Verfahrensinformation

Der Kläger, ein seit mehr als 25 Jahren in Deutschland lebender Franzose, möchte deutscher Staatsbürger werden. Nach der hier maßgeblichen, bis Ende 1999 geltenden Fassung des Ausländergesetzes steht einem Ausländer, der seit fünfzehn Jahren rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland lebte, grundsätzlich ein Anspruch auf Einbürgerung zu, sofern kein gesetzlicher Versagungsgrund eingreift. Das beklagte Land lehnte hier die Einbürgerung des Klägers ab, weil er im Oktober 1989 wegen Raubes und weiterer Straftaten zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt worden war. Ob damit ein gesetzlich zwingender Versagungsgrund eingreift oder die Versagung lediglich im Ermessen der zuständigen Behörde (vgl. § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG) liegt, steht in dem vorliegenden Verfahren im Streit und wird vom Bundesverwaltungsgericht zu klären sein.


Urteil vom 17.03.2004 -
BVerwG 1 C 5.03ECLI:DE:BVerwG:2004:170304U1C5.03.0

Leitsätze:

1. Eine Jugendstrafe ist weder eine Freiheitsstrafe im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 noch eine Strafe im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG.

2. Eine Ermessenseinbürgerung nach § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG ist ausgeschlossen, wenn der Einbürgerungsbewerber zu einer Jugendstrafe ohne Bewährung verurteilt worden ist.

  • Rechtsquellen
    AuslG § 87 Abs. 2, § 88 Abs. 1 und 2
    § 86 Abs. 1 AuslG i.d.F. vom 29.10.1997
    StAG § 8 Abs. 1

  • VGH Mannheim - 12.09.2002 - AZ: VGH 13 S 880/00 -
    VGH Baden-Württemberg - 12.09.2002 - AZ: VGH 13 S 880/00

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 17.03.2004 - 1 C 5.03 - [ECLI:DE:BVerwG:2004:170304U1C5.03.0]

Urteil

BVerwG 1 C 5.03

  • VGH Mannheim - 12.09.2002 - AZ: VGH 13 S 880/00 -
  • VGH Baden-Württemberg - 12.09.2002 - AZ: VGH 13 S 880/00

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. März 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n , H u n d ,
R i c h t e r und Prof. Dr. D ö r i g
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 12. September 2002 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

