Beschluss vom 22.08.2016 -
BVerwG 1 B 44.16ECLI:DE:BVerwG:2016:220816B1B44.16.0

Beschluss

BVerwG 1 B 44.16

  • VG Berlin - 25.03.2015 - AZ: VG 24 K 253.14
  • OVG Berlin-Brandenburg - 08.12.2015 - AZ: OVG 3 B 4.15

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. August 2016
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 8. Dezember 2015 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.

2 Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschluss vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - AuAS 2014, 110).

3 1. Die Beschwerde hält zunächst die Frage für klärungsbedürftig, "inwieweit ein zwingender Grund für das Absehen von einer Verteilentscheidung auf Gründe gestützt werden kann, die außerhalb der familiären Sphäre des Ausländers liegen" (Beschwerdebegründung S. 5). Sie sieht als Hinderungsgründe, die einer Verteilung eines Ausländers auf die Bundesländer nach § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG entgegenstehen, auch andere als familiäre Gründe an. Zu solchen weiteren Gründen gehöre auch ein im Wege einer Vereinbarung oder aber einer einseitigen Zusage geäußerter Rechtsbindungswille, den die Beschwerde aus dem "Einigungspapier Oranienplatz" ableitet, das die Berliner Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen sowie einige der auf dem Berliner Oranienplatz in Zelten und Hütten lebenden Ausländer im März 2014 unterzeichnet haben und in dessen Folge das Protestcamp aufgelöst wurde.

4 Die Beschwerde legt nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise dar, dass sich die aufgeworfene Frage im vorliegenden Verfahren stellt. Denn das Berufungsgericht hat den Inhalt des Einigungspapiers dahin gewürdigt, das dessen Ziff. 4 keine verbindliche Zusage enthält, von der Verteilung nach § 15a AufenthG abzusehen (UA S. 9). Die Erklärung sei zu unbestimmt, um die konkrete und für den Beklagten verbindliche Rechtsfolge einer Zuständigkeitsübernahme begründen zu können. An diese tatrichterlichen Feststellungen, die die Beschwerde nicht mit durchgreifenden Revisionsrügen angegriffen hat, ist das Revisionsgericht gebunden (§ 137 Abs. 2 VwGO). Mangels Verbindlichkeit des Einigungspapiers für die Verteilungsentscheidung nach § 15a AufenthG lässt sich aus diesem kein "zwingender Grund" ableiten, der der Verteilung entgegensteht. Im Übrigen ist der Begriff des "zwingenden Grundes", der nicht auf bestimmte familiäre Bindungen beschränkt ist, keiner weiteren abstrakten Konkretisierung zugänglich, sondern es bedarf der tatrichterlichen Würdigung im Einzelfall, ob für den Ausländer eine Verteilung an einen anderen Ort generell oder jedenfalls an den behördlich bestimmten Ort unzumutbar ist (vgl. zum zwingenden Grund, der nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG einem Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht: BVerwG, Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 276, 290).

5 2. Die Beschwerde hält weiterhin für klärungsbedürftig, "ob es sich bei der Verteilentscheidung der hier beteiligten Behörden nach § 15a AufenthG um eine gebundene oder eine ein Ermessen eröffnende Entscheidung handelt" (Beschwerdebegründung S. 5). Sie beruft sich darauf, dass das Verwaltungsgericht die Rechtslage insoweit anders sehe als das Oberverwaltungsgericht. Letzteres gehe davon aus, dass die gegenüber dem Ausländer ergehende Verteilungsanordnung nach § 15a Abs. 4 Satz 1 Alt. 1 AufenthG eine gebundene Entscheidung sei und Ermessen nur in dem - hier nicht vorliegenden Fall - auszuüben sei, wenn die Ausländerbehörde den Ausländer nach § 15a Abs. 2 AufenthG verpflichte, sich zu der Behörde zu begeben, die die Verteilung veranlasse (hier noch: Landesamt für Gesundheit und Soziales). Zutreffend sei hingegen die hiervon abweichende Auffassung des Verwaltungsgerichts. Dieses habe unter Berufung auf einen Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 30. März 2006 festgestellt, dass die Entscheidungen über die Verteilung nach § 15a AufenthG nur hinsichtlich der Zahl der jeweils zu verteilenden Ausländer eine an den Königsteiner Schlüssel gebundene Entscheidung darstelle. Hingegen räume die Entscheidung darüber, ob ein Ausländer überhaupt verteilt werde und - wenn ja - welcher Ausländer auf welches Bundesland, der Verwaltung einen Ermessensspielraum ein. Wegen der unterschiedlichen Auslegung des § 15a AufenthG sei eine Klärung durch das Bundesverwaltungsgericht geboten.

