Beschluss vom 21.12.2004 -
BVerwG 1 B 74.04ECLI:DE:BVerwG:2004:211204B1B74.04.0

Beschluss

BVerwG 1 B 74.04

  • Hessischer VGH - 23.02.2004 - AZ: VGH 3 UE 1598/02.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Dezember 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H u n d und R i c h t e r
beschlossen:

  1. Der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. Februar 2004 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  3. Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Die Beschwerde hat mit der Rüge einer Verletzung der Aufklärungspflicht und des rechtlichen Gehörs (Verfahrensmangel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3, § 86 Abs. 1, § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) Erfolg. Wegen dieser Verfahrensmängel, auf denen die Entscheidung beruhen kann, verweist der Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO im Interesse der Verfahrensbeschleunigung an das Berufungsgericht zurück.
Das Berufungsgericht hat der gegen die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG hinsichtlich der Russischen Föderation gerichteten Berufung des beteiligten Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten im sog. vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss stattgegeben und die Klage insgesamt abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 8 EMRK. Eine solche Feststellung komme nur in Betracht, wenn ein unzulässiger Eingriff in das Privat- und Familienleben vorliege, der staatlicherseits veranlasst oder geduldet sei. Die Klägerin habe bereits keinen substantiierten Tatsachenvortrag erbracht, der die Annahme rechtfertigen könnte, bei den von ihr geltend gemachten Diskriminierungen (durch Nichterteilung eines Aufenthaltstitels an ihren äthiopischen Ehegatten aus rassistischen Gründen) werde staatlicherseits in die von Art. 8 EMRK geschützten Rechtsgüter eingegriffen. Ausweislich der Anhörung der Klägerin vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge seien Grund für die Ausreise aus der Russischen Föderation auch nicht die von der Klägerin später angeführten rassistischen Benachteiligungen etwa hinsichtlich ihrer Entlassung gewesen, sondern vielmehr die Tatsache, dass ihr Ehemann von Seiten der Behörden keine Aufenthaltserlaubnis bekommen habe. Im Übrigen sei ihr Vortrag hinsichtlich weiterer behaupteter Diskriminierungen teilweise unglaubhaft und hinsichtlich der tatsächlichen Verhältnisse in ihrem Heimatland zum Teil nicht nachvollziehbar. Hinsichtlich der Begleitumstände um den Verlust ihrer Arbeitsstelle sowie der erlebten Diskriminierungen wie Beleidigungen u.Ä. sei der Vortrag der Klägerin ferner gesteigert und daher unglaubhaft. Selbst wenn ihr Vortrag zutreffen sollte, dass ihre Arbeitsstelle 1992 auch aufgrund ihres Verhältnisses zu ihrem Ehemann gekündigt worden sein sollte, habe sie damit noch keinen Sachverhalt geschildert, der die Annahme einer staatlich geförderten oder geduldeten Diskriminierung belege, die im Rahmen eines Verstoßes gegen Art. 8 EMRK relevant sein könnte, zumal sie gegen ihre Entlassung offensichtlich nichts unternommen habe.
