegt, im Zeitraum vom 2. Mai 2002 bis zum 12. September 2006 ein Dienstvergehen begangen zu haben, und zwar wiederholte Warenhausdiebstähle (Anschuldigungspunkte 1 bis 4) sowie Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit ihrem Status „krank zu Hause“ (Anschuldigungspunkt 5; sachgleich war gegen die Soldatin bereits am 22. Februar 2007 eine Disziplinarbuße über 500 € verhängt worden); im Anschuldigungspunkt 6 wird der Soldatin vorgeworfen, sich für ihre Feldwebel-Prüfung zuvor unrechtmäßig Original-Prüfungsunterlagen und Lösungsskizzen verschafft und diese verwendet zu haben mit der Folge, dass sie sich dadurch über das Prüfungsergebnis und das Bestehen des Personalfeldwebel-Lehrgangs ihren derzeitigen Dienstgrad und Status erschlichen habe.

4 3. Die 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord hat die Soldatin durch Urteil vom 1. April 2009 in den Dienstgrad eines Gefreiten herabgesetzt und die gegen sie im Anschuldigungspunkt 5 verhängte Disziplinarbuße aufgehoben. In den Anschuldigungspunkten 1 bis 4 und 6 hat die Truppendienstkammer das angeschuldigte Fehlverhalten als erwiesen angesehen. Die Vorwürfe im Anschuldigungspunkt 5 sind, soweit sie nicht ebenfalls als erwiesen angesehen wurden, gemäß § 107 Abs. 2 Satz 1 WDO ausgeklammert worden. Die Soldatin habe vorsätzlich ein schwerwiegendes Dienstvergehen begangen, das aber noch nicht zu einem endgültigen Vertrauensverlust geführt habe. Der Sachverständige, Flottenarzt B., habe in der Hauptverhandlung nachvollziehbar dargelegt, dass der Soldatin in den Anschuldigungspunkten 1 bis 4 eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB zuzubilligen sei.

5 4. Gegen das ihr am 11. Mai 2009 zugestellte Urteil hat die Soldatin durch ihre (damaligen) Verteidiger am 3. und 5. Juni 2009 in vollem Umfang Berufung eingelegt. Im Wesentlichen hat sich die Soldatin gegen die Sachverhaltsfeststellungen und disziplinarrechtlichen Würdigungen in den Anschuldigungspunkten 5 und 6 gewandt.

6 In der Berufungshauptverhandlung hat der Pflichtverteidiger nach Rücksprache mit der Soldatin erklärt, der Anhörung der Vertrauensperson werde nicht widersprochen, und beantragt, das Verfahren zur Nachholung der Anhörung der Vertrauensperson und zur Aufklärung weiterer Verfahrensumstände zurückzuverweisen.

7 5. Gegen das ihr am 7. Mai 2009 zugestellte Urteil hat die Wehrdisziplinaranwaltschaft für den Bereich des Personalamts der Bundeswehr am 5. Juni 2009 die auf das Disziplinarmaß beschränkte Berufung mit dem Ziel eingelegt, die Soldatin aus dem Dienstverhältnis zu entfernen.

8 In der Berufungshauptverhandlung hat der Vertreter des Bundeswehrdisziplinaranwalts beantragt, das Verfahren zur Anhörung der Vertrauensperson an das Truppendienstgericht zurückzuverweisen.

III

9 Die nach § 115 Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 WDO zulässigen Rechtsmittel der unbeschränkten und der maßnahmebeschränkten Berufung haben Erfolg und führen - in Übereinstimmung mit den Anträgen der Beteiligten in der Berufungshauptverhandlung - gemäß § 121 Abs. 2 WDO zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Kammer des Truppendienstgerichts Nord zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung, weil ein schwerer, aber behebbarer Mangel des Verfahrens vorliegt.

10 Nach der zuletzt genannten Vorschrift „kann“ das Bundesverwaltungsgericht das Urteil des Truppendienstgerichts aufheben und die Sache an eine andere Kammer desselben oder eines anderen Truppendienstgerichts zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn u.a. schwere Mängel des Verfahrens vorliegen. Ein schwerer Mangel des Verfahren im Sinne des § 121 Abs. 2 und des § 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO ist im Regelfall dann gegeben, wenn gegen eine Verfahrensvorschrift verstoßen worden ist, deren Verletzung schwerwiegend und für den Ausgang des Verfahrens (noch) von Bedeutung ist. Ein solcher Fall liegt regelmäßig dann vor, wenn die Rechte eines Verfahrensbeteiligten wesentlich beeinträchtigt worden sind oder wenn der Verfahrensverstoß den Zweck einer Formvorschrift wesentlich vereitelt. Für den Ausgang des Berufungsverfahrens ist ein solcher Fehler im Regelfall dann (noch) von Bedeutung, wenn die Entscheidung über das Rechtsmittel anders ausfallen kann als im Falle seiner Nichtbehebung (stRspr, vgl. zuletzt Beschlüsse vom 5. Januar 2010 - BVerwG 2 WD 26.09 , 2 WDB 3.09 - und vom 24. März 2010 - BVerwG 2 WD 10.09 -, jeweils m.w.N.).

11 Aber auch unabhängig von der Auswirkung des Fehlers auf den Ausgang des Berufungsverfahrens ist ein schwerer Mangel des Verfahrens im Sinne des § 121 Abs. 2 und des § 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO dann gegeben, wenn eine vom Gesetzgeber als zwingend ausgestaltete Verfahrensvorschrift, d.h. nicht nur eine reine Ordnungsvorschrift, nicht beachtet wurde (vgl. zur Abgrenzung „wesentlicher Mängel“ des behördlichen Disziplinarverfahrens nach dem Bundesdisziplinargesetz von der Verletzung „bloßer Ordnungsbestimmungen“ Urteil vom 24. Juni 2010 - BVerwG 2 C 15.09 - NVwZ-RR 2010, 814 ff.). Das Gericht darf eine solche zwingende Vorschrift nicht dadurch „leerlaufen“ lassen, dass es ihre Nichtbeachtung als für das Ergebnis des gerichtlichen Disziplinarverfahrens unerheblich einstuft. Vielmehr ist es Aufgabe des Gerichts, die Nachholung einer unterbliebenen Verfahrenshandlung, soweit es das Verfahrensrecht zulässt, herbeizuführen. Ein solcher schwerer Verfahrensmangel - Verstoß gegen eine zwingend ausgestaltete Verfahrensvorschrift - liegt hier vor.

12 1. Das gerichtliche Disziplinarverfahren gegen die Soldatin ist durch Verfügung vom 10. August 2007 gemäß § 93 Abs. 1 WDO eingeleitet worden, ohne dass zuvor gemäß § 4 Satz 1 WDO i.V.m. § 27 Abs. 2 Soldatenbeteiligungsgesetz (SBG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. April 1997, BGBl I S. 766, die Vertrauensperson angehört und anschließend das gesetzlich vorgeschriebene Anhörungsverfahren durchgeführt worden war. Die Soldatin hatte weder damals noch jetzt einer Anhörung der Vertrauensperson widersprochen; ihr zwischenzeitlicher „Verzicht“ war nicht als Widerspruch gegen eine Anhörung zu werten. Das Unterbleiben der Anhörung der Vertrauensperson vor Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens stellt einen Verstoß gegen § 27 Abs. 2 SBG dar.

13 a) § 27 Abs. 2 SBG enthält folgende Regelung:
„Beabsichtigt die Einleitungsbehörde, gegen einen Soldaten ein disziplinargerichtliches Verfahren einzuleiten, ist die Vertrauensperson zur Person des Soldaten und zum Sach-verhalt anzuhören, sofern der Soldat nicht widerspricht.“

