Beschluss vom 16.01.2006 -
BVerwG 8 B 81.05ECLI:DE:BVerwG:2006:160106B8B81.05.0

Beschluss

BVerwG 8 B 81.05

  • VG Frankfurt/Oder - 08.02.2005 - AZ: VG 3 K 619/99

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. Januar 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht G ö d e l und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a g e n k o p f und P o s t i e r
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 1. März 2005 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 157 590 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde ist begründet. Zwar weist die Rechtssache nicht die ihr beigegebene grundsätzliche Bedeutung auf, um deshalb gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Revision zuzulassen (1.). Aber es liegt der geltend gemachte Verfahrensfehler vor, auf dem das angefochtene Urteil beruht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO <2.>).

2 1. Die Klägerin sieht als klärungsbedürftig die Frage an, ob bei einer Inanspruchnahme eines überschuldeten Grundstücks nach dem Aufbaugesetz auch eine Vermutung dahin besteht, dass die Überschuldung das bestimmende oder wesentlich mitbestimmende Motiv im Sinne von § 1 Abs. 2 VermG für die Enteignung war. Diese Frage hat das Bundesverwaltungsgericht bisher offen gelassen (vgl. Beschluss vom 13. August 2003 - BVerwG 7 B 24.03 - juris, unter Hinweis auf das Urteil vom 30. Mai 1996 - BVerwG 7 C 49.95 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 79). Einer Antwort bedarf es auch hier nicht; denn das Verwaltungsgericht hat keine Vermutung angenommen, sondern sich die Überzeugung verschafft, dass Grund für die Inanspruchnahme die Überschuldung des Grundstücks gewesen war (UA S. 13). Allerdings hat der Vorgang der Überzeugungsbildung an dem Fehler gelitten, dass gesetzliche Beweisregeln missachtet wurden. Darin liegt der mit der Beschwerde ebenfalls geltend gemachte Verfahrensfehler.

3 2. Die für die Rechtsfindung notwendige, auf Folgerungen abzielende gedankliche Arbeit setzt eine Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen voraus und erfordert deren Würdigung. Dabei verlangt die richterliche Tätigkeit für die urteilsmäßige Anwendung der abstrakten Rechtsfolge des materiellen Rechts auf den konkreten Sachverhalt, dass - falls es auf Tatsachen und nicht auf eine widerlegliche Vermutung ankommt - nur solche Tatsachen für die Subsumtion herangezogen werden, die mit jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Gewissheit bestehen. Diese Überzeugungsgewissheit hat sich das Gericht grundsätzlich ohne Bindung an Beweisregeln zu verschaffen. Eine Sachverhaltsfeststellung, bei der das Gericht meint, durch eine unzulässige Beweisregel gebunden zu sein, verstößt gegen das Gebot freier Beweiswürdigung (Urteil vom 31. Januar 1989 - BVerwG 9 C 54.88 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 213 S. 56 <57>). Eine derartige Verletzung von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist dem Verwaltungsgericht unterlaufen.

4 Das Verwaltungsgericht ist der Ansicht, dass der Verfügungsberechtigte für die Tatsachen beweispflichtig ist, die gegen eine Inanspruchnahme aus Gründen eingetretener Überschuldung im Sinne von § 1 Abs. 2 VermG sprechen (UA S. 14). Dabei versteht das Verwaltungsgericht unter "Beweispflicht" die Beweisführungspflicht, nach welcher die Prozesspartei die ihr günstigen Beweismittel selbst zu benennen hat. Das Verwaltungsgericht hält der Klägerin vor, ihre "Vermutungen und Behauptungen zur Motivlage der DDR-Behörden" nicht belegt zu haben. Das gehe zu ihren Lasten. Diese Ansicht trifft jedoch nicht zu.

5 Die Verwaltungsgerichte müssen den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen ermitteln; sie haben die Beteiligten dabei heranzuziehen, sind aber an deren Vorbringen und Beweisanträge nicht gebunden (§ 86 Abs. 1 VwGO). Sind alle in Betracht kommenden Aufklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft, ohne dass bestimmte entscheidungserhebliche Tatsachen zur Überzeugung des Gerichts feststehen, so geht die Nichterweislichkeit der Tatsachen zu Lasten dessen, der daraus für sich günstige Rechtsfolgen herleitet, sofern nicht das materielle Recht eine andere Verteilung der Beweislast vorsieht (stRspr; vgl. Urteil vom 20. April 1994 - BVerwG 11 C 60.92 - Buchholz 442.16 § 15 StVZO Nr. 4). Diese Regel gilt grundsätzlich auch für vermögensrechtliche Ansprüche, wie das Bundesverwaltungsgericht mit Blick auf § 1 VermG entschieden hat (Beschluss vom 1. November 1993 - BVerwG 7 B 190.93 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 11; Urteil vom 24. März 1994 - BVerwG 7 C 11.93 - BVerwGE 95, 289 <294>; Beschluss vom 16. Oktober 1995 - BVerwG 7 B 163.95 - Buchholz 428 § 4 VermG Nr. 22). Hier indes hat das Verwaltungsgericht bei der Bildung seiner Überzeugungsgewissheit über die Gründe für die Inanspruchnahme des streitbefangenen Grundstücks die Gesichtspunkte bewusst ausgeblendet, die von der Klägerin gegen eine Überschuldung als wesentliche Ursache für die Enteignung in den Prozess eingeführt worden waren. Das Gericht hat damit seinen Überzeugungsbildungsprozess zu Unrecht verkürzt.

6 Dieser Fehler ist dem Tatsachenbereich zuzuordnen und folglich im Rahmen von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO beachtlich. Er lässt sich von der rechtlichen Subsumtion und damit von der konkreten Anwendung des materiellen Rechts abgrenzen. Wie die tatrichterliche Abwägung des Prozessstoffes bei Einbeziehung aller von den Beteiligten in Betracht gezogenen Gesichtspunkte ausgefallen wäre, ist offen und hängt von der inneren Überzeugungskraft des jeweiligen Gesichtspunktes ab.

7 Da hiernach auch eine Beweisführung als möglich erscheint, deren Ergebnis nicht eindeutig ist, weil sich die Motivlage für die Enteignung nicht zu einer bestimmten richterlichen Gewissheit verdichten kann, ist auch eine gerichtliche Entscheidung zu Lasten der Beigeladenen denkbar. Insofern beruht das angefochtene Urteil auf dem dargestellten Fehler.

8 Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit der Aufhebung der Entscheidung und der Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht Gebrauch (§ 133 Abs. 6 VwGO).

9 Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 GKG.