Beschluss vom 24.05.2006 -
BVerwG 1 B 10.06ECLI:DE:BVerwG:2006:240506B1B10.06.0

Beschluss

BVerwG 1 B 10.06

  • Niedersächsisches OVG - 05.12.2005 - AZ: OVG 13 LB 13/05

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. Mai 2006
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Hund, Richter und
Prof. Dr. Dörig
beschlossen:

  1. Den Klägern wird für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt ..., ..., Hamburg, beigeordnet.
  2. Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 5. Dezember 2005 wird aufgehoben, soweit darin die Klage auch hinsichtlich der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG abgewiesen worden ist. Im Übrigen wird die Beschwerde verworfen.
  3. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des Oberverwaltungsgerichts zurückverwiesen.
  4. Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  5. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe

1 Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen vor (§ 166 VwGO, § 114 ZPO).

2 Die Beschwerde ist begründet, soweit sie sich gegen die Abweisung der Klage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG richtet; insofern verletzt die angefochtene Entscheidung das rechtliche Gehör der Kläger und die gerichtliche Sachaufklärungspflicht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 108 Abs. 2 und § 86 Abs. 1 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG). Soweit sich die Beschwerde auch gegen die Abweisung des in der Berufungsinstanz gestellten Hilfsantrags wendet, ist sie unzulässig, da insoweit ein Revisionszulassungsgrund im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO nicht ordnungsgemäß bezeichnet ist (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Soweit die Beschwerde Erfolg hat, wird die Sache im Interesse der Verfahrensbeschleunigung gemäß § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an einen anderen Senat des Berufungsgerichts (§ 173 VwGO, § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO; vgl. Beschluss vom 15. August 1996 - BVerwG 4 B 145.96 - Buchholz 310 § 133 VwGO <n.F.> Nr. 24) zurückverwiesen.

3 1. Hinsichtlich des abgelehnten Hilfsantrags hält die Beschwerde für grundsätzlich bedeutsam die Frage, „ob ein Hilfsantrag dahin gehend, dass eine Abschiebung nicht zulässig ist in einen Staat, in Bezug auf welchen das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1, 2 bis 7 AufenthG nicht zuvor geprüft und beschieden ist, zulässig ist, wenn im gerichtlichen Verfahren bisher das Vorliegen politischer Verfolgung (nach Art. 16a Abs. 1 GG oder bzw.) gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG abgelehnt wurde mit der Begründung, mangels Staatsangehörigkeit sei - bei im Übrigen staatsangehörigkeitsrechtlicher Neutralität - weder ein Abschiebeverbot nach § 51 AuslG (jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG) festzustellen noch sei das Land als Nichtabschiebeland zu bezeichnen“ (Beschwerdebegründung S. 33/34 unter D). Damit und mit dem Vortrag hierzu wird eine fallübergreifend klärungsbedürftige und klärungsfähige Frage des revisiblen (Prozess-)Rechts nicht bezeichnet.

4 Das gilt unabhängig davon, dass schon nicht - wie hier erforderlich - dargelegt ist, dass der Hilfsantrag in statthafter Weise unter Beachtung der prozessrechtlichen Anforderungen zum Gegenstand des Berufungsverfahrens gemacht worden ist. Es ist nämlich auch nicht erkennbar, inwiefern die von der Beschwerde in den Vordergrund ihres Begehrens gerückte Frage nach dem Umfang der Bindungswirkung des berufungsgerichtlichen Urteils (Beschwerdebegründung S. 32) überhaupt und über die vorliegende Fallgestaltung hinaus generell zu klären ist. Davon abgesehen lässt sich auch der Beschwerde nicht entnehmen, welches Bedürfnis bestehen soll, die Zulässigkeit der Abschiebung in (irgend-)einen anderen Staat als denjenigen gleichsam abstrakt vorab zu prüfen, für den bisher (in dem dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Bescheid) die Abschiebung angedroht worden ist. Für eine solche dem Hilfsbegehren der Sache nach zugrunde liegende „Vorratsfeststellung“ und die mit ihr verbundene Klärung abstrakter Rechtsfragen besteht schon deshalb kein (Rechtsschutz-)Bedürfnis, weil den Klägern in jedem Falle einer etwa beabsichtigten und bevorstehenden Abschiebung in einen anderen Zielstaat die Möglichkeit der Inanspruchnahme effektiven (auch vorläufigen) Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG zu gewähren ist (vgl. Urteil vom 4. Dezember 2001 - BVerwG 1 C 11.01 - BVerwGE 115, 267 <271>).

5 Das Oberverwaltungsgericht ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass die in erster Instanz bestätigte Abschiebungsandrohung nach Armenien durch die Nichtanfechtung der erstinstanzlichen Entscheidung seitens der Kläger unanfechtbar geworden ist (vgl. etwa Beschluss vom 21. Dezember 2004 - BVerwG 1 B 68.04 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 85). Aus dem Hinweis in dem angefochtenen Bescheid, dass eine Abschiebung auch in einen anderen Staat erfolgen kann, in den die Kläger einreisen dürfen und der zu ihrer Rückübernahme bereit oder verpflichtet ist, ergibt sich - wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend erkannt hat - nichts anderes (vgl. Urteil vom 4. Dezember 2001 a.a.O.).

6 Für das weitere Verfahren weist der Senat klarstellend darauf hin, dass damit der Hilfsantrag - auflösend bedingt für den Fall der Stattgabe des Hauptantrags - unanfechtbar abgewiesen und nicht mehr Gegenstand des erneuten Berufungsverfahrens ist (vgl. Beschluss vom 21. Dezember 2004 a.a.O.).

7 2. Hinsichtlich des Hauptantrags auf Anerkennung der Kläger als Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG hat die Beschwerde hingegen Erfolg.