14 Da die Soldatin der Anhörung der Vertrauensperson nicht widersprochen hatte, war eine Anhörung vorzunehmen; diese unterblieb zu Unrecht. Eine Anhörung war auch nicht deshalb entbehrlich, weil die Soldatin zwischenzeitlich auf sie „verzichtet“ hatte. Vor Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens stellt die Anhörung der Vertrauensperson den Regelfall dar. Dies ergibt sich schon aus dem Gesetzeswortlaut („... ist die Vertrauensperson ... anzuhören ...“). Die Anhörung findet ausnahmsweise nur dann nicht statt, wenn der Soldat, nachdem er auf sein Widerspruchsrecht hingewiesen worden ist (vgl. ZDv 10/2 „Beteiligung durch Vertrauenspersonen“, Nr. 238), erkennbar widerspricht (vgl. zur gesetzlichen Begründung des Widerspruchsrechts des Soldaten BTDrucks 13/5740 S. 20, zu § 27 SBG). Ein bloßer „Verzicht“ auf die Anhörung genügt der gesetzlichen Bestimmung nicht; er ist nicht als Widerspruch zu werten. Dies hat die Soldatin durch ihren Verteidiger in der Berufungshauptverhandlung noch einmal ausdrücklich bestätigt. Liegt nach alledem kein Widerspruch vor, bleibt es bei der gesetzlichen Regel-Verpflichtung, d.h. der Anhörung der Vertrauensperson.

15 b) Das Unterbleiben der gemäß § 27 Abs. 2 SBG grundsätzlich vorgeschriebenen Anhörung der Vertrauensperson vor Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens stellt nicht nur eine Verletzung einer Ordnungsbestimmung, sondern einen Verstoß gegen eine vom Gesetzgeber als zwingend vorgesehene Verfahrensvorschrift dar. Das ergibt sich aus Sinn und Zweck der Regelung sowie aus der detaillierten gesetzlichen Ausgestaltung des Anhörungsverfahrens.

16 Nach § 27 Abs. 2 SBG ist, sofern der Soldat nicht widersprochen hat, die Vertrauensperson zur Person des Soldaten und zum Sachverhalt anzuhören, wenn die Einleitungsbehörde beabsichtigt, gegen den Soldaten ein disziplinargerichtliches Verfahren einzuleiten. Diese Anhörung gehört grundsätzlich nicht in den Bereich der Ermittlungen zur Sache, sondern dient - sowohl im Interesse des Soldaten als auch zur Objektivierung des Verfahrens (vgl. ZDv 10/2 Nr. 236) - lediglich der Vorbereitung der Ermessensentscheidung der Einleitungsbehörde nach § 15 Abs. 2 WDO, ob die Einleitung eines disziplinargerichtlichen Verfahrens gegen den betroffenen Soldaten opportun ist. Die Vertrauensperson kann sich deshalb im Rahmen ihrer Anhörung z.B. auch dazu äußern, ob sie die Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens für geboten hält oder eine anderweitige Ahndung, insbesondere den Ausspruch einer einfachen Disziplinarmaßnahme - dann vorherige Anhörung der Vertrauensperson gemäß § 27 Abs. 1 SBG - oder einer Erzieherischen Maßnahme, für ausreichend erachtet (vgl. ZDv 10/2, Nr. 238; dazu Urteil vom 12. Juni 2007 - BVerwG 2 WD 11.06 - Buchholz 449.7 § 27 SBG Nr. 3 = NZWehrr 2007, 256).

17 Die Anhörung zur Person, die eine Äußerung über die charakterlichen Vorzüge und Mängel, das kameradschaftliche Verhalten des Soldaten und dessen Ansehen im Kameradenkreis sowie über seine persönlichen und außerdienstlichen Verhältnisse bezweckt, soll der Einleitungsbehörde helfen, die Persönlichkeit, die bisherige Führung des Soldaten und die Beweggründe seines Handelns richtig zu beurteilen. In der Anhörung zum Sachverhalt kann die Vertrauensperson der Einleitungsbehörde aus ihrer und der Kameraden Sicht die dienstlichen Umstände und die Motivation des Verhaltens sowie die Auswirkungen darlegen, die das Handeln oder Unterlassen des Soldaten im Kameradenkreis oder bei Außenstehenden gehabt hat (vgl. dazu insgesamt Beschluss vom 31. August 1998 - BVerwG 2 WDB 1.98 - BVerwGE 113, 259 <260 f.> = Buchholz 235.0 § 86 WDO Nr. 2 S. 2 f. = NZWehrr 1998, 250 <251> m.w.N.). Wie ein Vergleich zu § 27 Abs. 1 SBG („Disziplinarmaß“) zeigt, umfasst § 27 Abs. 2 SBG keine obligatorische Anhörung zur disziplinarrechtlichen Bewertung des Sachverhalts; eine Anhörungspflicht zur rechtlichen Bewertung des Sachverhalts ist im Gesetz nicht vorgesehen und kann auch nicht auf die Zentrale Dienstvorschrift gestützt werden (Urteil vom 12. Juni 2007 a.a.O.).

18 Gemäß § 20 Satz 1 i.V.m. § 27 Abs. 2 SGB ist die Vertrauensperson über die beabsichtigte Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens gegen den Soldaten, zu der die Vertrauensperson anzuhören ist, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten (vgl. zur anhörungspflichtigen Stelle, Beschluss vom 31. Januar 2007 - BVerwG 1 WB 16.06 - Buchholz 449.7 § 52 SBG Nr. 3 = NZWehrr 2007, 162 m.w.N.; vgl. zur zuständigen Vertrauensperson, Beschluss vom 31. Januar 2007 a.a.O. und Urteil vom 4. September 2009 - BVerwG 2 WD 17.08 - BVerwGE 134, 379 <383 f.> = Buchholz 450.2 § 13 WDO 2002 Nr. 1 S. 4 f. = NZWehrr 2010, 114 <116>). Der Sachverhalt ist der Vertrauensperson vor Beginn der Anhörung bekanntzugeben (§ 27 Abs. 3 Satz 1 SBG); ein Recht auf Einsicht in Unterlagen und Akten besteht nur mit Einwilligung der Betroffenen (§ 27 Abs. 3 Satz 2 SBG). Der Vertrauensperson ist gemäß § 20 Satz 2 SBG zu der beabsichtigten Maßnahme - hier Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens - Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; diese (Stellungnahme) ist mit ihr zu erörtern (§ 20 Satz 3 SBG; vgl. zu Art und Umfang der Erörterungspflicht Urteil vom 4. September 2009 a.a.O. S. 384, S. 5 bzw. S. 116 m.w.N.). Über die Anhörung der Vertrauensperson ist eine Niederschrift anzufertigen, die zu den Akten zu nehmen ist (§ 27 Abs. 4 SBG). Schließlich ist nach § 4 Satz 2 WDO das Ergebnis der Anhörung der Vertrauensperson dem Soldaten vor dessen Anhörung gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 WDO bekanntzugeben.

19 c) Unterbleibt die gesetzlich vorgeschriebene Anhörung der Vertrauensperson, hat dies zwar (noch) nicht die Unwirksamkeit der Einleitungsverfügung zur Folge und stellt auch (noch) kein Verfahrenshindernis im Sinne des § 108 Abs. 3 und 4 WDO dar (vgl. zu § 27 SBG a.F. und § 104 Abs. 3 und 4 WDO a.F. insbesondere Beschlüsse vom 8. Januar 1992 - BVerwG 2 WDB 17.91 - BVerwGE 93, 222 <225 ff.> = NZWehrr 1992, 74 <76> und vom 31. August 1998 a.a.O. S. 261, S. 3 bzw. S. 251; Urteil vom 4. September 2009 a.a.O. S. 384, S. 5 bzw. S. 116 f., jeweils m.w.N.). Die Einleitungsverfügung ist jedoch fehlerhaft (vgl. Beschlüsse vom 8. Januar 1992 a.a.O. und vom 31. August 1998 a.a.O.).

