Beschluss vom 12.06.2017 -
BVerwG 8 B 18.16ECLI:DE:BVerwG:2017:120617B8B18.16.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 12.06.2017 - 8 B 18.16 - [ECLI:DE:BVerwG:2017:120617B8B18.16.0]

Beschluss

BVerwG 8 B 18.16

  • VG Dresden - 23.09.2015 - AZ: VG 6 K 634/13

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 12. Juni 2017
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Dr. Christ,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rublack und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 23. September 2015 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 30 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Die Klägerin begehrt als Rechtsnachfolgerin von S. das Wiederaufgreifen des Verfahrens zur Rückübertragung bzw. Erlösauskehr für Vermögenswerte eines ehemaligen landwirtschaftlichen Betriebes in der Lü. Straße ... in B. Die Klage gegen die Ablehnung ihres Restitutionsantrages durch Bescheid vom 25. November 1996 wies das Verwaltungsgericht L. durch Urteil vom 16. November 1998 mit der Begründung ab, die Enteignung von Frau S. durch Beschluss der Deutschen Wirtschaftskommission vom 21. September 1948 sei auf besatzungshoheitlicher Grundlage erfolgt. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision verwarf das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 9. April 1999 (7 B 18.99 ). Der Klägerin wurde daraufhin eine Ausgleichsleistung nach dem Ausgleichsleistungsgesetz zuerkannt.

2 Mit Schreiben vom 12. Juli 2012 beantragte die Klägerin unter Vorlage mehrerer Unterlagen, die nach ihrer Auffassung eine erstmalige Sequestrierung des landwirtschaftlichen Betriebes erst im Dezember 1948 und damit nach Inkrafttreten des Enteignungsverbots des SMAD-Befehls Nr. 64 belegen, das Wiederaufgreifen des Verfahrens. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 12. April 2013 ab. Die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 23. September 2015 abgewiesen. Die von der Klägerin vorgelegten neuen Dokumente hätten keine für die Klägerin günstigere Entscheidung herbeigeführt. In der Gesamtschau aller vorliegenden Dokumente sei nach wie vor von einer Sequestrierung bereits im April 1947 auszugehen. Einzelne Schreiben der Gemeinde B., die auf eine Sequestrierung zum 1. Dezember 1948 Bezug nähmen, seien dahin zu verstehen, dass der streitgegenständliche Vermögenswert zu diesem Zeitpunkt in eine geordnete Verwaltung der Gemeinde übernommen worden sei. Das Verwaltungsgericht hat die Revision nicht zugelassen.

II

3 Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

4 1. Der Rechtssache kommt die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) nicht zu. Die von ihr sinngemäß formulierte Rechtsfrage,
ob zur Feststellung einer Sequestrierung vor Inkrafttreten des SMAD-Befehls Nr. 64 vom 18. April 1948 faktische oder rechtliche Kriterien an eine vorübergehende Entziehung der Verfügungsbefugnis anzulegen sind,
wäre in einem Revisionsverfahren nicht klärungsfähig. Auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts wäre von einer Sequestration vor dem 18. April 1948 sowohl in rechtlicher als auch in faktischer Hinsicht auszugehen. Das Urteil stellt ausdrücklich fest, dass bereits mit Schreiben des Kreisrates des Landkreises L. vom 12. April 1947 eine - von ihm als rechtlich beachtlich gewertete - Sequestration des streitgegenständlichen Vermögenswertes unter der Falschbezeichnung "A.str. ..." erfolgte, die damals von allen Beteiligten einschließlich der Rechtsvorgängerin der Klägerin als Sequestrierung des Vermögenswertes in der "Lü.str. ..." verstanden worden ist (UA S. 7). Weiterhin geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass der Vermögenswert mit dieser Maßnahme auch tatsächlich sequestriert war (UA S. 8), weil die Rechtsvorgängerin der Klägerin aus ihrer Sicht beachtlichen Verfügungsbeschränkungen unterlag. Dies belegten mehrere im Zeitraum Dezember 1947 bis zum 6. April 1948 verfasste Schreiben Dritter, u.a. des Wohnungsamtes und des Gemeinderates der Gemeinde B. Die Miete sei durch den Ortsbaumeister festgesetzt worden und habe nach Anordnung des Wohnungsamtes auf einem Konto für sequestriertes Vermögen hinterlegt werden sollen. Frau S. sei die Nutzung des Gartenlandes untersagt worden. Den Einsprüchen der damaligen Eigentümerin S. sei zu entnehmen, dass diese die Sequestrierung als beachtliche Einschränkung empfunden habe. Sie habe sich u.a. mit anwaltlichen Schreiben bereits ab dem 23. April 1947 gegen die Sequestrierung gewehrt. Dieser tatrichterlichen Feststellung einer Sequestrierung auch nach faktischen Kriterien steht nicht entgegen, dass nach einer weiteren Formulierung in dem Urteil "im Einzelnen" nicht habe festgestellt werden können, "in welcher Weise sich die Sequestrierung in der Rechtswirklichkeit konkret ausgewirkt habe" (UA S. 8). Denn mit dieser Erwägung rückt das Verwaltungsgericht nicht von den zuvor getroffenen Feststellungen tatsächlicher Auswirkungen ab, sondern bringt lediglich zum Ausdruck, dass sich die Umsetzung der Sequestration nicht durch weitere Feststellungen konkretisieren lasse.

5 Die von der Beschwerdeführerin aufgeworfene Rechtsfrage wäre darüber hinaus in einem Revisionsverfahren auch nicht klärungsbedürftig, sondern auf Grundlage der bereits vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Verständnis des Enteignungsbegriffs des Vermögensrechts ohne Weiteres dahin zu beantworten, dass das Sequestrierungs- und Enteignungsverbot in Nummer 5 des SMAD-Befehls Nr. 64 schon bei einer faktischen Sequestration vor Inkrafttreten dieses Befehls nicht eingriff. Eine Sequestration beschränkte die Verfügungsbefugnis des Eigentümers über den sequestrierten Vermögenswert und bereitete eine etwaige künftige Enteignung vor. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Bestimmung des Zeitpunktes einer Eigentumsentziehung im Vermögensrecht maßgeblich, ab wann die Entziehung faktisch in der Rechtswirklichkeit erstmals greifbar zum Ausdruck kam (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Dezember 1996 - 7 C 9.96 - ZIP 1997, 254 f.; Urteil vom 15. Juni 2016 - 8 C 4.15 - BVerwGE 155, 248 <Rn. 29>). Der vermögensrechtliche Enteignungsbegriff knüpft an den Geltungsanspruch der jeweiligen staatlichen Macht- und Herrschaftsordnung an und erfasst daher den faktischen Entzug der Eigentümerstellung an Vermögenswerten (BVerwG, Urteil vom 6. Dezember 1996 - 7 C 9.96 - ZIP 1997, 254). Soweit es rechtlich auf den Zeitpunkt einer Sequestration durch die sowjetische Besatzungsmacht ankommt, kann nichts anderes gelten als für die Eigentumsentziehung selbst.

6 2. Die Revision ist auch nicht wegen der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Abweichung des angegriffenen Urteils von einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zuzulassen. Es weicht nicht von dem in der Beschwerdebegründung bezeichneten, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Dezember 2006 - 8 C 25.05 - (Buchholz 428 § 1 Abs. 8 VermG Nr. 34 Rn. 27) tragenden Rechtssatz ab, dass eine von deutschen Stellen während der Besatzungszeit durchgeführte Enteignung der sowjetischen Besatzungsmacht nicht zuzurechnen und daher nicht besatzungshoheitlich im Sinne von § 1 Abs. 8 VermG ist, wenn sie gegen das Verbot der Sequestrierung von Eigentum aus Nummer 5 des SMAD-Befehls Nr. 64 nach Inkrafttreten dieses Befehls am 18. April 1948 verstieß. Der von der Beschwerdeführerin bezeichnete, hiervon abweichende abstrakte Rechtssatz, auch bei einer Enteignung nach dem 18. April 1948 im Geltungsbereich des SMAD-Befehls Nr. 64 könne diese besatzungshoheitlich sein, selbst wenn eine Sequestrierung vor diesem Datum nicht zu beweisen sei, lässt sich dem Urteil des Verwaltungsgerichts nicht entnehmen. Deshalb weicht es auch nicht von dem in der Beschwerdebegründung angesprochenen Rechtssatz im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. September 2013 - 8 C 4.12 - (Buchholz 428 § 1 Abs. 8 VermG Nr. 48 Rn. 41) ab, dass die Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen des Restitutionsausschlussgrundes gemäß § 1 Abs. 8 Buchst. a VermG nach allgemeinen Beweislastregeln die Behörde trifft und das Verwaltungsgericht gegebenenfalls feststellen muss, ob eine Beschlagnahme oder Sequestration vor dem 9. Februar 1949 erfolgte. Das Verwaltungsgericht hat - wie oben dargelegt - vielmehr ausdrücklich festgestellt, dass der streitgegenständliche Vermögenswert bereits im April 1947 sequestriert wurde (UA S. 6, 8). Es hat den Beweis einer Sequestrierung vor dem 18. April 1948 nicht, wie die Beschwerde meint, für entbehrlich gehalten, sondern einer Gesamtschau der vorliegenden Dokumente entnommen, dass eine Sequestrierung vor dem 18. April 1948 tatsächlich stattgefunden hatte.

7 3. Die Revision ist auch nicht wegen eines von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

8 Die Beschwerde macht geltend, das Verwaltungsgericht habe den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 VwGO verletzt, indem es die ihm vorliegenden Unterlagen selektiv und einseitig zu Lasten der Klägerin bewertet habe. Dieser Einwand greift nicht durch.

9 Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Dabei muss es sich seine Überzeugung auf der Grundlage des vollständigen Prozessstoffes bilden und darf nicht einzelne Umstände und Elemente, sofern sie für die zu treffende Entscheidung von rechtlicher Relevanz sind, vollkommen außer Acht lassen. Gegen das Verbot einer solchen Selektion von Prozessstoff verstößt ein Gericht, wenn es offenbar gewordene entscheidungserhebliche Umstände oder Erkenntnisquellen gar nicht oder nur teilweise heranzieht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Mai 2013 - 8 B 70.12 - ZOV 2013, 131 Rn. 9).

10 Das Verwaltungsgericht hat keine aus den vorliegenden Unterlagen hervorgehenden Umstände ausgeblendet, die dagegen sprechen könnten, dass der streitgegenständliche Vermögenswert schon vor dem 18. April 1948 sequestriert worden war. Es hat auch die von der Beschwerde angeführten, von der Klägerin im Verfahren wegen des Wiederaufgreifens neu vorgelegten Schreiben der Gemeinde B., in denen von einer Sequestrierung ab dem 1. Dezember 1948 die Rede ist, in seine Bewertung einbezogen. Aus diesen Unterlagen hat es jedoch lediglich hergeleitet, dass die Gemeinde das darin benannte Grundstück zum 1. Dezember 1948 in ihre Verwaltung übernommen und dies nach außen als Sequestrierung bewertet habe. Dieser damaligen Bewertung der Gemeinde hat sich das Verwaltungsgericht in der Gesamtschau der ihm vorliegenden Erkenntnisse nicht angeschlossen und seine Erwägungen hierzu unter Bezugnahme auf mehrere Unterlagen eingehend begründet.

11 Weiterhin kritisiert die Beschwerde die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts, weil es ungeachtet der genannten Schreiben der Gemeinde, in denen eine Sequestrierung auf den 1. Dezember 1948 datiert wurde, und nicht konkret feststellbarer Auswirkungen in der Rechtswirklichkeit eine vor diesem Zeitpunkt liegende Sequestrierung angenommen habe.

12 Auch damit ist ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz nicht dargetan. (Vermeintliche) Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts sind regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Sie können daher grundsätzlich keinen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO begründen. Eine Ausnahme kommt nur bei Mängeln in Betracht, die alleine die Tatsachenfeststellung und nicht auch die Subsumtion unter eine materiell-rechtliche Norm betreffen. Zu diesen Mängeln gehören aktenwidrige Feststellungen oder denkfehlerhafte, aus Gründen der Logik schlechterdings unmögliche Schlussfolgerungen von Indizien auf Haupttatsachen (stRspr, z.B. BVerwG, Beschluss vom 6. März 2008 - 7 B 13.08 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 54 S. 17). Solche Mängel hat die Beschwerdeführerin nicht vorgetragen. Das Verwaltungsgericht hat eine Vielzahl von Unterlagen aus den Akten - unter anderem Schreiben der Rechtsvorgängerin der Klägerin sowie der Gemeinde B. selbst - benannt, die von einer Sequestrierung vor dem 18. April 1948 ausgingen. Es verstößt nicht dadurch gegen Gesetze der Logik oder Denkgesetze, dass es den beiden im Verfahren über eine Wiederaufnahme eingereichten Dokumenten der Gemeinde lediglich eine Übernahme des streitgegenständlichen Vermögenswerts in die gemeindliche Verwaltung entnommen hat. Für diese Bewertung sprach auch das im Urteil angeführte, bereits unter dem 6. April 1948 verfasste Schreiben des Wohnungsamtes der Gemeinde, in dem eine künftige Übernahme des seit seiner Sequestrierung von der Eigentümerin vernachlässigten Grundstücks in die Verwaltung der Gemeinde für erforderlich gehalten und berichtet wurde, die Eigentümerin nehme weiterhin die Mieten ein (UA S. 8). Dass die Gemeinde in den beiden von der Klägerin nachgereichten Schreiben die Übernahme von Kosten für Arbeiten auf dem Grundstück sowie von Steuerschulden abgelehnt hatte, die vor dem 1. Dezember 1948 angefallen waren, musste das Verwaltungsgericht nicht denklogisch dazu veranlassen, eine erstmalige Sequestration zu diesem Zeitpunkt anzunehmen. Denn die Gemeinde zog ausweislich mehrerer Schreiben die Mieteinnahmen für das streitgegenständliche Grundstück erst ab dem 1. Dezember 1948 ein (vgl. UA S. 6). Somit wären zuvor angefallene Kosten nicht durch ihre Mieteinnahmen gedeckt gewesen.

13 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.