I


Der Kläger erstrebt seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.
Der im Jahr 1971 geborene Kläger ist französischer Staatsangehöriger. Er lebt seit 1975 in Deutschland. Seine Mutter ist Deutsche, sein französischer Vater ist verstorben. Der Kläger war in der Zeit vom 3. Mai 1988 bis 2. Mai 1989 und vom 6. Dezember 1990 bis 5. Dezember 1991 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis und vom 27. Februar 1992 bis 5. Dezember 1996 sowie vom 26. Mai 1998 bis 25. Mai 1999 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis-EG. Bis auf den Verlängerungsantrag vom 14. November 1991 hatte er alle Anträge erst nach Ablauf der Geltungsdauer der vorangegangenen Aufenthaltserlaubnisse gestellt. Vom 13. Juli 1993 bis zum 17. März 1998 war er nicht im Besitz eines gültigen französischen Ausweispapiers.
Der Kläger wurde in der Vergangenheit mehrfach straffällig. So wurde er mit Urteil des Amtsgerichts O. vom 10. November 1988 wegen Raubes, versuchten Raubes, Diebstahls in drei Fällen, versuchten Diebstahls, Hehlerei in zwei Fällen und gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nachdem der Kläger im Juni und August 1989 zwei weitere Diebstahlsdelikte begangen hatte, widerrief das Amtsgericht O. die Strafaussetzung zur Bewährung. Der Kläger wurde dann durch Urteil des Amtsgerichts O. vom 19. Oktober 1989 wegen Diebstahls in zwei Fällen unter Einbeziehung des Urteils vom 10. November 1988 zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. In der Zeit vom 7. August 1989 bis 28. Juni 1990 befand er sich in Strafhaft. Die Vollstreckung des Strafrestes wurde sodann zur Bewährung ausgesetzt. Die Restjugendstrafe wurde nach Ablauf der Bewährungsfrist erlassen und der Strafmakel gleichzeitig für beseitigt erklärt. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts O. vom 5. Oktober 1993 wurde der Kläger wegen eines Vergehens des Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen verurteilt.
Am 12. Juni 1991 beantragte der Kläger erstmals seine Einbürgerung. Dieser Antrag wurde vom Landratsamt Ortenaukreis mit - bestandskräftig gewordenem - Bescheid vom 14. November 1991 unter Hinweis auf seine wiederholte Straffälligkeit abgelehnt. Am 17. Januar 1995 beantragte der Kläger erneut seine Einbürgerung. Diesen Antrag lehnte das Landratsamt Ortenaukreis mit Bescheid vom 4. Oktober 1995 unter Hinweis darauf ab, dass der Einbürgerung unter anderem die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten entgegenstehe. Von dieser Verurteilung könne nicht nach § 88 AuslG abgesehen werden. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies das Regierungspräsidium Freiburg mit Widerspruchsbescheid vom 14. September 1998 zurück.
Das Verwaltungsgericht Freiburg hat mit Urteil vom 14. Juli 1999 den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 4. Oktober 1995 und des Widerspruchsbescheids vom 14. September 1998 verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Einbürgerung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übrigen hat es die vom Kläger erhobene Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Kläger habe zwar keinen Rechtsanspruch auf Einbürgerung, der Einbürgerungsbehörde sei jedoch durch § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG ein Ermessen eröffnet, das sie bislang noch nicht ausgeübt habe. Auf die Berufung des Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen (vgl. EZAR 271 Nr. 37). Die Einbürgerung
scheitere an dem gesetzlichen Ausschlussgrund, dass der Einbürgerungsbewerber nicht wegen einer Straftat verurteilt sein dürfe. Von dieser Voraussetzung der Straffreiheit sei hier nach § 88 AuslG weder zwingend abzusehen noch sei der Behörde insoweit ein Ermessen eröffnet. Die Verurteilung zu einer Jugendstrafe bleibe nicht nach § 88 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 AuslG außer Betracht. Insbesondere greife § 88 Abs. 1 AuslG nicht, denn eine Jugendstrafe sei weder Freiheitsstrafe im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AuslG noch eine Strafe im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG. Eine Ermessenseinbürgerung nach § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG sei jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn der Einbürgerungsbewerber zu einer Jugendstrafe verurteilt worden sei, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Bescheidungsantrag mit dem Ziel weiter, trotz der strafrechtlichen Verurteilung eingebürgert zu werden. Mit Schriftsatz vom 10. März 2004 teilte der Beklagte mit, nachdem im Verlauf des Revisionsverfahrens die strafgerichtliche Verurteilung getilgt worden sei, erteile er dem Kläger eine Einbürgerungszusicherung. An der Einbürgerung sehe er sich derzeit noch gehindert, weil es hierfür der Entlassung des Klägers aus der französischen Staatsangehörigkeit bedürfe. Darüber hinaus komme es auf dessen aktuelle Einkommensverhältnisse zur Beurteilung seiner Unterhaltsfähigkeit an. Da er den Kläger so weit wie möglich klaglos gestellt habe, erkläre er insoweit die Erledigung des Rechtsstreits.
Der Kläger hält auch unter Berücksichtigung der Einbürgerungszusicherung gemäß Schreiben vom 10. März 2004 an seinem Revisionsbegehren fest und beantragt,
die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts
Freiburg vom 14. Juli 1999 zurückzuweisen.
Der Beklagte tritt der Revision entgegen und verteidigt die Entscheidung des Berufungsgerichts. Der im Verlauf des Revisionsverfahrens eingetretenen Änderung der Sachlage habe er durch die erteilte Einbürgerungszusicherung Rechnung getragen. Deshalb sei der Rechtsstreit erledigt. Ein Rechtsschutzbedürfnis für den Bescheidungsantrag des Klägers bestehe nicht mehr.

II


Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten damit einverstanden sind (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Revision ist begründet. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist die vom Kläger angestrebte Einbürgerung, auch wenn er sein Klagebegehren auf die ihm vom Verwaltungsgericht zuerkannte Neubescheidung beschränkt hat (vgl. hierzu Clausing in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, § 121 VwGO Rn. 92). Entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten ist durch die mittlerweile erteilte Einbürgerungszusicherung weder der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt noch das Rechtsschutzinteresse für das Klagebegehren entfallen. Denn die Einbürgerungszusicherung des Beklagten verbessert zwar die Rechtsposition des Klägers, gewährt ihm aber noch nicht die erstrebte Einbürgerung. Zudem hat der Beklagte dargelegt, noch nicht abschließend über das Einbürgerungsbegehren entscheiden zu können, da dies noch von der Entlassung des Klägers aus der französischen Staatsangehörigkeit und von der Klärung seiner Unterhaltsfähigkeit abhänge. Er hat sich damit ausdrücklich die Prüfung vorbehalten, ob die gesetzlichen Voraussetzungen des § 86 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 AuslG in der hier - angesichts der Stellung des Einbürgerungsantrags am 17. Januar 1995 - maßgeblichen Fassung vom 29. Oktober 1997 (BGBl I S. 2584 - AuslG a.F.) erfüllt sind (vgl. § 102 a AuslG in der Fassung vom 9. Januar 2002 <BGBl I S. 361>). Die Erteilung der vom Kläger begehrten Einbürgerung steht somit weiter im Streit, auch wenn sich der Beklagte nicht mehr auf das Einbürgerungshindernis der strafgerichtlichen Verurteilung nach § 86 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a.F. beruft. Da es zur Klärung der noch offenen Einbürgerungsvoraussetzungen weiterer tatsächlicher Feststellungen bedarf, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Allerdings hat das Berufungsgericht das auf Neubescheidung seines Einbürgerungsantrags beschränkte Begehren des Klägers wegen der im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung - vor der Tilgung im Bundeszentralregister - noch entgegenstehenden strafgerichtlichen Verurteilung mit Recht zurückgewiesen. Die gegen den Kläger verhängte Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten durfte bei Bescheidung des Einbürgerungsbegehrens nicht unberücksichtigt bleiben. Die Voraussetzungen des § 88 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 AuslG lagen nicht vor. Mit Recht hat das Berufungsgericht aus Wortlaut, Systematik und Zweck der Vorschrift abgeleitet, dass § 88 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AuslG nur Verurteilungen nach Erwachsenenstrafrecht erfasst (so schon Urteil vom 16. November 2000 - BVerwG 9 C 4.00 - BVerwGE 112, 180 <184>; vgl. auch Urteil vom 19. November 1996 - BVerwG 1 C 25.94 - Buchholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 11; ebenso Marx, Staatsangehörigkeitsrecht, § 88 AuslG Rn. 5). Eine Jugendstrafe ist weder eine Freiheitsstrafe im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 noch eine Strafe im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG. Für die Verurteilung zu Jugendstrafe trifft § 88 Abs. 2 AuslG eine Sonderregelung. Zutreffend ist das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass für eine Ermessensentscheidung nach § 88 Abs. 1 Satz 2 AuslG jedenfalls dann kein Raum ist - und zwar auch nicht im Wege der entsprechenden Anwendung -, wenn der Einbürgerungsbewerber zu einer Jugendstrafe ohne Bewährung verurteilt worden ist (so auch Renner, Nachtrag "Staatsangehörigkeitsrecht" zur 7. Aufl. des Kommentars zum Ausländerrecht, § 88 AuslG Rn. 4).
Die Verurteilung aus dem Jahr 1989 steht aber nach der Tilgung der in Rede stehenden Verurteilungen und dem daraus folgenden Verwertungsverbot (§ 51 BZRG) der Einbürgerung des Klägers nicht mehr entgegen. Der Senat kann diese im Revisionsverfahren eingetretene unstreitige Tatsache seiner Entscheidung auch zugrunde legen, weil ihre Berücksichtigung einer endgültigen Erledigung des Rechtsstreits um die Einbürgerung des Klägers dient (vgl. zuletzt etwa Urteil des Senats vom 20. Februar 2001 - BVerwG 9 C 20.00 - BVerwGE 114, 16 <25 f.> m.w.N.). Es würde eine erhebliche Verlängerung des Verfahrens bedeuten, wenn der Senat heute über den seit neun Jahren anhängigen Einbürgerungsantrag ohne Berücksichtigung der Tilgung der verhängten Verurteilung entschiede und der Kläger unter Umständen ein neues Einbürgerungsverfahren betreiben müsste, falls die noch ungeklärten weiteren Einbürgerungsvoraussetzungen zwischen den Beteiligten streitig werden sollten.
Der Senat kann aufgrund des Fehlens der erforderlichen Tatsachenfeststellungen nicht selbst entscheiden, ob der Kläger einen Anspruch auf Einbürgerung nach § 86 AuslG a.F. hat. Nach dem Inhalt der Einbürgerungszusicherung des Beklagten hängt dies - wie oben bereits dargelegt - nur noch von der Entlassung des Klägers aus der französischen Staatsbürgerschaft und der Prüfung seiner Unterhaltsfähigkeit ab. Für die Frage, ob vom Kläger die Entlassung aus seiner bisherigen Staatsangehörigkeit verlangt werden kann - wie der Beklagte meint - ist maßgeblich, ob hinsichtlich der Hinnahme von Mehrstaatigkeit Gegenseitigkeit mit Frankreich im Sinne von § 87 Abs. 2 AuslG n.F. besteht (vgl. § 102 a AuslG). Diese nunmehr entscheidungserhebliche Tatsachenfrage hat das Berufungsgericht erörtert, im Ergebnis aber ausdrücklich offen gelassen (UA S. 12 f.). Die Sache muss daher zur Klärung dieser Frage an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen werden. Das Berufungsgericht wird ferner die für den Zeitpunkt der Berufungsentscheidung bejahte Unterhaltsfähigkeit des Klägers gemäß § 86 Abs. 1 Nr. 3 AuslG a.F. neu zu bewerten haben. Ergibt sich danach kein Einbürgerungsanspruch, so wird das Berufungsgericht die Voraussetzungen einer Ermessenseinbürgerung nach § 8 StAG zu prüfen haben.