8 a) Das ergibt sich zunächst schon daraus, dass - wie die Beschwerde im Ergebnis zutreffend geltend macht - das Oberverwaltungsgericht unter den gegebenen besonderen Umständen des vorliegenden Einzelfalles und bei hinreichender Berücksichtigung des Vortrags der Kläger ohne weitere Sachverhaltsermittlungen nicht davon ausgehen durfte, dass die Kläger tatsächlich an ihrem früheren Wohnort in Aserbaidschan jedenfalls im September 1998 „von Amts wegen abgemeldet“ gewesen seien (BA S. 9 ff. <10>). Den in diesem Zusammenhang gestellten Beweisantrag im Schriftsatz vom 24. November 2005 hat das Berufungsgericht zwar - entgegen der insoweit unbegründeten Rüge der Kläger - mit prozessrechtlich nicht zu beanstandender Begründung als unerheblich abgelehnt, weil er auf eine Abmeldung in der Zeit vor November 1995 bezogen war. Dem Berufungsgericht hätte sich aber unabhängig hiervon eine weitere Aufklärung dazu aufdrängen müssen, ob die Kläger auch tatsächlich - entsprechend der vom Berufungsgericht nach der Auskunftslage festgestellten allgemeinen Verwaltungsanordnungen und -praxis - abgemeldet worden sind; denn nur dann hätten die Kläger nach den vom Berufungsgericht zugrunde gelegten rechtlichen Bedingungen des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsrechts ihre Staatsangehörigkeit verloren bzw. nicht wieder neu erworben. Insoweit durfte sich das Berufungsgericht, wie die Beschwerde zu Recht geltend macht, schon deshalb nicht auf die „bestehende Auskunftslage“ berufen, weil die Kläger substantiiert vorgetragen und unter Beweis gestellt hatten, dass in einem vergleichbaren Einzelfall eines 1988 aus Aserbaidschan geflüchteten armenischen Volkszugehörigen eine Abmeldung von Amts wegen über den genannten Zeitpunkt hinaus faktisch unterblieben, mithin die vom Oberverwaltungsgericht unterstellte Praxis nicht ausnahmslos umgesetzt worden sei (Beschwerdebegründung S. 4 unter Bezugnahme auf den Schriftsatz vom 24. November 2005 S. 13 mit Beweisantrag 46).

9 Ob sich die weitere Aufklärung auch im Hinblick auf die Aussage in der vom Oberverwaltungsgericht zitierten Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG Schleswig vom 28. April 2003 hätte aufdrängen müssen, wonach die Abmeldung (nur) „in der Regel“ erfolgt sein soll, kann dahingestellt bleiben.

10 b) Der beschließende Senat hat das Berufungsgericht bereits in dem ersten Zurückverweisungsbeschluss vom 27. Februar 2003 - BVerwG 1 B 198.02 - darauf hingewiesen, dass es Beweisanträge, denen es ohne Begründung in der Anhörungsmitteilung nach § 130a VwGO nicht nachkommt, in der später ergehenden Entscheidung im vereinfachten Berufungsverfahren grundsätzlich bescheiden und dabei die Ablehnung begründen muss (unter Hinweis auf den Beschluss vom 10. April 1992 - BVerwG 9 B 142.91 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 5; vgl. ferner etwa Beschluss vom 27. Dezember 2001 - BVerwG 1 B 361.01 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 56). Auch diesen Anforderungen wird der angefochtene Beschluss nicht gerecht.

11 Wie die Beschwerde ausdrücklich rügt (Beschwerdebegründung unter B S. 12 ff. <17 und 21>), hat das Berufungsgericht die Beweisanträge Nr. 27 und Nr. 28 im Schriftsatz vom 24. November 2005 nicht beschieden, obwohl es sich damit zur Frage einer faktischen Ausbürgerung in Anknüpfung an die armenische Volkszugehörigkeit (durch die herangezogenen gesetzlichen Regelungen des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsrechts) hätte befassen müssen.

12 3. Auf die weiteren Rügen kommt es danach nicht an. Der Senat bemerkt hierzu, dass weder die unter C der Beschwerdebegründung erhobene Grundsatzrüge (Beschwerdebegründung S. 29 ff.; vgl. grundsätzlich zur Prüfung der Flüchtlingseigenschaft nur in Bezug auf den Staat der Staatsangehörigkeit oder - bei Staatenlosen - den Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts zuletzt etwa Urteil vom 12. Juli 2005 - BVerwG 1 C 22.04 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 6) noch die unter E erhobene Verfahrensrüge (Beschwerdebegründung S. 34) hätten Erfolg haben können. Die zuletzt genannte Rüge einer angeblich fehlenden Urschrift des angefochtenen - in beglaubigter Abschrift bei den Akten befindlichen - Beschlusses mit den Originalunterschriften aller Richter hätte in zulässiger Weise nur erhoben werden können, wenn der Prozessbevollmächtigte der Kläger zuvor beim Oberverwaltungsgericht nachgefragt hätte, wo die Urschrift aufbewahrt wird. Dann hätte er im Übrigen erfahren, dass diese - wie dort üblich - in einer Sammlung des Senats abgelegt ist und aufbewahrt wird (vgl. Aktenvermerk des Berichterstatters GA Bl. 590 Rückseite).

13 Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Soweit die Beschwerde mit dem zuletzt gestellten Hilfsantrag erfolglos geblieben ist und die Klage insoweit nunmehr endgültig abgewiesen ist, bedarf es keiner abweichenden Kostenentscheidung durch den Senat; denn hier ist nur ein unwesentlicher Teil betroffen mit der Folge, dass die Kosten des Beschwerdeverfahrens in vollem Umfang der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache folgen können (vgl. § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO).