Urteil vom 10.12.2002 -
BVerwG 1 D 7.02ECLI:DE:BVerwG:2002:101202U1D7.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 10.12.2002 - 1 D 7.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2002:101202U1D7.02.0]

Urteil

BVerwG 1 D 7.02

In dem Disziplinarverfahren hat das Bundesverwaltungsgericht, 1. Disziplinarsenat,
in der nichtöffentlichen Hauptverhandlung am 10. Dezember 2002,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht
A l b e r s ,
Richterin am Bundesverwaltungsgericht
H e e r e n ,
Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. H. M ü l l e r ,
Posthauptsekretär Otto J o c h e r
und Postbetriebsassistent Willibald Z o l l n e r
als ehrenamtliche Richter
sowie
Regierungsdirektor ...
für den Bundesdisziplinaranwalt,
Rechtsanwalt ... , Bremen,
als Verteidiger,
und
Justizangestellte ... ,
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:

  1. Auf die Berufung des Postbetriebsinspektors a.D.
  2. ... wird das Urteil des Bundesdisziplinargerichts, Kammer VIII - ... -, vom 13. Dezember 2001 aufgehoben.
  3. Der Ruhestandsbeamte wird freigesprochen.
  4. Die Kosten des Verfahrens und die dem Ruhestandsbeamten hierin erwachsenen notwendigen Auslagen werden dem Bund auferlegt.

I


1. Der Bundesdisziplinaranwalt hat den Ruhestandsbeamten angeschuldigt, dadurch ein Dienstvergehen begangen zu haben, dass er als Sozialbetreuer des Sozialbetreuungszentrums der damaligen Direktion B.
1. im März/April 1997 bei der Postfiliale A. eine Briefsendung unbefugt dem Briefverkehr entzogen, diese widerrechtlich geöffnet und das darin befindliche Bargeld (10 oder 20 DM) entwendet und für sich behalten hat,
2. im Zeitraum vom 19. Februar 1997 bis zum 1. Juli 1997 bei verschiedenen Postfilialen und Postzustellstützpunkten seines Betreuungsbereichs ca. 200 Briefsendungen unbefugt dem Briefverkehr entzogen, sie widerrechtlich geöffnet, nach Bargeld durchsucht und das gefundene Bargeld an sich genommen und für sich behalten hat, um die Postsendungen zur Verdeckung seiner Taten in einem Aktenvernichtungsgerät seiner Dienststelle bis zur Unkenntlichkeit zu zerstören und
3. am 1. Juli 1997 bei der Postfiliale A. einen als Brief getarnten Fangbrief des Postermittlungsdienstes unbefugt dem Postverkehr entzogen und ihn widerrechtlich geöffnet hat, um das darin befindliche Bargeld an sich zu nehmen und zu behalten und den Brief anschließend wiederum in einem Aktenvernichtungsgerät seiner Dienststelle bis zur Unkenntlichkeit zu zerstören.
Das gegen den Ruhestandsbeamten eingeleitete sachgleiche Strafverfahren wegen Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses wurde nach Zahlung einer Geldauflage in Höhe von 1 000 DM von der Staatsanwaltschaft ... durch Verfügung im Juni 1999 gemäß § 153 a StPO endgültig eingestellt.
2. Das Bundesdisziplinargericht hat durch Urteil vom 13. Dezember 2001 entschieden, dass dem Ruhestandsbeamten das Ruhegeld aberkannt und ihm ein Unterhaltsbeitrag in Höhe von 75 v.H. seines erdienten Ruhegehalts auf die Dauer von einem Jahr bewilligt wird. Es hat folgenden Sachverhalt festgestellt:
Zu Anschuldigungspunkt 1:
Im März oder April 1997 nahm der Ruhestandsbeamte anlässlich eines in seiner Eigenschaft als Sozialbetreuer durchgeführten Besuches der in seinem Betreuungsbezirk gelegenen Postfiliale A. eine Briefsendung an sich, öffnete diese und entnahm der Sendung das darin befindliche Bargeld in Höhe von 10 oder 20 DM. Er behielt das Geld für sich und vernichtete die Sendung im Aktenvernichtungsgerät seiner Dienststelle.
Zu Anschuldigungspunkt 2:
Im Zeitraum vom 19. Februar bis 1. Juli 1997 nahm der Ruhestandsbeamte bei verschiedenen Postfilialen bzw. Zustellstützpunkten seines Betreuungsbereichs eine große Anzahl von Briefsendungen unbefugt an sich, öffnete und durchsuchte diese und behielt dabei vorgefundenes Bargeld für sich. Die geöffneten Sendungen zerstörte er anschließend im Aktenvernichtungsgerät seiner Dienststelle. Die genaue Anzahl der Sendungen, mit denen sich der Ruhestandsbeamte auf diese Weise befasst hatte, konnte nicht festgestellt werden. Auch die Gesamthöhe des von ihm hierbei entwendeten Geldbetrages war nicht zu ermitteln. Im Aktenvernichtungsgerät der Dienststelle des Ruhestandsbeamten wurde eine große Menge zerstörten Materials vorgefunden. Hieraus konnten bei den Ermittlungen 72 Sendungen zumindest teilweise wieder zusammengefügt werden. Die Gesamtzahl der im Zeitraum vom 19. Februar bis 1. Juli 1997 im Aktenvernichter der Dienststelle des Ruhestandsbeamten zerstörten Sendungen schätzte der Ermittlungsführer im "Wesentlichen Ergebnis der Vorermittlungen" auf weit mehr als 200.
Zu Anschuldigungspunkt 3:
Am 1. Juli 1997 nahm der Ruhestandsbeamte anlässlich eines Besuchs in der Postfiliale A. eine Briefsendung an sich, öffnete und durchsuchte diese und entwendete die beiden darin aufgefundenen 50-DM-Scheine. Auch diese Sendung zerstörte er anschließend im Aktenvernichter seiner Dienststelle. Bei dieser Briefsendung handelte es sich um einen präparierten "Fangbrief", in welchen zwei zuvor fotokopierte 50-DM-Scheine eingelegt worden waren. Beide Geldscheine wurden noch am selben Tage bei dem Ruhestandsbeamten sichergestellt.
Ergänzend hat das Bundesdisziplinargericht ausgeführt, der Ruhestandsbeamte habe zu den festgestellten Sachverhalten, die er - im Anschuldigungspunkt 2 im Wesentlichen - eingeräumt habe, erklärt, es sei ihm selbst völlig unverständlich, warum er sich an den Postsendungen vergriffen habe. In diesem Zusammenhang habe der Ruhestandsbeamte auf dienstliche Belastungen und gesundheitliche Probleme hingewiesen. So habe das Postamt ... im Herbst 1995 im Zuge der Postreform seine Selbständigkeit verloren, wodurch er, der Ruhestandsbeamte, dem Sozialbetreuungszentrum B. unterstellt worden sei. Er habe sich nun allein gelassen gefühlt und sei mit der neuen Situation nur schwer fertig geworden. Die Arbeit sei aufwändiger geworden. Es seien neue Strukturen entstanden, neue Ansprechpartner hätten gesucht werden müssen. Er habe darunter gelitten, nicht mehr so gut helfen zu können wie bisher. Außerdem seien neue Anforderungen auf ihn zugekommen, nämlich der Umgang mit dem Personalcomputer und die Umstellung auf neue EDV-Programme. Er habe Angst gehabt, der Arbeit mit diesen neuen Medien nicht gewachsen zu sein. Auch inhaltlich habe ihn die Arbeit mehr und mehr belastet, insbesondere die Betreuung in Todesfällen und in Fällen von Kollegen mit Alkoholproblemen. Er habe sich in dieser Phase überfordert gefühlt, habe insbesondere Angst vor weiterer Vergrößerung seines Arbeitsbereiches gehabt. Auch hätten sich im Laufe der Zeit gesundheitliche Probleme, wie Herzbeschwerden und andere internistische Probleme eingestellt. Im Dezember 1996 habe er während eines Lehrgangs als Notfall in ein Krankenhaus eingeliefert werden müssen, wo ihm die Gallenblase entfernt worden sei.
Der Ruhestandsbeamte, der seine Verfehlungen sehr bedauere, habe beteuert, dass es für sein Verhalten keine finanziellen Ursachen gegeben habe. Mit seinem Einkommen sei er immer gut zurechtgekommen und habe niemals Schulden gehabt. Er habe sogar von Seiten seiner Schwiegermutter eine Erbschaft in Höhe von 10 000 DM gemacht. Außerdem habe er das Haus seiner Eltern verkauft, wovon er selbst etwa 50 000 DM übrig behalten und zum Kauf eines neuen Autos genutzt habe. Danach habe er noch etwa 20 000 DM Sparvermögen besessen.
Schließlich hat die Vorinstanz ausgeführt, im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen den Ruhestandsbeamten sei ein Gutachten des Psychiaters Dr. R. vom Zentralkrankenhaus ... eingeholt worden, das der Sachverständige im Rahmen der disziplinarrechtlichen Untersuchung ergänzt und auch mündlich erläutert habe. Danach habe es sich bei dem Fehlverhalten des Ruhestandsbeamten um eine akute Belastungsreaktion bei Vorliegen einer depressiven Persönlichkeitsstörung gehandelt, die als krankhafte seelische Störung zu einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit geführt habe. Die Schuldfähigkeit des Ruhestandsbeamten sei deshalb im Sinne des § 21 StGB vermindert gewesen.
Das Bundesdisziplinargericht hat die festgestellte Handlungsweise des Ruhestandsbeamten als vorsätzliche Verstöße gegen seine Dienstpflichten zu uneigennütziger Amtsführung sowie zu achtungs- und vertrauensgerechtem Verhalten innerhalb des Dienstes (§ 54 Sätze 2 und 3 BBG) gewürdigt. Der Ruhestandsbeamte habe ein Dienstvergehen im Sinne des § 77 Abs. 1 Satz 1 BBG begangen, das als Zugriffsdelikt (Briefberaubung) zu bewerten sei. Anerkannte Milderungsgründe lägen nicht vor. Verminderte Schuldfähigkeit führe ebenfalls nicht zu einer Maßnahmemilderung.
3. Hiergegen hat der Ruhestandsbeamte durch seinen Verteidiger rechtzeitig Berufung eingelegt mit dem Antrag, ihn freizusprechen. Zur Begründung macht er im Wesentlichen geltend: Er habe immer wieder erklärt, dass es ihm völlig unverständlich sei, warum er sich an den Postsendungen vergriffen habe. Es habe hierfür kein Motiv gegeben. Insbesondere habe er sich nicht in einer finanziellen Notlage befunden. Erst im Verlauf der längeren stationären klinischen Behandlung im Zentralkrankenhaus ... sei deutlich geworden, dass sich die Verfehlungen als "Inszenierung eines kindlichen familiären Konflikts um Anerkennung durch Autoritätspersonen" im Rahmen einer akuten Belastungsreaktion bei depressiver Persönlichkeitsstörung dargestellt hätten. Der seinerzeit zugezogene psychiatrische Sachverständige Dr. R. habe die Erkrankung der "schweren anderen seelischen Abartigkeit" im Sinne der §§ 20, 21 StGB zugeordnet. Ergänzend habe der Sachverständige ausgeführt, der bei der Aufnahme im Krankenhaus nach Entdeckung der Taten festgestellte schwere Krankheitszustand habe Monate gebraucht, um zu dieser Ausprägung zu kommen. Aus der Aufnahmesituation, der Intensität der Symptomatik und dem weiteren Verlauf der Erkrankung habe sich auch ergeben, dass der Krankheitszustand nicht vorgetäuscht worden sei. Forensisch-psychiatrisch seien die Pflichtverletzungen als "Eigentumsdelikte ohne Bereicherungstendenz" einzuordnen. Sie seien nur vor dem Hintergrund der Biografie und der Krankheitssymptomatik verständlich. Hinzu komme, dass er, der Ruhestandsbeamte, dazu neige, seine aggressiven Impulse gegen sich selbst zu wenden und Selbstbestrafung zu inszenieren in Form von quälenden Selbstvorwürfen bis hin zum Wunsch nach Selbstvernichtung. In den Verfehlungen realisiere sich quasi diese zwanghafte Selbstvernichtung. Der Sachverständige habe deshalb wiederholt die Vermutung geäußert, dass möglicherweise sogar die Voraussetzungen des § 20 StGB vorgelegen hätten. Wegen dieser begründeten Zweifel hinsichtlich der Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit hätte das Bundesdisziplinargericht ihn, den Ruhestandsbeamten, freisprechen müssen.