Die Beschwerde wendet hierzu im Ergebnis zu Recht ein, das Berufungsgericht hätte ihre Beweisanträge zur diskriminierenden Versagungspraxis für die Gewährung einer Aufenthaltsgenehmigung an afrikanische Ehemänner sowie der entsprechenden Ablehnung einer Aufenthaltsgenehmigung an ihren Mann (Beschwerdebegründung 4. und 5., S. 6 ff., 10 ff.) mit der gegebenen Begründung nicht ablehnen dürfen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragte mit Schriftsatz vom 28. August 2003 unter Ziff. 1 und 3 Beweis dazu, dass in der Russischen Föderation allgemein einem afrikanischen Mann trotz bestehenden Anspruchs eine Aufenthaltsgenehmigung zur Herstellung der Familieneinheit mit einer russischen Frau und gemeinsamen Kindern nicht gewährt werde, ohne dass hiergegen ein effektiver Rechtsschutz möglich wäre (Ziff. 1 Abs. 2), sowie dazu, dass auch weder dem Ehemann der Klägerin noch ihren Kindern eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung trotz Anspruchs nach russischem Recht gewährt werde (Ziff. 3). Die für die Ablehnung vom Berufungsgericht gegebenen Begründungen (BA S. 14), es fehle an einem substantiierten erheblichen Tatsachenvortrag und es handele sich um einen Ausforschungsbeweis (zu dem Beweisantrag Ziff. 1 Abs. 2) bzw. es fehle an einem erheblichen Sachvortrag (BA S. 10) und es fehle an einem substantiierten Tatsachenvortrag in Bezug auf eine staatlicherseits geförderte oder flächendeckend geduldete Ausgrenzung schwarzhäutiger Menschen (BA S. 11), vermögen die Ablehnung nicht zu rechtfertigen. Insoweit verletzt die Entscheidung die gerichtliche Sachaufklärungspflicht und das rechtliche Gehör der Klägerin. Das Berufungsgericht kann nicht einerseits den Beweisantrag Ziff. 3 zur Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung für ihre Familie - ausgehend von seiner Rechtsauffassung, die ggf. rechtswidrige Inhaftierung der Klägerin sowie die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis stellten "keine systematische im Rahmen des § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 8 EMRK beachtliche Diskriminierung" dar - als unerheblich behandeln, wenn es andererseits gleichzeitig den auf eine generelle derartige Diskriminierungspraxis gerichteten Beweisantrag Ziff. 1 Abs. 2 als unsubstantiiert zurückweist, obwohl hierfür Anhaltspunkte - wie die Beschwerde zu Recht geltend macht schon im Hinblick auf den eigenen Fall der Klägerin und durch den weiteren Sachvortrag hierzu - dargelegt worden sind. Auch die Voraussetzungen für die Zurückweisung des Beweisantrags Ziff. 1 Abs. 2 als unzulässiger Ausforschungsbeweisantrag (vgl. zuletzt etwa Beschluss vom 29. April 2002 - BVerwG 1 B 59.02 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60 und Beschluss vom 5. März 2002 - BVerwG 1 B 194.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 320 m.w.N.) liegen nicht vor. Das Berufungsgericht begründet seine Ansicht insoweit auch nicht und setzt sich mit den für die Beweisanträge gegebenen Begründungen nicht auseinander. Im Übrigen hätte sich dem Berufungsgericht angesichts der von der Klägerin nach der Auffassung des Verwaltungsgerichts glaubhaft geschilderten Umstände ihrer "Auswanderung" nach Äthiopien auch ohne die Stellung der Beweisanträge aufdrängen müssen, von sich aus der Frage nachzugehen, ob die Behauptung der Klägerin zutrifft, sie könne selbst als russische Staatsangehörige mit ihrem äthiopischen Ehemann und ihrem Kind wegen deren Hautfarbe tatsächlich in der Russischen Föderation nicht mit der erforderlichen fremdenrechtlichen Billigung der Behörden zusammenleben.
Zur Vermeidung von Missverständnissen bemerkt der Senat zu den Rechtsausführungen des Berufungsgerichts zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 8 EMRK, dass es im Hinblick auf die Subsidiarität auch des ausländerrechtlichen Abschiebungsschutzes zwar darauf ankommt, ob die Klägerin und ihre Familie in der Russischen Föderation landesweit nicht zusammenleben können, nicht aber darauf - wie das Berufungsgericht meint -, ob Diskriminierungen allgemein und der Klägerin gegenüber "flächendeckend und systematisch" in einer dem Staat zurechenbaren Weise tatsächlich vorkommen.
Dagegen hätte die Beschwerde keinen Erfolg haben können, soweit sie die fehlerhafte Berufungszulassung rügt (Beschwerdebegründung 1.), weil es sich insoweit um eine nicht nachprüfbare unanfechtbare Vorentscheidung handelt (vgl. § 557 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 152 Abs. 1, § 173 Satz 1 VwGO und zuletzt etwa Beschluss vom 30. Januar 2004 - BVerwG 1 B 9.04 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 32). Ebenfalls ohne Erfolg bliebe die schon nicht näher dargelegte, wohl aber auf Rechtsgrundsätzlichkeit zielende Rüge, das Berufungsgericht habe "das Staatlichkeitserfordernis für unmittelbare Menschenrechtsverletzungen im Sinne des Art. 3 EMRK" auf die durch Art. 8 EMRK geschützte Familieneinheit übertragen (Beschwerdebegründung 2. Abs. 1). Die Frage ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, soweit sie - wie hier - im Rahmen der Anwendung des § 53 Abs. 4 AuslG von Bedeutung ist, geklärt (vgl. Beschluss vom 27. April 2000 - BVerwG 9 B 153.00 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 35; zu Abschiebungsverboten aus der EMRK vgl. auch Urteil vom 24. Mai 2000 - BVerwG 9 C 34.99 - BVerwGE 111, 223 = Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 34, Beschluss vom 8. April 2004 - BVerwG 1 B 199.03 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 77 und Urteil vom 7. Dezember 2004 - BVerwG 1 C 14.04 - zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen). Die in diesem Zusammenhang weiter erhobene Grundsatzrüge betrifft Art. 3 EMRK, auf den das Berufungsgericht seine Entscheidung jedenfalls tragend nicht gestützt hat; sie wäre schon deshalb nicht geeignet, die Zulassung der Revision zu erreichen.
Die weitere Verfahrensrüge (Beschwerdebegründung 4.) dazu, dass das Berufungsgericht ohne eigene Anhörung der Klägerin nicht nach § 130 a VwGO im vereinfachten Berufungsverfahren hätte entscheiden dürfen, hätte im Ergebnis ebenfalls keinen Erfolg haben können. Die Beschwerde macht zwar im Ansatz zu Recht geltend, dass das Berufungsgericht ohne eigene Anhörung der Klägerin nach § 130 a VwGO nicht entscheiden darf, wenn es sich entweder im Widerspruch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit durch das Verwaltungsgericht setzt oder seine Entscheidung auf eine eigene Beurteilung des Verfolgungsvortrags der Klägerin im bisherigen Verfahren stützen will, soweit es dabei auf eine persönliche Beurteilung ankommt (vgl. zuletzt etwa Beschluss vom 26. Februar 2003 - BVerwG 1 B 218.02 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 328 = InfAuslR 2003, 252; Beschluss vom 17. April 2003 - BVerwG 1 B 226.02 - <juris> jeweils m.w.N.). Die angegriffene Entscheidung verletzt diese Grundsätze indessen hinsichtlich derjenigen Ausführungen, welche die Beschwerde mit ihrer Rüge angreift, nicht. Insoweit legt das Berufungsgericht die beanstandeten Bewertungen seiner Entscheidung nicht in dem von der Beschwerde geltend gemachten Sinne tragend zugrunde. Anders verhält es sich hingegen mit der Bewertung des Vortrags der Klägerin zu mangelnden Existenzmöglichkeiten nach einer Rückkehr in ihre Heimat bei der Prüfung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG. Soweit das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang den Vortrag als "gesteigert und unglaubhaft" bewertet hat, widerspricht dies den genannten Anforderungen.
Der Senat weist noch darauf hin, dass das Berufungsgericht im Rahmen der Prüfung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG zwar zutreffend dem asylrechtlichen Vortrag der Klägerin nicht weiter nachgegangen ist, sie sei durch die "Heirat ihres äthiopischen Mannes automatisch selbst nach äthiopischem Staatsangehörigkeitsrecht Äthiopierin" geworden (Klagebegründung vom 22. November 1998, S. 4). Träfe dies zu, so könnte sich die Frage stellen, ob die Klägerin die russische Staatsangehörigkeit behalten oder verloren hat, was wiederum Rückwirkungen auf die Beantwortung der entscheidungserheblichen Frage nach den Möglichkeiten eines staatlich gebilligten Zusammenlebens der Klägerin mit ihrer Familie in Russland haben kann.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO).