Beschluss vom 25.06.2010 -
BVerwG 8 B 128.09ECLI:DE:BVerwG:2010:250610B8B128.09.0

Beschluss

BVerwG 8 B 128.09

  • VG Cottbus - 17.09.2009 - AZ: VG 1 K 782/07

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 25. Juni 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Gödel und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hauser und Dr. Held-Daab
beschlossen:

  1. Das aufgrund mündlicher Verhandlung vom 17. September 2009 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 141 650 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde hat Erfolg. Zwar ist ihrer Begründung weder die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu entnehmen, noch legt sie eine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO dar. Das angegriffene Urteil beruht aber auf dem darüber hinaus gerügten Verfahrensmangel der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG).

2 1. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Es formuliert keine bestimmte, höchstrichterlich ungeklärte und für die Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts, der eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukäme und die daher in einem Revisionsverfahren zu klären wäre (vgl. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14).

3 Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage,
ob über die Redlichkeit oder Unredlichkeit eines Erwerbs noch nach zwanzig Jahren deutscher Einheit höchste
Stasi-Offiziere darüber entscheidungserheblich mitwirken können, zumal wenn sie sich zur Benutzung eines bestimmten Decknamens, den sie wahrscheinlich verwendeten, ausweichend äußerten,
würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen, weil frühere Offiziere des Staatssicherheitsdienstes der DDR im erstinstanzlichen Verfahren lediglich als Zeugen vernommen wurden, aber nicht an der Entscheidung mitwirkten. Soweit die Beschwerde geklärt wissen will, ob die Erhebung dieses Zeugenbeweises oder jedenfalls die Verwertung dieser Zeugenaussagen grundsätzlich unzulässig ist, erfordert ihre Frage ebenso wie die weitere Frage,
ob Aussagen zur Benutzung und Aufgabe eines konspirativen Objektes von höchsten Offizieren der Hauptverwaltung Aufklärung, die im Betrügen, Täuschen und Spionieren ausgebildet wurden und mit gefälschten Papieren arbeiteten, verwertbar sind,
keine Klärung in einem Revisionsverfahren. Die Klärungsbedürftigkeit fehlt, weil diese Fragen sich schon anhand der üblichen Regeln sachgerechter Gesetzesinterpretation auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung ohne Weiteres beantworten lassen (vgl. Beschluss vom 24. August 1999 - BVerwG 4 B 72.99 - BVerwGE 109, 268 <270> = Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 228). Nach § 86 Abs. 1 VwGO ist das Gericht verpflichtet, den gesamten entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären und die dazu erforderlichen Beweise zu erheben. Der Grundsatz freier Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 VwGO schließt eine Bindung an andere als die gesetzlich - etwa nach § 173 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 415 ff. ZPO bezüglich öffentlicher Urkunden - normierten Beweisregeln aus (Beschluss vom 30. Juli 1986 - BVerwG 3 CB 35.85 - Buchholz 427.2 § 35 FG Nr. 6). Nach § 173 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 373 ff. ZPO entfällt die Zeugenfähigkeit einer Person nicht schon, weil sie früher eine bestimmte Tätigkeit ausgeübt hat oder in den aufzuklärenden Sachverhalt einbezogen war. Ebenso sind die Aussagen eines solchen Zeugen prinzipiell nicht unverwertbar (vgl. BGH, Urteil vom 3. November 1987 - VI ZR 95/87 - MDR 1988, 307 zur Unzulässigkeit der Annahme einer Beweisregel, die den Aussagen einer Zeugengruppe von vornherein einen verminderten Beweiswert zuerkennt). Vielmehr hat das Gericht ihre Glaubhaftigkeit jeweils unter Berücksichtigung aller dafür erheblichen Umstände im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 VwGO zu ermitteln und bei widersprechenden Beweismitteln zu entscheiden, welchem ein höherer Beweiswert zukommt oder ob sich die Beweiswerte gegenseitig aufheben (Beschluss vom 10. Juli 1997 - BVerwG 3 B 49.97 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 275). Die verwaltungsgerichtliche Beweiswürdigung selbst kann mit der Grundsatzrüge nicht angegriffen werden.

4 2. Der Beschwerdebegründung lässt sich auch keine ordnungsgemäße Darlegung einer Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entnehmen. Sie benennt keinen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz, mit dem die Vorinstanz einem in einer Divergenzentscheidung aufgestellten ebensolchen, diese tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hätte. Vielmehr beschränkt sie sich auf die wörtliche Wiedergabe einzelner Passagen aus den von ihr zitierten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts und beanstandet die Anwendung dieser Rechtsprechung durch das angegriffene Urteil, ohne einen mit der zitierten Rechtsprechung unvereinbaren Rechtssatz herauszuarbeiten.

5 3. Zu Recht rügt die Beschwerde jedoch eine Verletzung des Grundsatzes rechtlichen Gehörs. Das Verwaltungsgericht hat Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO verletzt, indem es den Schriftsatz des Beklagten vom 7. September 2009 verwertet hat, ohne den Klägern rechtzeitig Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

6 Der Grundsatz rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO gebietet es, den Prozessbeteiligten Gelegenheit zu geben, sich vor der Entscheidung zum gesamten Prozessstoff, insbesondere zu allen entscheidungserheblichen Umständen und dem darauf bezogenen Vorbringen der übrigen Beteiligten zu äußern. Das Gericht ist daher verpflichtet, die Beteiligten vollständig und rechtzeitig über alle zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze zu unterrichten. Jeder Beteiligte darf sich darauf verlassen, dass sich in der Gerichtsakte, auf deren Inhalt die Entscheidung aufbaut, keine Schriftsätze anderer Beteiligter befinden, die er nicht kennt. Das Gericht darf seiner Entscheidung nur denjenigen Akteninhalt zugrunde legen, der allen Beteiligten bekannt ist und zu dem sie deshalb auch gemäß § 108 Abs. 2 VwGO Stellung nehmen konnten (Urteil vom 25. Mai 1988 - BVerwG 6 C 40.86 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 201).

7 Diesen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Wie die Beschwerdebegründung zutreffend darlegt, hat das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung Vorbringen des Beklagten aus dessen Schriftsatz vom 7. September 2009 verwertet, ohne den Klägern rechtzeitig eine Stellungnahme zu ermöglichen. Die schriftsätzlichen Ausführungen des Beklagten zur Würdigung der bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Aussagen der Zeugen M. und V. hat es ebenso berücksichtigt wie den beigefügten Auszug aus dem Neunten Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR-2009, der auf die im Juni 2007 erschienene Untersuchung Müller-Enbergs („Rosenholz“. Eine Quellenkritik, Berlin 2007, unter Mitarbeit von Sabine Fiebig, Günter Finck, Georg Herbstritt und Stephan Konopatzky) als unverzichtbares Werkzeug zur Deutung und Analyse der in der „Rosenholz“-Datei enthaltenen Informationen verweist. Für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussagen hat das Verwaltungsgericht mehrere Passagen dieses Werkes herangezogen (vgl. Seite 57 bis 59 des Urteilsabdrucks).

8 Die Verwertung des Schriftsatzes, der beigefügten Anlage und des dort zitierten Werkes war unzulässig, weil das Verwaltungsgericht versäumt hat, die Kläger rechtzeitig davon zu unterrichten und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Trotz des unmittelbar bevorstehenden Termins zur mündlichen Verhandlung am 17. September 2009 hat es den Schriftsatz am 14. September 2009 mit einfacher Post an den Prozessbevollmächtigten der Kläger gesandt. In dessen Kanzlei ging das Schriftstück erst am Mittag des 17. September 2009, also nach Beginn der mündlichen Verhandlung ein. Im Termin selbst hat das Gericht den Klägern nur den am Tag zuvor eingegangenen Schriftsatz der Beigeladenen zur Kenntnis gegeben, ohne sich des rechtzeitigen Zugangs des Schriftsatzes des Beklagten zu vergewissern. Dass der Beklagte seine schriftsätzliche Argumentation in seine Stellungnahme im Termin zur mündlichen Verhandlung einfließen ließ, kann die rechtzeitige Übermittlung des Schriftsatzes an die Kläger schon mangels Gelegenheit zur Stellungnahme auch zur beigefügten Anlage und der dort zitierten Untersuchung nicht ersetzen.

9 Auf Zweifel, ob der zusätzlich gerügte Aufklärungsmangel durch Übergehen eines - nicht förmlich im Termin zur mündlichen Verhandlung gestellten und daher nur als Beweisanregung zu wertenden - „Beweisantrags“ auf Einholen eines Gutachtens des Bundesbeauftragten gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO ordnungsgemäß dargelegt ist, kommt es danach nicht mehr an.

10 4. Der Senat macht von der Möglichkeit der Aufhebung der Entscheidung und der Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht Gebrauch (§ 133 Abs. 6 VwGO), damit dieses die Gewährung rechtlichen Gehörs nachholen und die dadurch ermöglichte Stellungnahme der Kläger bei seiner Beweiswürdigung berücksichtigen kann.

11 Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.