II


Die Berufung hat Erfolg und führt zum Freispruch des Ruhestandsbeamten gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1, § 76 Abs. 2 BDO. Diese Vorschriften sind hier maßgeblich. Denn das Disziplinarverfahren ist auch nach In-Kraft-Treten des Bundesdisziplinargesetzes - BDG - nach bisherigem Recht, d.h. nach den Verfahrensregeln und –grundsätzen der Bundesdisziplinarordnung - BDO - fortzuführen (vgl. zum Übergangsrecht z.B. Urteil vom 20. Februar 2002 - BVerwG 1 D 19.01 -).
Die Berufung ist unbeschränkt eingelegt. Der Ruhestandsbeamte beantragt Freispruch wegen Schuldunfähigkeit. Er wendet sich damit gegen die erstinstanzlichen Feststellungen zum subjektiven Disziplinartatbestand. Der Senat hat deshalb den Sachverhalt selbst festzustellen und disziplinarrechtlich zu würdigen.
1. Hinsichtlich des äußeren Geschehensablaufs der Tatvorwürfe in den Anschuldigungspunkten 1 bis 3 geht der Senat von den Feststellungen in dem angefochtenen Urteil aus, die der Ruhestandsbeamte mit seiner Berufung nicht in Frage gestellt und deren Richtigkeit er in der Hauptverhandlung vor dem Senat noch einmal eingeräumt hat. Dieser feststehende Sachverhalt erfüllt objektiv die Voraussetzungen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen die Pflichten zu uneigennütziger Amtsführung sowie zu achtungs- und vertrauensgerechtem Verhalten im Dienst (§ 54 Sätze 2 und 3 BBG).
Die Verletzung dieser Dienstpflichten kann dem Ruhestandsbeamten aber nur dann als Dienstvergehen zur Last gelegt werden, wenn dieser schuldhaft im Sinne des § 77 Abs. 1 Satz 1 BBG gehandelt hat.
2. Aufgrund der in der Hauptverhandlung vor dem Senat durchgeführten Beweisaufnahme ist der subjektive Tatbestand des angeschuldigten Dienstvergehens nicht erwiesen. Es steht nicht mit der für eine Verurteilung gebotenen Überzeugung fest, dass der zur Tatzeit (19. Februar bis 1. Juli 1997) im aktiven Dienst befindliche Beamte schuldfähig war.
a) Der Sachverständige Dr. R., Arzt für Psychiatrie am Zentralkrankenhaus ..., hat in der Hauptverhandlung in Übereinstimmung mit der Diagnose des Arztes für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie, Dr. von L., der den Ruhestandsbeamten seit 6. Mai 1999 behandelt, diesen als stark depressive Persönlichkeit mit zwanghaften Zügen gekennzeichnet. Der Ruhestandsbeamte sei von seiner Person her auf "einfache Strukturen" angelegt. Um - aus seiner Sicht - als guter und folgsamer Beamter mit sich und seiner Umgebung (insbesondere am Arbeitsplatz) in Harmonie auskommen zu können, sei er durch zwanghaft-mechanisches Denken und Handeln geprägt. Nur so habe er "funktionieren" können. Die Strukturveränderungen bei der Post hätten ihn daher - nachvollziehbar - sehr belastet. Er sei damit nicht zurechtgekommen. Nachdem dann auch noch sein Antrag auf vorzeitige Zurruhesetzung abgelehnt worden sei, habe er sich dienstlich benachteiligt und zurückgesetzt gefühlt. Da er nicht in der Lage gewesen sei, sich mitzuteilen und auszusprechen, habe er seine Probleme "in sich hineingefressen". Sein inneres Verlangen nach Harmonie und Anerkennung sei in Enttäuschung umgeschlagen, mit zum Teil wahnhaften Vorstellungen gegenüber seinem damaligen Vorgesetzten J. Die vom Ruhestandsbeamten anschließend begangenen Verfehlungen müssten als unbewusst erlebte Abwehrreaktionen gedeutet werden, die Elemente der Rache, des Ausgleichs für vermeintlich zustehende Belohnungen, aber auch der Selbstschädigung enthielten. Der Ruhestandsbeamte sei zunehmend einer grüblerischen und selbstquälerischen Haltung verfallen, aus der er sich nicht mehr habe selbst befreien können. Er habe sich letztlich wie fremd gesteuert gefühlt. Wenn sich der Ruhestandsbeamte dahin eingelassen habe, er könne nicht verstehen, was er getan habe, zumal er auf das Geld überhaupt nicht angewiesen gewesen sei, so sei dies glaubhaft. Der Gutachter kam deshalb zu dem Ergebnis, dass bei dem zwanghaft depressiv geprägten Ruhestandsbeamten aus psychiatrischer Sicht von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit auszugehen sei, wobei nicht ausgeschlossen werden könne, dass zur Tatzeit mangels Steuerungsfähigkeit Schuldunfähigkeit vorgelegen habe.
b) Der Senat hat sich dieser nachvollziehbaren, widerspruchsfreien und überzeugenden Beurteilung des Sachverständigen Dr. R. angeschlossen, die auf der Krankengeschichte des Ruhestandsbeamten über dessen stationären Aufenthalt im Zentralkrankenhaus ... vom 2. Juli bis 7. August 1997, dessen eingehender psychiatrischer Untersuchung am 19. November 1998, wiederholten Patientengesprächen (zuletzt am 10. Mai 2000) sowie Berichten der den Ruhestandsbeamten behandelnden Ärzte beruht. In Übereinstimmung mit dem Gutacher Dr. R. ist der Senat davon ausgegangen, dass bei dem Ruhestandsbeamten eine Aufhebung seiner Steuerungsfähigkeit und damit das Vorliegen von Schuldunfähigkeit im Sinne des § 20 StGB zur Tatzeit nicht ausgeschlossen werden kann und hat ihn deshalb mangels erwiesener Schuldfähigkeit von dem vorgeworfenen Dienstvergehen freigesprochen. Die vom Sachverständigen diagnostizierte stark depressive Persönlichkeitsstörung mit zwanghaften Zügen, die einer Zwangsneurose nahe kommt, lässt sich - mit dem Gutachter - ohne Weiteres als schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB einordnen (vgl. auch Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 4. Auflage, 2002, Rn. 1771 ff.; Tröndle/Fischer, StGB, 51. Auflage, 2003, § 20 Rn. 39, 41). Es ist auch ärztlich anerkannt, dass Depressionen die Willensbildung des Kranken beeinträchtigen, bei mittelgradigen Depressionen sogar aufheben können, wenn Motivation und Verhalten auf die affektive Störung zurückzuführen sind (vgl. BGH, NStZ 2001, 493; Nedopil, Forensische Psychiatrie, 2. Auflage, 2000, S. 135). Letzteres ist hier nach Beurteilung des Sachverständigen nicht auszuschließen. In ähnlicher Weise - wenn auch nicht so ausführlich - hat sich der Sachverständige schon früher geäußert. Damit hat sich das Bundesdisziplinargericht nicht auseinander gesetzt.
Ausschlaggebend für das Urteil des Senats war weiterhin der Umstand, dass das vom Gutachter diagnostizierte Krankheitsbild glaubhaft ist, d.h. keine Anhaltspunkte für eine Simulation bestehen. Dr. R. hat nachvollziehbar dargelegt, die im Juli 1997 festgestellte Schwere der Krankheit spreche dafür, dass sich diese über einen längeren Zeitraum entwickelt habe, d.h. die psychische Belastungssituation nicht erst mit Aufdeckung der Taten am 1. Juli 1997 entstanden sei. Der Ruhestandsbeamte sei damals auch sehr selbstmordgefährdet gewesen. Das diagnostizierte Krankheitsbild spiegelt sich zudem in der organischen Krankengeschichte des Ruhestandsbeamten wider. Dieser leidet seit Jahren an Magen- und Herzbeschwerden. Am Abschluss eines dienstlichen Lehrgangs im Dezember 1996 wurde ihm im Rahmen einer Notfallbehandlung die Gallenblase entfernt.
Briefberaubungen als Diebstahlshandlungen im weitesten Sinne sind dem hier beschriebenen Krankheitsbild auch nicht fremd. Nach dem Urteil des Sachverständigen neigen depressive Personen nicht selten zu Diebstahlshandlungen. Diese Beurteilung findet ihre Bestätigung in der medizinischen Fachliteratur. So schreibt z.B. Nedopil (a.a.O., S. 134) zur Straffälligkeit bei Depressionen u.a.:
"Gelegentlich werden auch Diebstahlshandlungen im Rahmen depressiver Episoden begangen. Auch hier spielen autoaggressive Tendenzen der Depressiven eine große Rolle. Sie sollen - was dem Betroffenen meist nicht bewusst ist - sowohl der Erregung von Aufmerksamkeit für das eigene Schicksal dienen als auch dem Zweck, Schuldgefühle und Selbstbestrafungstendenzen an realen Handlungen zu bestätigen."
Nedopil (a.a.O., S. 142) bestätigt ferner, dass bei chronisch-depressiven Verstimmungen neben der nach außen gerichteten Abwehr suizidaler Impulse häufig auch Selbstbestrafungstendenzen zu Diebstahlshandlungen führen könnten. Solche Handlungen schienen manchmal appellativen Charakter zu haben, zumal sie besonders dann aufträten, wenn die Betroffenen sich missachtet oder unbeachtet fühlten. In einigen Fällen ließen sich im Laufe der Zeit Konditionierungen des delinquenten Verhaltens beobachten, welche die Hemmung gegen vergleichbare rechtswidrige Handlungen weiter unterminierten. Dann könne es zu einer Chronifizierung der spezifischen, relativ eintönig erscheinenden Delinquenz kommen. Diese Delinquenzbeschreibung macht auch für den vorliegenden Fall den wiederholt geäußerten Hinweis des Ruhestandsbeamten auf seine damals fehlende "Bereicherungsabsicht" nachvollziehbar.
Der Annahme mangelnder Steuerungsfähigkeit kann schließlich nicht mit Erfolg ein vermeintlich planvoll zielgerichtetes und folgerichtiges Handeln des Ruhestandsbeamten entgegengehalten werden. Zwar erweist sich ein solches Vorgehen regelmäßig als wichtiges Beweisanzeichen gegen das Vorliegen von Steuerungsunfähigkeit (vgl. dazu z.B. Urteil vom 14. November 2001 - BVerwG 1 D 9.01 -; Urteil vom 25. September 2001 - BVerwG 1 D 62.00 -). Im vorliegenden Fall gibt es aber keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Briefberaubungen auf einem bewusst planvollen Handeln des Ruhestandsbeamten beruhen. Dieser hat in der Hauptverhandlung nachvollziehbar erläutert, dass er aus dienstlichen Gründen regelmäßig erst in den Mittagsstunden die von ihm in seinem Bezirk zu betreuenden Postbediensteten - meistens Zusteller mit Alkoholproblemen - habe aufsuchen können. Da die Zusteller häufig von ihrer Zustelltour noch nicht zurück gewesen seien, habe er aus alter Gewohnheit die Zeit genutzt, sich am jeweiligen Zustellplatz nützlich zu machen. Dabei sei ihm seine frühere berufliche Erfahrung als Verteilbeamter zugute gekommen. Jedenfalls sei es nicht so gewesen, dass er die Zustellplätze von vornherein in der Absicht aufgesucht habe, sich dort an den Briefen zu vergreifen. Die Richtigkeit dieser Einlassung kann dem Ruhestandsbeamten - auch nach dem Urteil des Sachverständigen - nicht widerlegt werden.
Der Ruhestandsbeamte war daher mangels Schuldfähigkeit mit der Kostenfolge aus §§ 113 ff. BDO freizusprechen.