Beschluss vom 24.05.2006 -
BVerwG 1 B 118.05ECLI:DE:BVerwG:2006:240506B1B118.05.0

Beschluss

BVerwG 1 B 118.05

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 30.08.2005 - AZ: OVG 13 A 2745/04.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. Mai 2006
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Hund, Richter und
Prof. Dr. Dörig
beschlossen:

  1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. August 2005 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe

1 Die Beschwerde ist mit der Rüge eines Verstoßes gegen die richterliche Aufklärungspflicht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 86 Abs. 1 VwGO) begründet. Im Ergebnis zu Recht beanstandet sie der Sache nach, dass sich dem Berufungsgericht - aus seiner insoweit maßgeblichen rechtlichen Sicht - eine weitere Sachaufklärung zu der Frage hätte aufdrängen müssen, ob der Klägerin bei einer Rückkehr in den Kosovo dort (im Abschiebezielstaat, vgl. Urteile vom 29. Oktober 2002 - BVerwG 1 C 1.02 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 66 und vom 25. November 1997 - BVerwG 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383 m.w.N.) „eine wesentliche Gesundheitsverschlechterung im Sinne einer existentiellen Gesundheitsgefahr“ (BA S. 8) droht und demzufolge die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache daher gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurück.

2 Das Berufungsgericht hat unterstellt, dass die Klägerin trotz bestehender Zweifel an den vorgelegten ärztlichen Attesten mit der darin bescheinigten psychischen Erkrankung (posttraumatische Belastungsstörung mit schwerer depressiver Symptomatik) leidet (BA S. 15). Es hat jedoch angenommen, dass diese Krankheit im Kosovo generell jedenfalls insoweit behandelbar sei, dass sie bei der gebotenen Mitwirkung der Klägerin (Teilnahme an einer dortigen Standards entsprechenden auch medikamentösen Behandlung) auf dem gegenwärtigen „Niveau“ gehalten werden könne, „mit dem sie im Zufluchtsland Deutschland erkennbar ohne existentielle Gefährdungen leben kann“ (BA S. 15 ff.).

3 Die dieser Annahme zugrunde liegenden medizinischen Wertungen, für die das Berufungsgericht selbst nicht ausreichend sachkundig war, konnte und durfte es nicht ohne weitere Aufklärung vornehmen. Vielmehr hätte es hierzu von Amts wegen ein aktuellen wissenschaftlichen Mindeststandards entsprechendes Sachverständigengutachten (vgl. dazu für posttraumatische Belastungsstörungen etwa neuerdings Haenel/Wenk-Ansohn, Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, 1. Aufl. 2004, passim und S.  243 ff.) einholen müssen. Dies hätte sich dem Gericht unter den vorliegenden Umständen auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag der Prozessbevollmächtigten der Klägerin aufdrängen müssen. Es ist vom Berufungsgericht weder näher dargelegt noch sonst ersichtlich, dass es über die erforderliche Sachkunde verfügt, selbst und in Abweichung von den vorgelegten ärztlichen und fachärztlichen Bescheinigungen beurteilen zu können, ob für die Klägerin im Abschiebezielstaat namentlich eine ernste Suizidgefahr voraussichtlich - etwa auch durch die dort zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten - ausgeschlossen werden kann. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts steht es zwar im tatrichterlichen Ermessen des Berufungsgerichts, ob es (weitere) Sachverständigengutachten einholt oder dies insbesondere im Hinblick auf vorliegende Erkenntnismittel oder eine sonst vorhandene eigene Sachkunde ablehnt. Das Tatsachengericht muss seine Entscheidung aber für die Beteiligten und das Rechtsmittelgericht nachvollziehbar begründen und gegebenenfalls angeben, woher es seine Sachkunde hat (vgl. etwa Beschlüsse vom 31. Juli 2002 - BVerwG 1 B 128.02 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 326, vom 5. Februar 2002 - BVerwG 1 B 18.02 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 319, vom 27. März 2000 - BVerwG 9 B 518.99 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 60, vom 27. Januar 2000 - BVerwG 9 B 613.99 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 228 und vom 11. Februar 1999 - BVerwG 9 B 381.98 - Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 42; jeweils m.w.N.). Für die auch nach der Ansicht des Berufungsgerichts hier entscheidungserheblichen medizinischen (psychotraumatologischen und psychotherapeutischen) Fachfragen (wie insbesondere genaue Diagnose von Art und Schwere der Erkrankung sowie Therapiemöglichkeiten einschließlich Einschätzung des Krankheitsverlaufs bzw. der gesundheitlichen Folgen je nach Behandlung) gibt es keine eigene, nicht durch entsprechende medizinische Sachverständigengutachten vermittelte Sachkunde des Richters.

4 Der Senat weist für das erneute Berufungsverfahren darauf hin, dass das Oberverwaltungsgericht den oben wiedergegebenen - im Rahmen der Prüfung eines Verfahrensmangels im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ohne inhaltliche Kontrolle zugrunde zu legenden materiellrechtlichen - Maßstab für das Vorliegen einer im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG tatbestandsmäßigen erheblichen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit in Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gebildet und angewandt hat. Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts können die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bereits dann erfüllt sein, wenn sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort faktisch unzureichend sind (vgl. Urteile vom 29. Juli 1999 - BVerwG 9 C 2.99 - juris, vom 27. April 1998 - BVerwG 9 C 13.97 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 12 und vom 25. November 1997 - BVerwG 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383 = Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 10). Die befürchtete Verschlimmerung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen als Folge fehlender Behandlungsmöglichkeiten im Zielland der Abschiebung muss zu einer erheblichen Gesundheitsgefahr führen, also eine „Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität“ erwarten lassen; das wäre der Fall, „wenn sich der Gesundheitszustand ... wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde“ (Urteil vom 29. Juli 1999 a.a.O.). Eine (erhöhte) „existentielle“ oder extreme Gefahr - wie sie das Oberverwaltungsgericht verlangt -, die den betroffenen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzung ausliefern würde (Urteil vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <328>), hat das Bundesverwaltungsgericht nur für die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (früher: § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) bei verfassungkonformer Durchbrechung der Sperrwirkung des Satzes 2 wegen sog. Allgemeingefahren gefordert (stRspr; vgl. Urteil vom 17. Oktober 1995 a.a.O. und etwa Beschluss vom 8. April 2002 - BVerwG 1 B 71.02 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 59 sowie Urteil vom 12. Juli 2001 - BVerwG 1 C 2.01 - BVerwGE 114, 379 m.w.N.).