Beschluss vom 11.05.2006 -
BVerwG 2 WD 25.05ECLI:DE:BVerwG:2006:110506B2WD25.05.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 11.05.2006 - 2 WD 25.05 - [ECLI:DE:BVerwG:2006:110506B2WD25.05.0]

Beschluss

BVerwG 2 WD 25.05

In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Widmaier
als Vorsitzenden,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Frentz und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Deiseroth,
am 11. Mai 2006 beschlossen:

  1. Auf die Berufung des früheren Soldaten wird das Urteil der 10. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 11. Oktober 2005 aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an die 9. Kammer des Truppendienstgerichts Nord in Hamburg zurückverwiesen.

Gründe

I

1 Der 58 Jahre alte frühere Soldat leistete von Oktober 1968 bis März 1970 den damals 18-monatigen Grundwehrdienst ab und absolvierte in der Folgezeit bis Ende September 1998 44 Wehrübungen von insgesamt 755 Tagen Dauer. Zuletzt wurde der am 3. September 1991 zum Oberstleutnant der Reserve beförderte frühere Soldat im Rahmen einer Wehrübung vom 3. August bis zum 30. September 1998 als Referent ... herangezogen.

2 In dem mit Verfügung des Amtschefs des Personalamtes vom 25. August 2004 rechtswirksam eingeleiteten gerichtlichen Disziplinarverfahren legte der Wehrdisziplinaranwalt mit seiner Anschuldigungsschrift vom 14. Februar 2005, zugestellt am 11. März 2005, dem früheren Soldaten folgendes Verhalten als Dienstvergehen zur Last:
„1. Im Jahr 1997 war der frühere Soldat Mitgesellschafter der Gesellschaft Bürgerlichen Rechts ‚I...’ in B. In dieser Eigenschaft legte er im Oktober 1997 eine angebliche Honorarrechnung vom 26.10.1997 eines Claus B. über 2.040,00 DM (1 043,04 €) seinem Mitgesellschafter Bernd H. zur Abrechnung vor, die er selbst erstellt hatte und die jeglicher Grundlage entbehrte. Der Betrag von 2.040 DM wurde Anfang Januar 1998 vom Konto der Gesellschaft ‚I...’ auf das angegebene Konto einer K.er Bank des Herrn Claus B. überwiesen, bei dem der frühere Soldat private Schulden hatte. Forderungen gegenüber der Gesellschaft ‚I...’ hat Herr B. niemals gehabt bzw. geltend gemacht.
2. In den Jahren 1996 bis 1998 leistete der frühere Soldat acht Wehrübungen über insgesamt 117 Wehrübungstage ab. Er beantragte für die jeweiligen Wehrübungszeiträume Leistungen für Selbständige zur Fortführung des Betriebes während des Wehrdienstes nach § 13a Unterhaltssicherungsgesetz (USG) in Höhe von 600,00 DM (306,78 €) pro Wehrübungstag. Der Betrag entsprach dem nach § 13a Abs. 2 USG seinerzeit höchsten erstattungsfähigen Betrag pro Wehrübungstag. Da der frühere Soldat jedoch vermeiden wollte, dass diese Leistungen an das Unternehmen oder seinen Mitgesellschafter H. ausgezahlt wurden, legte er seinen Anträgen je eine Bescheinigung auf dem Kopfbogen der ‚I...’ bei, die sowohl seine Unterschrift als auch die des Mitgesellschafters Höller trug. Die Unterschrift von Herrn H. war jedoch nicht per Hand geleistet worden, sondern zuvor durch einen so genannten Faksimilestempel aufgebracht worden. Ohne Kenntnis des Mitgesellschafters H. benutzte der frühere Soldat die bereits gestempelten Briefbögen, um insgesamt acht Bescheinigungen auszustellen.
