Beschluss vom 14.05.2007 -
BVerwG 1 B 103.06ECLI:DE:BVerwG:2007:140507B1B103.06.0

Beschluss

BVerwG 1 B 103.06

  • Bayerischer VGH München - 06.03.2006 - AZ: VGH 9 B 04.30077

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 14. Mai 2007
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann und Prof. Dr. Dörig
beschlossen:

  1. Das Verfahren betreffend die Beschwerde der Beklagten wird eingestellt.
  2. Auf die Beschwerde des Beteiligten wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 6. März 2006 aufgehoben.
  3. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  4. Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  5. Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Beklagte die Hälfte. Die Entscheidung über die restlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe

1 1. Die Beklagte hat ihre Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision mit Schriftsatz vom 19. April 2007 zurückgenommen. Das Beschwerdeverfahren ist deshalb in entsprechender Anwendung von § 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

2 2. Hingegen hat die Beschwerde des beteiligten Bundesbeauftragten mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Er rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seiner Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Gefahr einer konventionswidrigen Behandlung des Klägers in Aserbaidschan und zur Frage einer zumutbaren Fluchtmöglichkeit hiervor in Berg-Karabach nicht in der gebotenen Weise nachgekommen ist. Darin liegt zugleich eine Verletzung des Anspruchs des Bundesbeauftragten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 138 Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG). Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

3 Der Bundesbeauftragte beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht sich in den Entscheidungsgründen nicht mit der von ihm im Berufungsverfahren vorgetragenen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte (hier: OVG Lüneburg und OVG Weimar) auseinander gesetzt hat, dass armenische Volkszugehörige in Aserbaidschan keine konventionswidrige Gefährdung zu befürchten hätten (Beschwerdebegründung S. 6, III.). Der Bundesbeauftragte hat sich in seinem Schriftsatz vom 7. Januar 2004 und in der hierauf Bezug nehmenden Berufungsbegründung ausdrücklich auf Entscheidungen der genannten Oberverwaltungsgerichte bezogen, diese im Einzelnen nach Aktenzeichen und Entscheidungsdatum bezeichnet und auf deren abweichende Einschätzung zur Gefährdung armenischer Volkszugehöriger in Aserbaidschan hingewiesen. So führe das OVG Lüneburg aus, dass armenische Volkszugehörige in Aserbaidschan heute der Gefahr von Verfolgung nicht unterliegen. Gleiches gilt für die Rüge des Bundesbeauftragten, auf abweichende Rechtsprechung zur Frage einer zumutbar erreichbaren Fluchtalternative in Berg-Karabach (hier: OVG Lüneburg, VGH Kassel, OVG Schleswig und OVG Weimar) hingewiesen zu haben, ohne dass sich das Berufungsgericht hiermit auseinander gesetzt hat. Die Tatsache, dass das Berufungsgericht auf das Vorbringen des Bundesbeauftragten in seinem Schriftsatz vom 7. Januar 2004 in den Urteilsgründen nicht eingegangen ist und sich auch sonst nicht mit der abweichenden tatsächlichen und rechtlichen Würdigung der anderen Oberverwaltungsgerichte befasst hat, lässt angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles nur den Schluss zu, dass es dieses Vorbringen nicht in Erwägung gezogen hat. Das verletzt den Anspruch des Bundesbeauftragten auf Gewährung rechtlichen Gehörs; zugleich liegt darin ein formeller Begründungsmangel im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO.

4 Zwar ist die nach der Rechtsprechung des Senats gebotene Auseinandersetzung mit der abweichenden Würdigung verallgemeinerungsfähiger Tatsachen im Asylrechtsstreit durch andere Oberverwaltungsgerichte grundsätzlich Teil der dem materiellen Recht zuzuordnenden Sachverhalts- und Beweiswürdigung, so dass eine fehlende Auseinandersetzung mit abweichender obergerichtlicher Rechtsprechung als solche in aller Regel nicht als Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden kann (stRspr; vgl. Beschlüsse vom 1. März 2006 - BVerwG 1 B 85.05 - juris und - BVerwG 1 B 86.05 -). Etwas anderes muss jedoch dann gelten, wenn sich ein Beteiligter - wie hier - einzelne tatrichterliche Feststellungen eines Oberverwaltungsgerichts als Parteivortrag zu Eigen macht und es sich dabei um ein zentrales und entscheidungserhebliches Vorbringen handelt. Geht das Berufungsgericht hierauf in den Urteilsgründen nicht ein und lässt sich auch sonst aus dem gesamten Begründungszusammenhang nicht erkennen, dass und in welcher Weise es diesen Vortrag zur Kenntnis genommen und erwogen hat, liegt in der unterlassenen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung eines anderen Oberverwaltungsgerichts ausnahmsweise auch ein rügefähiger Verfahrensmangel (vgl. in diesem Sinne schon Beschluss vom 21. Mai 2003 - BVerwG 1 B 298.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 270).

5 Wie die Beschwerde zutreffend darlegt, kann die Entscheidung auf dem gerügten Verfahrensmangel auch beruhen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Auseinandersetzung mit den Ausführungen der anderen Oberverwaltungsgerichte zu einer anderen Entscheidung betreffend die beiden vom Bundesbeauftragten angesprochenen Fragen gelangt wäre.

6 Auf die vom Bundesbeauftragten erhobenen Grundsatz- und Divergenzrügen kommt es danach nicht mehr an.

7 Bei seiner erneuten Entscheidung im Rahmen des zurückverwiesenen Verfahrens wird das Berufungsgericht zu berücksichtigen haben, dass bei der Prüfung einer internen Schutzmöglichkeit für den Kläger in Aserbaidschan jetzt Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG zu beachten ist, nachdem die Umsetzungsfrist für die Richtlinie abgelaufen ist (vgl. Art. 38 Abs. 1).

8 3. Die Kostenentscheidung zu Lasten der Beklagten folgt aus § 155 Abs. 2 VwGO, da sie ihre Beschwerde zurückgenommen hat. Im Übrigen folgt die Entscheidung über die restlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache. Gerichtskosten werden gemäß § 83b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Satz 1 RVG.