20 2. Die fehlende Anhörung der Vertrauensperson begründet einen (vorgerichtlichen) Verfahrensmangel, der den Vorsitzenden des Truppendienstgerichts hätte veranlassen müssen, den Wehrdisziplinaranwalt zur Beseitigung des Mangels aufzufordern, § 99 Abs. 3 Satz 1, 2. Alternative WDO. Dass es nicht zu einer entsprechenden Aufforderung gekommen ist, begründet wiederum einen schweren Mangel des (gerichtlichen)Verfahrens, der in Ermangelung einer Aufforderungsmöglichkeit durch den Senat hier gemäß § 121 Abs. 2 WDO zwingend zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Kammer des Truppendienstgerichts Nord führt; für eine Zurückverweisung an ein anderes Truppendienstgericht sieht der Senat keine Veranlassung.

21 a) Wie der Senat wiederholt entschieden hat (vgl. insbesondere Beschluss vom 8. Januar 1992 a.a.O. S. 227 bzw. S. 76 f. und Urteil vom 4. September 2009 a.a.O. S. 385, S. 5 bzw. S. 116 f., jeweils m.w.N.), ist die Nachholung der Anhörung durch den Vorsitzenden der Truppendienstkammer bzw. durch das „Truppendienstgericht“ zu veranlassen. Soweit der Senat in diesem Zusammenhang allerdings eine Ladung der Vertrauensperson als „sachverständigen Zeugen“ zur Hauptverhandlung gemäß § 103 Abs. 1 Satz 2 WDO als möglich angesehen hat (vgl. Beschluss vom 8. Januar 1992 a.a.O.), hält er an dieser Auffassung nicht mehr fest. Die Nachholung der Anhörung einer Vertrauensperson gemäß § 27 Abs. 2 SBG kann nicht durch Vernehmung dieser Person als sachverständiger Zeuge vorgenommen werden. Der sachverständige Zeuge ist ein Zeuge, der sein Wissen von bestimmten vergangenen Tatsachen oder Zuständen bekundet, zu deren Wahrnehmung eine besondere Sachkunde erforderlich war und die er nur kraft dieser besonderen Sachkunde wahrgenommen hat (vgl. z.B. Urteil vom 6. Februar 1985 - BVerwG 8 C 15.84 - BVerwGE 71, 38 <42> = Buchholz 303 § 414 ZPO Nr. 1 S. 3 m.w.N.). Zwar kann die Vertrauensperson über eigene Wahrnehmungen in Bezug auf die Person des Soldaten z.B. in dem gegen diesen anhängigen disziplinargerichtlichen Verfahren vor einem Wehrdienstgericht als Leumundszeuge angehört werden. Eine solche gerichtliche Vernehmung kann jedoch nicht die nach § 27 Abs. 2 SBG grundsätzlich durch die Einleitungsbehörde vorzunehmende Anhörung der Vertrauensperson und Durchführung des entsprechenden Anhörungsverfahrens ersetzen.

22 b) In Betracht kommt nach alledem nur eine Beseitigung des wesentlichen Verfahrensmangels im Wege des § 99 Abs. 3 WDO durch den Vorsitzenden der Truppendienstkammer (vgl. dazu Beschluss vom 8. Januar 1992 a.a.O. S. 227 bzw. S. 76 f. zu § 96 Abs. 3 Satz 1 WDO a.F.). Dieser hat den Wehrdisziplinaranwalt zur Beseitigung des Mangels aufzufordern; währenddessen ist das gerichtliche Disziplinarverfahren auszusetzen (§ 99 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 WDO). Da eine Mangelbeseitigung, verbunden mit einer Verfahrensaussetzung, von Gesetzes wegen nur im ersten Rechtszug vorgesehen ist, ist die Sache gemäß § 121 Abs. 2 WDO zurückzuverweisen, damit der Vorsitzende der nun zuständigen Truppendienstkammer gemäß § 99 Abs. 3 WDO verfährt (vgl. auch Dau, WDO, 5. Aufl. 2009, § 99 Rn. 28 m.w.N.). Auf diesem Weg ist dann die unterbliebene Anhörung der zuständigen Vertrauensperson nachzuholen und im Rahmen der Entscheidung der Einleitungsbehörde, ob an der ursprünglichen Einleitung eines disziplinargerichtlichen Verfahrens festgehalten wird, in dokumentierter Weise zu würdigen. Das Beschleunigungsgebot (§ 17 Abs. 1 WDO) steht einer Zurückverweisung schon deshalb nicht entgegen, weil diese im Gesetz selbst vorgesehene Entscheidung auch zur Sicherstellung des Anspruchs auf ein rechtsstaatliches disziplinargerichtliches Verfahren (speziell zum wehrdisziplinarrechtlichen Verfahren BVerfG, Kammerbeschluss vom 14. Juni 2000 - 2 BvR 993/94 - ZBR 2001, 208) unvermeidbar ist; dies gilt hier umso mehr, als es der Wehrdisziplinaranwaltschaft um die Verhängung der disziplinarischen Höchstmaßnahme geht.

23 c) Die Wehrdisziplinaranwaltschaft wird zu prüfen haben, ob der Anschuldigungssatz im Anschuldigungspunkt 6 den Anschuldigungsvorwurf - Kurzbeschreibung des objektiv und subjektiv pflichtwidrigen Verhaltens nach Ort, Zeit sowie Art und Weise - deutlich genug wiedergibt und den Anschuldigungswillen eindeutig erkennen lässt. Ggf. wird sie eine Konkretisierung im Wege einer Nachtragsanschuldigungsschrift vorzunehmen haben.

24 Aus der doppelten Aufgabe der Anschuldigungsschrift - Begrenzung des Prozessstoffes und Ermöglichung einer ausreichenden Verteidigung (vgl. zuletzt Urteil vom 18. November 2010 - BVerwG 2 WD 25.09 - m.w.N.) - folgt, dass ein Anschuldigungssatz nur dann hinreichend bestimmter Inhalt der Anschuldigungsschrift ist, wenn der in ihm erhobene Vorwurf eines schuldhaften Dienstvergehens in diesem Sinne aus der Sicht des Empfängers der Anschuldigungsschrift bei objektiver Betrachtungsweise konkret und eindeutig zu entnehmen ist (vgl. Urteil vom 21. Juni 2005 - BVerwG 2 WD 12.04 - BVerwGE 127, 302 = Buchholz 236.1 § 11 SG Nr. 1 m.w.N.). Der der Soldatin gegenüber erhobene Vorwurf im Anschuldigungspunkt 6 muss in der Anschuldigungsschrift so deutlich und klar sein, dass sich die Soldatin in ihrer Verteidigung darauf einstellen kann. Dazu genügt es nicht, ausführlich einen historischen Geschehensablauf zu schildern, ohne hinreichend präzise erkennen zu lassen, welche Pflichtverletzungen der Soldatin insoweit als Dienstvergehen zur Last gelegt werden. Die Darlegung eines konkreten und nachvollziehbaren Geschehensablaufs hinsichtlich des der Soldatin zur Last gelegten Verhaltens muss zu dem daraus abgeleiteten Vorwurf einer oder mehrerer Dienstpflichtverletzung(en) in Beziehung gesetzt werden. Entscheidend ist, dass in der konkreten Verknüpfung zwischen der Darlegung des historischen Geschehensablaufs und den daraus vom Wehrdisziplinaranwalt gezogenen Schlussfolgerungen der von diesem erhobene, regelmäßig in der Anschuldigungsformel konzentriert zu fassende Vorwurf deutlich wird. Sachverhaltseinzelheiten etc. sind dann mit den Beweismitteln (Beweiswürdigung) in die Anschuldigungsbegründung aufzunehmen.

25 Soweit es letztlich um die Frage geht, ob und ggf. inwieweit der Soldatin zur Tatzeit erheblich verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB zugebilligt werden kann (bisher Anschuldigungspunkte 1 bis 4), sollte vom Sachverständigen vertiefend auf die Kriterien eingegangen werden, die in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10 Kapitel V <F>) aufgestellt sind.

26 3. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens und die Erstattung der der Soldatin darin erwachsenen notwendigen Auslagen bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.