Die ab Juni 1996 gefertigten ersten vier Bescheinigungen waren unter der Überschrift ‚Vertretung für Herrn Bernd Heumann’ nach folgendem Muster formuliert:
‚In der Zeit vom [Beginn der Wehrübung] bis [Ende der Wehrübung] werde ich die Tätigkeit für Herrn H. wahrnehmen. Herr H. wurde aufgrund des § 23 des Wehrpflichtgesetzes (WPflG) zur Ableistung einer Wehrübung einberufen. Für meine Vertretung erhalte ich täglich ein Entgelt in Höhe von DM 600,00 (sechshundert) für meine wissenschaftliche Tätigkeit; hier speziell für die Entwicklung [teilweise nähere Ausführungen] von Konzepten. Ich bitte höflichst um Überweisung auf das Konto 17113788 (BLZ 210 571) bei der Sparkasse Kiel.’
Die ab Dezember 1997 gefertigten weiteren vier Bescheinigungen hatten unter der Überschrift ‚Bescheinigung’ den nachstehenden Wortlaut:
‚Mein Mitgesellschafter, Herr H., wird in der Zeit von [Beginn der Wehrübung] bis [Ende der Wehrübung] eine Wehrübung [teilweise Angaben zur Dienststelle] ableisten. Während seiner Abwesenheit werden die Aufgaben von mir mit übernommen. Dies sind im Einzelnen: [es folgt eine Aufzählung von verschiedenen Tätigkeiten]. Für meine Tätigkeit erhalte ich ein Entgelt in Höhe von 600 DM pro Tag.’
Unter Vorlage dieser acht Bescheinigungen erhielt der frühere Soldat jeweils aufgrund Bewilligungsbescheides der Stadt K., Der Oberbürgermeister, Amt für Unterhaltssicherung, für die nachfolgend aufgezählten acht Wehrübungen antragsgemäß die bezeichneten Beträge überwiesen:
 auf Antrag vom 17.06.1996 mit Bescheinigung vom 18.06.1996 für die Wehrübung vom 29.07. bis 09.08.1996 durch Bescheid vom 11.07.1996 wurden 7.20 0 ,00 DM (3 681,30 €) überwiesen,
 auf Antrag vom 09.10.1996 mit Bescheinigung vom 09.10.1996 für die Wehrübung vom 28.10. bis 08.11.1996 durch Bescheid vom 21.10.1996 wurden 7.20 0 ,00 DM (3 681,30 €) überwiesen,
 auf Antrag vom 20.02.1997 mit Bescheinigung vom 20.02.1997 für die Wehrübung vom 27.06. bis 02.07.1997 durch Bescheid vom 24.04.1997 wurden 3.600 ,00 DM (1 840,65 €) überwiesen,
 auf Antrag vom 10.04.1997 mit Bescheinigung vom 10.04.1997 für die Wehrübung vom 03.07. bis 18.07.1997 durch Bescheid vom 24.04.1997 wurden 9.600 ,00 DM (4 908,04 €) überwiesen,
 auf Antrag vom 02.01.1998 mit Bescheinigung vom 18.12.1997 für die Wehrübung vom 19.01. bis 06.02.1998 durch Bescheid vom 07.01.1998 wurden 11.400 ,00 DM (5 828,73 €) überwiesen,
 auf Antrag vom 20.02.1998 mit Bescheinigung vom 19.02.1998 für die Wehrübung vom 20.04. bis 08.05.1998 durch Bescheid vom 02.03.1998 wurden 11.400 ,00 DM (5 828,73 €) überwiesen,
 auf Antrag vom 03.03.1998 mit Bescheinigung vom 03.03.1998 für die Wehrübung vom 02.03. bis 20.03.1998 durch Bescheid vom 12.03.1998 wurden 11.400 ,00 DM (5 828,73 €) überwiesen,
 auf Antrag vom 03.04.1998 mit Bescheinigung vom 03.04.1998 für die Wehrübung vom 17.06. bis 30.06.1998 durch Bescheid vom 21.04.1998 wurden 8.400 ,00 DM (4 292,85 €) überwiesen.
Bewilligungsgrund war in allen acht Fällen ‚Leistungen für Selbständige gemäß § 13a Unterhaltssicherungsgesetz’ (hier: Aufwendungen für eine Ersatzkraft).
Insgesamt wurde dem früheren Soldaten ein Betrag von 70.200,00 DM (35 892,69 €) überwiesen. Von diesem Geld behielt er 27.786,92 DM (14 207,23 €) für sich, die restlichen 42.413,08 DM verwendete er, um Verbindlichkeiten der ‚I...’ zu tilgen.“

3 Die 10. Kammer des Truppendienstgerichts Nord hat dem früheren Soldaten mit Urteil vom 11. Oktober 2005 den Dienstgrad eines Oberstleutnants der Reserve aberkannt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, der frühere Soldat habe durch sein Verhalten vorsätzlich die ihm als Reserveoffizier obliegende nachwirkende Pflicht verletzt, auch nach seinem Ausscheiden der Achtung und dem Vertrauen gerecht zu werden, die für eine Wiederverwendung in seinem Dienstgrad erforderlich sei (§ 17 Abs. 3 SG). Dieser Verstoß gelte gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. SG als Dienstvergehen, weil der frühere Soldat nach seinem Ausscheiden aus dem Wehrdienst durch unwürdiges Verhalten nicht der Achtung und dem Vertrauen gerecht geworden sei, die für seine Wiederverwendung als Vorgesetzter erforderlich seien. An diesem Urteil hat als ehrenamtlicher Richter aus der Dienstgradgruppe des früheren Soldaten der Major i. G. Bellini mitgewirkt, der beim Stab der Panzerbrigade 18 in Boostedt zum Zeitpunkt der Entscheidung im aktiven Wehrdienst gestanden hat.

4 Gegen das dem früheren Soldaten durch Einlegung in den zu seiner Wohnung gehörenden Briefkasten am 19. Oktober 2005 zugestellte Urteil hat der frühere Soldat durch seinen Verteidiger mit am 21. November 2005 eingegangenem Schriftsatz Berufung in vollem Umfang eingelegt. Zur Begründung wird ausgeführt, das angefochtene Urteil der Truppendienstkammer berücksichtige lediglich die bindenden tatsächlichen Feststellungen des sachgleichen rechtskräftigen Strafurteils des Amtsgerichts Bonn vom 4. August 2000 - 64 Ds 121/00 - sowie die Feststellungen des Amtsgerichts Kiel im Urteil vom 9. Juli 2002 - 41 Ds 572 Js 4817/00 -, jedoch in keiner Weise die „Ausgangssituation“ des früheren Soldaten, der unter ständigem Druck, unter Anfeindungen und Geldsorgen Wehrübungen abzuleisten gehabt habe. Sein Verhalten sei zwar als Dienstvergehen anzusehen. Allerdings sei kein unwürdiges Verhalten zu Tage getreten, das eine Wiederverwendung in seinem Dienstgrad gänzlich ausschließe. Mit einer Wiederverwendung in seinem Dienstgrad würde auch dem Ziel des Disziplinarrechts entsprochen, ein Korps von integren Reserveoffizieren und -unteroffizieren zu erhalten. Selbst wenn er, der frühere Soldat, sich durch sein Verhalten als unwürdig gezeigt haben sollte, sei das geringe Maß der kriminellen Energie zu berücksichtigen, die sich gerade auch durch die Ausgangslage und durch die vom Mitgesellschafter H. geschaffene Zwangssituation gezeigt habe.

5 Der Senat hat den Beteiligten mit Verfügung vom 22. Februar 2006 Gelegenheit gegeben, zu der Frage Stellung zu nehmen, ob die Truppendienstkammer gemäß § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO ordnungsgemäß besetzt war und welche verfahrensrechtlichen Folgerungen daraus gegebenenfalls zu ziehen sind. Von dieser Möglichkeit hat der Bundeswehrdisziplinaranwalt Gebrauch gemacht und vorgetragen, die 10. Kammer des Truppendienstgerichts Nord sei in der Hauptverhandlung am 11. Oktober 2005 fehlerhaft besetzt gewesen; an ihrem Urteil habe ein Richter mitgewirkt, der nicht gesetzlicher Richter im Sinne des Verfassungsgebotes des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewesen sei. Deshalb sei eine Entscheidung nach § 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO geboten.

II

6 Das vom früheren Soldaten eingelegte zulässige Rechtsmittel der Berufung (§ 115 Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 WDO) führt zur Zurückverweisung der Sache an eine (andere) Kammer desselben Truppendienstgerichts zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung, weil ein schwerer Mangel des Verfahrens vorliegt. Die Entscheidung ergeht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung (§ 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO) und in der Besetzung mit drei Richtern (§ 80 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 WDO).

7 Die Truppendienstkammer ist in ihrer Hauptverhandlung am 11. Oktober 2005 unrichtig besetzt gewesen. Nach § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO soll in Verfahren vor der Truppendienstkammer gegen frühere Soldaten wegen eines Verhaltens, das als Dienstvergehen gilt, ein ehrenamtlicher Richter Angehöriger der Reserve sein; er muss der Dienstgradgruppe des früheren Soldaten angehören. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist diese Besetzungsregelung trotz der im Gesetzeswortlaut gewählten Formulierung („soll“) nicht als bloße Ordnungsvorschrift zu verstehen, deren Verletzung grundsätzlich ohne Folgen für den Bestand der Entscheidung bliebe. In Anbetracht des Verfassungsgebots des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, ist sie vielmehr zwingenden Rechts; ihre Beachtung ist im Berufungsverfahren von Amts wegen zu prüfen (vgl. u.a. Beschluss vom 24. September 1991 - BVerwG 2 WD 17.91 - BVerwGE 93, 161 f. = NZWehrr 1992, 36 - zur sachgleichen Vorgängerregelung des § 69 Abs. 3 Satz 3 WDO a.F. m.w.N). Hieran hält der Senat fest. „Soll“-Vorschriften sind im öffentlichen Recht für die mit ihrer Durchführung betrauten öffentlichen Stellen rechtlich zwingend und verpflichten sie, grundsätzlich so zu verfahren, wie es im Gesetz bestimmt ist. Im Regelfall bedeutet das „Soll“ ein „Muss“. Im vorliegenden Regelungszusammenhang und nach dem Zweck der Vorschrift kommt eine Ausnahme von der in § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO normierten gesetzlichen Vorgabe nicht in Betracht. Aus der Regelung in § 75 Abs. 4 Satz 1 WDO ergibt sich, dass in den Fällen, in denen bei einer Truppendienstkammer ehrenamtliche Richter nach den Absätzen 2 und 3 des § 75 WDO „nicht zur Verfügung stehen“, Soldaten als ehrenamtliche Richter zu berufen „sind“, die bereits als ehrenamtliche Richter einer anderen Kammer des Truppendienstgerichts ausgelost sind; insoweit findet gemäß § 75 Abs. 4 Satz 2 WDO eine besondere Auslosung statt. Diese Regelung sieht mithin nach ihrem insoweit eindeutigen Wortlaut für den von ihr erfassten Fall des § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO, in dem ein Soldat der Reserve zur Mitwirkung als ehrenamtlicher Richter in der Truppendienstkammer nicht zur Verfügung steht, zwingend vor, dass ein Soldat der Reserve aus der Liste der ehrenamtlichen Richter einer anderen Truppendienstkammer zu berufen ist. Wenn das Gesetz selbst für diesen Fall der „Erschöpfung“ der „regulären“ Liste zwingend vorschreibt, dass ein Soldat der Reserve heranzuziehen ist, wäre völlig unverständlich, wenn dies in dem durch § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO geregelten „Normalfall“ anders sein sollte. Außerdem stünde eine Auslegung des § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO („soll“), wonach der/die Vorsitzende der Truppendienstkammer letztlich entscheiden könnte, ob er/sie einen Soldaten der Reserve zur Mitwirkung als ehrenamtlicher Richter heranzieht oder nicht, zu dem in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG normierten Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters in Widerspruch (vgl. dazu u.a. BVerfG, Beschlüsse vom 10. Juli 1990 - 1 BvR 984, 985/87 - BVerfGE 82, 286, <298 ff.> m.w.N. und vom 8. April 1997 - 1 PBvU 1/95 - BVerfGE 95, 322 <330>; Hänlein, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, 2002, Art. 101 Rn. 32 m.w.N.), wonach normativ so eindeutig und genau wie möglich bestimmt sein muss, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welche/r Richter/in zur Entscheidung des Einzelfalls berufen ist. Ein willkürlicher Zugriff auf die Richterbank, d.h. eine Zuständigkeitsbestimmung von Fall zu Fall im Gegensatz zu einer normativen, abstrakt-generellen Vorherbestimmung des Richters/der Richterin (vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1990 a.a.O.), muss so weit wie möglich ausgeschlossen sein (stRspr, BVerfG, Beschluss vom 8. April 1997 a.a.O.; BVerwG, Beschluss vom 11. August 1975 - BVerwG 2 WD 24.75 - BVerwGE 53, 64 <65> und Urteil vom 9. Februar 1983 - BVerwG 2 WD 19.82 - BVerwGE 76, 63). Dies muss auch bei der Auslegung des § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO beachtet werden. Daraus folgt, dass diese „Soll“-Vorschrift als zwingende Regelung zu interpretieren ist, die ein Auswahlermessen bei der Heranziehung der ehrenamtlichen Richter ausschließt.

8 Die Vorschrift des § 75 stellt in Abs. 3 Satz 3 WDO - im Gegensatz zu Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 und 2 - für die Bestimmung der Zugehörigkeit eines angeschuldigten früheren Soldaten zur Gruppe der Angehörigen der Reserve und damit auch derjenigen des betreffenden ehrenamtlichen Richters nicht auf den Zeitpunkt der Hauptverhandlung vor der Truppendienstkammer, sondern auf den Tatzeitpunkt ab. Denn als Tatbestandsvoraussetzung für die normierte Rechtsfolge, dass ein Angehöriger der Reserve als ehrenamtlicher Richter heranzuziehen ist, ist bestimmt, dass es in dem Verfahren um ein „Verhalten“ geht, „das als Dienstvergehen gilt“. Damit knüpft die Vorschrift an die Regelung in § 23 Abs. 2 SG an, die u.a. normiert, unter welchen Voraussetzungen das Verhalten eines Offiziers (§ 23 Abs. 2 Nr. 2 SG) nach seinem Ausscheiden „als Dienstvergehen gilt“. Die Besetzungsregelung des § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO bezieht sich mithin auf Verfahren, in denen es um das Verhalten eines Soldaten nach dessen „Ausscheiden aus dem Wehrdienst“ geht. Dies entspricht auch dem vom Gesetzgeber dem gerichtlichen Disziplinarverfahren zugewiesenen Zweck. Im gerichtlichen Disziplinarverfahren wegen eines von § 23 Abs. 2 Nr. 2 SG erfassten Verhaltens geht es darum, darüber zu entscheiden, ob der frühere Offizier/Unteroffizier durch das unwürdige Verhalten nicht der Achtung und dem Vertrauen gerecht geworden ist, die für seine Wiederverwendung als Vorgesetzter erforderlich sind; außerdem ist über die Notwendigkeit einer gerichtlichen Disziplinarmaßnahme im Hinblick auf die Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung eines ordnungsgemäßen Dienstbetriebes zu befinden (vgl. u.a. Urteile vom 17. Mai 1995 - BVerwG 2 WD 5.95 - BVerwGE 103, 233 = Buchholz 236.1 § 12 SG Nr. 1 = NZWehrr 1996, 165 [insoweit nicht veröffentlicht] und vom 22. März 2006 - BVerwG 2 WD 7.05 -). Die durch das Gesetz zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts vom 21. August 1972 erfolgte Einfügung des Satzes 3 in die entsprechende Vorgängerregelung des § 69 Abs. 3 WDO a.F. beruhte - wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt - auf der Auffassung des Gesetzgebers, dass ein Angehöriger der Reserve als „Kameradenbeisitzer“ im Verfahren gegen einen früheren Soldaten am ehesten die spezifisch über das Dienstverhältnis hinauswirkenden Dienstpflichten beurteilen kann (vgl. dazu u.a. Dau, WDO, 3. Aufl. 1998, § 69 Rn. 12 und 4. Aufl. 2002, § 75 Rn. 12).

9 Im vorliegenden Fall fand das von der Anschuldigungsschrift vom 14. Februar 2005 erfasste Verhalten ganz überwiegend nicht während des Wehrdienstes statt, sondern „nach dem Ausscheiden aus dem Wehrdienst“. In Anschuldigungspunkt 1 wird dem früheren Soldaten eine im Oktober 1997 und damit außerhalb des Wehrdienstverhältnisses begangene Handlung gegenüber seinem Mitgesellschafter Behrens und der BGB-Gesellschaft „IFFB“ vorgeworfen. Die von Anschuldigungspunkt 2 erfassten Anträge des früheren Soldaten auf Leistungen nach § 13a USG vom 17. Juni 1996, 9. Oktober 1996, 20. Februar 1997, 10. April 1997, 2. Januar 1998, 20. Februar 1998 und vom 3. April 1998 sollen ebenfalls nach dem im Jahre 1970 erfolgten Ausscheiden des Antragstellers aus der Bundeswehr und außerhalb der Zeiträume erfolgt sein, in denen der frühere Soldat danach Wehrübungen ableistete. Lediglich das ihm unter Anschuldigungspunkt 2 in der siebten Strichaufzählung zur Last gelegte Fehlverhalten im Zusammenhang mit seinem Antrag vom 3. März 1998 soll während eines Wehrübungszeitraums (vom 2. März bis 20. März 1998) erfolgt sein.

10 Aus dem Wortlaut der Regelung des § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO lässt sich nicht entnehmen, dass sie nur zur Anwendung kommen soll, wenn sich die Truppendienstkammer in der Hauptverhandlung ausschließlich mit einem Verhalten des früheren Soldaten auseinandersetzen muss, „das als Dienstvergehen gilt“. Vielmehr ist bei einer Anschuldigungsschrift, in der sowohl Dienstpflichtverletzungen während des Wehrdienstverhältnisses als auch Verstöße gegen über das Dienstverhältnis hinauswirkende Pflichten zur Last gelegt werden, darauf abzustellen, worin der Schwerpunkt der Tatvorwürfe zu sehen ist (so auch Lingens, in: NZWehrr 1988, 59 <61>). Eine Aufspaltung der Verfahren würde sowohl dem Gebot der einheitlichen Ahndung mehrerer Pflichtverletzungen (§ 18 Abs. 2 WDO) als auch dem gesetzlichen Beschleunigungsgebot für Disziplinarsachen (§ 17 Abs. 1 WDO) widersprechen.

11 Im vorliegenden Fall liegt der Schwerpunkt der Tatvorwürfe in den angeschuldigten Verstößen des früheren Soldaten gegen die nachwirkende Dienstpflicht des § 17 Abs. 3 i.V.m. § 23 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. SG. Dies ergibt sich schon aus der relativ erheblich größeren Zahl der angeschuldigten Handlungen, die außerhalb von Wehrübungszeiträumen erfolgt sein sollen. Die Tathandlung im Zusammenhang mit dem Antrag vom 3. März 1998 entspricht zudem nach der Anschuldigungsschrift nach der Art ihrer Begehung den anderen von Anschuldigungspunkt 2 erfassten sieben Handlungen, die außerhalb der Wehrübungszeiträume begangen worden sein sollen.

12 Durch die am 11. Oktober 2005 erfolgte Mitwirkung des - der Dienstgradgruppe des früheren Soldaten angehörenden - Soldaten Major i.G. Bellini, der im Stab der Panzerbrigade 18 in Boostedt im aktiven Wehrdienst gestanden hat, als ehrenamtlicher Richter in der Hauptverhandlung gegen den wegen einer Verletzung nachwirkender Dienstpflichten angeschuldigten früheren Soldaten war daher die Truppendienstkammer nicht in Übereinstimmung mit § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO und mithin unrichtig besetzt.

13 Da einem Soldaten nach den Regelungen der Wehrdisziplinarordnung das Recht zusteht, dass seine Sache in zwei ordnungsgemäß besetzten Instanzen verhandelt und entschieden wird, stellt die Verletzung der Besetzungsregelung des § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO einen schweren Verfahrensmangel dar (stRspr, vgl. u.a. Beschluss vom 24. September 1991 - BVerwG 2 WD 17.91 - a.a.O. zur Vorgängerregelung § 69 Abs. 3 Satz 3 WDO a.F.).

14 Zwar steht die Entscheidung darüber, ob der Senat bei Vorliegen eines schweren Verfahrensmangels ungeachtet dessen in der Sache selbst entscheidet oder ob er das Urteil der Truppendienstkammer aufhebt und die Sache an eine andere Kammer desselben Truppendienstgerichts oder eines anderen Truppendienstgerichts zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung zurückverweist, in seinem Ermessen (§ 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO).

15 Jedenfalls dann, wenn der betroffene Soldat in vollem Umfange Berufung eingelegt hat, hat der Senat jedoch in ständiger Rechtsprechung das von der Truppendienstkammer in unrichtiger Besetzung gefällte Urteil regelmäßig aufgehoben und die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kammer des ersten Rechtszuges zurückverwiesen, und zwar unabhängig davon, ob die unrichtige Besetzung vom Berufungsführer in der Berufungsbegründung gerügt worden ist oder nicht (vgl. u.a. Urteil vom 9. Februar 1983 - BVerwG 2 WD 19.82 - a.a.O., S. 64 m.w.N.).

16 Dafür maßgebend ist, dass dem betroffenen Soldaten das in der Wehrdisziplinarordnung für das gerichtliche Disziplinarverfahren vorgesehene Recht erhalten bleiben soll, seinen Fall in zwei ordnungsgemäß besetzten Instanzen verhandelt und entschieden zu sehen. Denn mit der Einlegung einer vollen Berufung hat der jeweilige Berufungsführer zum Ausdruck gebracht, dass er die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die rechtliche Würdigung der Truppendienstkammer und die Grundlagen der Zumessungsentscheidungen für fehlerhaft hält. In diesen Fällen ist die Möglichkeit jedenfalls nicht auszuschließen, dass die unrichtige Besetzung der Truppendienstkammer zu den - nach Meinung des Berufungsführers - unrichtigen Entscheidungsgrundlagen geführt hat. In solchen Fällen beurteilt deshalb der Senat regelmäßig das Interesse des Berufungsführers an zwei ordnungsgemäß besetzten Tatsacheninstanzen als vorrangig gegenüber dem Beschleunigungsgebot des § 17 Abs. 1 WDO (vgl. u.a. Urteil vom 9. Februar 1983 - BVerwG 2 WD 19.82 - a.a.O., S. 65; Beschluss vom 24. September 1991 - BVerwG 2 WD 17.91 - a.a.O., S. 162). Daran hält der Senat - aus Gründen der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) und der Rechtssicherheit (Art. 20 Abs. 1 und 3 GG) - auch im vorliegenden Falle fest, auch wenn der frühere Soldat den Verstoß gegen § 75 Abs. 3 Satz 3 WDO nicht explizit gerügt und von der ihm durch die gerichtliche Verfügung eingeräumten Möglichkeit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht hat.

17 Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens und die Erstattung der dem Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen ist der Endentscheidung vorbehalten.