6 Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Denn die aufgeworfene Frage kann bereits anhand des Gesetzes unter Berücksichtigung der anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden. Das Aufenthaltsgesetz unterscheidet klar zwischen der Verteilungsanordnung der die Verteilung veranlassenden Behörde (hier noch: Landesamt für Gesundheit und Soziales) nach § 15a Abs. 4 Satz 1 Alt. 1 AufenthG und der an den Ausländer gerichteten Verpflichtung der Ausländerbehörde nach § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, sich zu der die Verteilung veranlassenden Behörde zu begeben. Jedenfalls die Verteilungsanordnung nach § 15a Abs. 4 AufenthG ist eine gebundene Entscheidung ("Die Behörde ... ordnet ... an"); nicht zu entscheiden ist, ob die Verpflichtung nach § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG als Ermessensentscheidung geregelt ist ("können die Ausländer verpflichten") oder es sich insoweit lediglich um eine entsprechende Ermächtigung der Ausländerbehörde handelt (sog. Kompetenz-Kann). Im vorliegenden Fall hat die Ausländerbehörde keine Verpflichtung nach § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG erlassen, vielmehr hat das Landesamt für Gesundheit und Soziales die Verteilung ohne vorausgegangene Verpflichtung des Klägers zur Vorsprache angeordnet.

7 Aus dem Gesetzeswortlaut und dem gesetzgeberischen Zweck ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Entscheidung, ob ein vom Gesetz erfasster Ausländer überhaupt verteilt wird und - wenn ja - wohin, eine Ermessensentscheidung darstellen soll. Der Gesetzeswortlaut räumt allenfalls für die hier nicht angeordnete Verpflichtung nach § 15a Abs. 2 AufenthG Ermessen ein. Für alle anderen verwaltungsinternen Maßnahmen zur Vorbereitung der Anordnung nach § 15a Abs. 4 Satz 1 Alt. 1 AufenthG (hierzu im Einzelnen: OVG Hamburg, Beschluss vom 10. März 2016 - 4 Bs 3/16 - juris Rn. 21) sowie die Verteilungsanordnung selbst sieht das Gesetz kein Ermessen vor. Das gilt auch für die Entscheidung, ob eine Verteilung vorzunehmen oder von dieser ausnahmsweise wegen der in § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG normierten Gründe abzusehen ist. Liegen entsprechende Gründe vor, "ist" dem bei der Verteilung Rechnung zu tragen. Die betreffenden Personen sind dann aus dem Verteilverfahren herauszunehmen (so auch OVG Bremen, Urteil vom 25. Juni 2014 - 1 B 30.14 - InfAuslR 2014, 340, 341). Ermessen besteht jedenfalls insoweit nicht. Dies verkennt das Verwaltungsgericht im vorliegenden Verfahren, das sich insoweit zu Unrecht auf den auch vom Beschwerdeführer herangezogenen Beschluss des VGH Kassel vom 30. März 2006 (3 TG 556/06, InfAuslR 2006, 362) beruft. Die Auswahl, welcher Ausländer auf welche Aufnahmeeinrichtung verteilt wird, wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgrund eines komplexen, allein durch die Berechnung von Aufnahmequoten für die einzelnen Bundesländer gesteuerten Systems getroffen (hierzu im Einzelnen: OVG Hamburg, Beschluss vom 10. März 2016 - 4 Bs 3/16 - juris Rn. 21). Auch insoweit wird kein Ermessen ausgeübt (unzutreffend insoweit VGH Kassel, Beschluss vom 30. März 2006 - 3 TG 556/06 - InfAuslR 2006, 362). Die Steuerung der Verteilung unerlaubt eingereister Ausländer nach objektiven, vorbehaltlich des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG von subjektiv rechtlichen Ansprüchen freien (§ 15a Abs. 1 Satz 2 AufenthG) Kriterien (Quoten) und ohne Ausübung von Ermessen dient auch dem gesetzgeberischen Ziel der Herstellung einer gerechten Lastenverteilung unter den Bundesländern (vgl. die Begründung des BT-InnenA vom 7. Mai 2003, der die Einfügung des § 15a AufenthG vorgeschlagen hat - BT-Drs. 15/955 S. 10 f.).

8 3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

9 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.