Verfahrensinformation

Die Revision ist vom Berufungsgericht zugelassen worden, weil die grundsätzlich bedeutsame Frage, ob auch im Falle des Unterschreitens der Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 BSHG in den ersten 12 Monaten der Leistungsgewährung auf diesen Zeitraum abzustellen ist, durch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Dezember 2000 nicht abschließend geklärt ist.


Verfahrensinformation

Die Revision ist vom Berufungsgericht zugelassen worden, weil die grundsätzlich bedeutsame Frage, ob auch im Falle des Unterschreitens der Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 BSHG in den ersten 12 Monaten der Leistungsgewährung auf diesen Zeitraum abzustellen ist, durch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Dezember 2000 nicht abschließend geklärt ist.


Urteil vom 26.09.2002 -
BVerwG 5 C 1.02ECLI:DE:BVerwG:2002:260902U5C1.02.0

Leitsatz:

Die Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG steht einem Anspruch auf Erstattung der in einem zusammenhängenden Zeitraum von bis zu zwölf Monaten der Leistungsgewährung aufgewendeten Kosten nicht entgegen, wenn erstattungsfähige Kosten von 5 000 DM oder mehr angefallen sind; es ist nicht erforderlich, dass die Bagatellgrenze bereits in den ersten zwölf Monaten der Leistungsgewährung überschritten worden ist (Fortführung von BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 2000 - BVerwG 5 C 30.99 - FEVS 52, 221 = Buchholz 436.0 § 111 BSHG Nr. 4).

  • Rechtsquellen
    BSHG § 111 Abs. 2 Satz 1

  • OVG Schleswig - 28.11.2001 - AZ: OVG 2 L 63/01 -
    Schleswig-Holsteinisches OVG - 28.11.2001 - AZ: OVG 2 L 63/01

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 26.09.2002 - 5 C 1.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2002:260902U5C1.02.0]

Urteil

BVerwG 5 C 1.02

  • OVG Schleswig - 28.11.2001 - AZ: OVG 2 L 63/01 -
  • Schleswig-Holsteinisches OVG - 28.11.2001 - AZ: OVG 2 L 63/01

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
ohne mündliche Verhandlung am 26. September 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. S ä c k e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l , Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. November 2001 wird aufgehoben. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 14. August 2000 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

I


Der Kläger begehrt von dem Beklagten Kostenerstattung gemäß § 107 Abs. 1 BSHG, welche dieser unter Berufung auf § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG verweigert.
Der Kläger hatte dem Hilfeempfänger A. in der Zeit vom 1. November 1996 bis zum 28. Februar 1998 ergänzende Leistungen der Sozialhilfe (laufende Hilfe zum Lebensunterhalt) gewährt. Der Hilfeempfänger war zum 18. Oktober 1996 aus dem Zuständigkeitsbereich des Beklagten in den Zuständigkeitsbereich des Klägers verzogen. Die Leistungen wurden zum 28. Februar 1998 eingestellt.
Die Sozialhilfeaufwendungen für den Hilfeempfänger erreichten für die Zeit vom 1. November 1996 bis 31. Oktober 1997 den Betrag von 5 000 DM nicht; für den Zeitraum vom 1. März 1997 bis zum 28. Februar 1998 betrugen die bereinigten Aufwendungen 5 290,78 DM.
Der Kläger meldete unter dem 4. November 1996 bei dem Beklagten seinen künftigen Anspruch auf Kostenerstattung nach § 107 Abs. 1 BSHG an. Der Beklagte erkannte unter dem 21. Februar 1997 eine Kostenerstattungspflicht in den durch § 111 BSHG gezogenen Grenzen für die Zeit vom 1. November 1996 bis längstens 17. Oktober 1998 an und erbat unter Hinweis auf die Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 BSHG die jährliche Vorlage einer detaillierten Kostenrechnung. Unter dem 25. Februar 1998 forderte der Kläger den Beklagten zur Erstattung von Kosten in Höhe von (zunächst) 6 375,44 DM für in der Zeit vom 1. März 1997 bis 28. Februar 1998 angefallene Sozialhilfekosten auf. Der Beklagte lehnte dies unter Hinweis auf § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG ab, weil in den ersten zwölf Monaten der Leistungsgewährung die Sozialhilfeaufwendungen die Bagatellgrenze von 5 000 DM nicht überschritten hätten.
Das Verwaltungsgericht hat auf die am 1. März 2000 erhobene Klage, die hinsichtlich eines Teilbetrages zurückgenommen worden ist, den Beklagten verurteilt, dem Kläger die in der Zeit vom 1. März 1997 bis zum 28. Februar 1998 an den Hilfeempfänger erbrachte Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 5 290,78 DM zu erstatten. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Kostenerstattung stehe nicht entgegen, dass die Sozialhilfeaufwendungen in den ersten zwölf Monaten nach Einsetzen der Hilfe den Betrag von 5 000 DM nicht überstiegen. Erforderlich, aber auch hinreichend sei, dass dieser Betrag in einem Zeitraum von zwölf zusammenhängenden Monaten überschritten worden sei, dessen Beginn der kostenerstattungsberechtigte Träger innerhalb des Zwei-Jahres-Zeitraumes des § 107 Abs. 2 Satz 2 BSHG beliebig wählen könne.
Das Oberverwaltungsgericht hingegen hat auf die Berufung des Beklagten das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 19. Dezember 2000 - BVerwG 5 C 30.99 -) beziehe sich die Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG auf ei-nen objektiv feststellbaren Leistungszeitraum und nicht auf vom Erstattungsberechtigten bestimmte, rechtlich selbständige Abrechnungszeiträume. Es genüge, dass die Bagatellgrenze in den ersten zwölf Monaten des Zeitraumes der Leistungsgewährung erreicht werde; dies sei hier nicht der Fall. Mangels Regelungen über ein Abrechnungsverfahren könne der Erstattungsberechtigte in den Fällen, in denen eine Erstattung wegen Überschreitung der Bagatellgrenze überhaupt in Betracht komme, zwar den jeweiligen Abrechnungszeitraum frei wählen; die Feststellung des Leistungszeitraumes, der Grundlage für die Berechnung des Über- oder Unterschreitens der Bagatellgrenze sei, sei hingegen vom Willen des Erstattungsberechtigten unabhängig. Hierfür sei auf die ersten zwölf Monate des Leistungsbezuges abzustellen; das Alles- oder Nichts-Prinzip, das für den Fall des Überschreitens der Bagatellgrenze in den ersten zwölf Monaten anzuwenden sei, müsse gleichermaßen auch für den Fall gelten, dass die Bagatellgrenze in diesem Zeitraum nicht überschritten werde. Eine flexible Bestimmung des Zwölf-Monats-Zeitraumes kompliziere das Erstattungsverfahren, statt es zu vereinfachen, fördere in Grenzfällen Tendenzen der Manipulation und setze voraus, dass ein Träger der Sozialhilfe den Erstattungsfall kontinuierlich daraufhin zu überprüfen habe, ob die Erstattungsvoraussetzungen erfüllt seien.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG. Der Beklagte verteidigt das Berufungsurteil.

II


Die Revision des Klägers, über die das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet. Die Verurteilung des Beklagten zur Kostenerstattung durch das Verwaltungsgericht ist rechtens, das Berufungsurteil ist mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) nicht vereinbar und unter Zurückweisung der Berufung aufzuheben (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
Zu Unrecht hat das Berufungsgericht angenommen, § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG stehe einem Erstattungsanspruch für die Zeit vom 1. März 1997 bis zum 28. Februar 1998, in welcher Kosten von mehr als 5 000 DM erreicht wurden, entgegen, weil in den ersten zwölf Monaten der Leistungsgewährung die Kosten 5 000 DM nicht erreicht haben.
Nach § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG in der seit dem 1. Januar 1994 geltenden Fassung des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms - FKPG - vom 23. Juni 1993 (BGBl I S. 944) sind "Kosten unter 5 000 Deutsche Mark, bezogen auf einen Zeitraum der Leistungsgewährung von bis zu zwölf Monaten, ... nicht zu erstatten". Die in dem Urteil des Senats vom 19. Dezember 2000 - BVerwG 5 C 30.99 - (FEVS 52, 221 = Buchholz 436.0 § 111 BSHG Nr. 4) nicht entscheidungserhebliche Frage, ob die Bagatellgrenze des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG einem Anspruch auf Erstattung der in einem zusammenhängenden Zeitraum von bis zu zwölf Monaten der Leistungsgewährung aufgewendeten Kosten dann entgegensteht, wenn die erstattungsfähigen Kosten den Bagatellbetrag von 5 000 DM nicht - wie in dem in jenem Urteil entschiedenen Fall - bereits in den ersten zwölf Monaten des Leistungszeitraumes, sondern erst innerhalb von zwölf späteren, aufeinanderfolgenden Monaten überschreiten, ist entgegen der Vorinstanz zu verneinen.
Der Wortlaut des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG legt den Beginn des Zwölf-Monats-Zeitraumes, in dem die Bagatellgrenze erreicht sein muss, nicht fest. Der Gesetzgeber hat im Gegensatz zu der Kostenerstattungsregelung des § 107 Abs. 2 Satz 2 BSHG auf eine Fixierung des Fristlaufes (etwa durch den Zusatz "..., bezogen auf die ersten zwölf Monate der Leistungsgewährung ..." oder "..., bezogen auf einen Zeitraum von bis zu zwölf Monaten seit Beginn der Leistungsgewährung ...") verzichtet und mit der Verwendung des unbestimmten Artikels ("einen" Zeitraum) zum Ausdruck gebracht, dass der maßgebliche Leistungszeitraum nicht notwendig schon mit dem Einsetzen der Leistung beginnt.
Die Festlegung des Beginns des für die Bagatellgrenzenregelung maßgeblichen Zeitraums der Leistungsgewährung auf den tatsächlichen Beginn der Leistungsgewährung folgt auch nicht aus dem Regelungszusammenhang. Die Auslegung des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG hat jedenfalls auch die Fälle zu berücksichtigen, in denen der Zeitraum der Leistungsgewährung, für den ein Kostenerstattungsanspruch ausgelöst wird, zwölf Monate übersteigt und wegen Aufwendungen in wechselnder Höhe die Bagatellgrenze zwar nicht in den ersten zwölf Monaten der Leistungsgewährung, wohl aber während des erstattungsrelevanten Leistungszeitraumes in einem beliebigen Zwölf-Monats-Zeitraum in der Folgezeit überschritten worden ist. Diesen Fällen wird eine Auslegung nicht gerecht, die allein auf die ersten zwölf Monate der Leistungsgewährung abstellt. Der vom Berufungsgericht erwogene Ansatz, dann zwölf Monate nach Beginn des tatsächlichen Leistungsbeginns einen neuen, eigenständigen Zwölf-Monats-Zeitraum beginnen zu lassen, führte zur Bildung rechtlich je selbständiger Bezugszeiträume, wofür sich im Wortlaut des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG keine Stütze findet. § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG stellt keine Regelungen für das Abrechnungsverfahren selbst auf (BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 2000 - BVerwG 5 C 30.99 -, FEVS 52, 221 = Buchholz 436.0 § 111 BSHG Nr. 4) und enthält auch keine Anhaltspunkte für die Bildung rechtlich selbständiger, getrennter Betrachtung zugänglicher Zeitabschnitte für die Berechnung der Überschreitung der Bagatellgrenze.
Sinn und Zweck des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG gebieten ebenfalls nicht, den Beginn des Zwölf-Monats-Zeitraumes auf den tatsächlichen Beginn der Leistungsgewährung festzusetzen. Die Regelung bezweckt eine Begrenzung der verwaltungsaufwändigen Kostenerstattungsfälle sowie eine Vereinfachung des Kostenerstattungsverfahrens unter Beachtung des Erfordernisses normativer Klarheit und Vorhersehbarkeit (vgl. BTDrucks, 12/4401, S. 84 zu Nr. 17). Diesen Zwecken entspricht auch eine Auslegung, nach welcher die für die Erstattung notwendige Überschreitung der Bagatellgrenze innerhalb eines Zeitraums von bis zu zwölf Monaten sich in rückschauender Betrachtung ergibt. Die zeitraumbezogene Erhöhung der Bagatellgrenze durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms bewirkt eine deutliche Beschränkung der Zahl der Kostenerstattungsfälle. Da der Gesetzgeber im Übrigen an tatbestandlich gebundenen Erstattungspflichten festgehalten und diese durch die Neuregelung des § 107 BSHG sogar erweitert hat, ist aus dem Gesetzeszweck eine weiter gehende Beschränkung von Kostenerstattungsansprüchen, die aus einem mit der tatsächlichen Leistungsaufnahme zusammenfallenden Beginn des Zwölf-Monats-Zeitraumes für die Überschreitung der Bagatellgrenze folgen würde, nicht herzuleiten. Auch der Zweck einer Begrenzung des Verwaltungsaufwandes gebietet es nicht, den Beginn des Zwölf-Monats-Zeitraumes stets mit dem tatsächlichen Leistungsbeginn gleichzusetzen. Der Verwaltungsaufwand entsteht bei Kostenerstattungsfällen aus der Bearbeitung als solcher, namentlich der Prüfung, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen der in § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG vorausgesetzten Kostenerstattungsnorm erfüllt sind, ob Leistungen, deren Erstattung begehrt wird (§ 111 Abs. 1 Satz 1 BSHG), rechtmäßig gewährt worden sind und im Rahmen des § 111 Abs. 2 Satz 1 BSHG weiterhin aus der Prüfung, ob die hiernach berücksichtigungsfähigen Kosten innerhalb eines Zeitraumes von (bis zu) zwölf Monaten den Betrag von 5 000 DM erreichen. Der Berechnungsaufwand wird von der Frage, in Bezug auf welchen Zwölf-Monats-Zeitraum diese Berechnung vorzunehmen ist, nicht auslegungsrelevant berührt. Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit sind für den erstattungspflichtigen Träger der Sozialhilfe dadurch gesichert, dass der Erstattungsberechtigte den Rahmen der zeitlichen Vorgabe aus § 111 SGB X zu beachten hat. Soweit der Beklagte eine "Manipulation" des Zeitpunktes einer Leistungsgewährung, etwa durch zeitliche Verlagerung der Gewährung einmaliger Leistungen, befürchtet, bestünde eine solche Gefahr auch bei Beginn des Berechnungszeitraumes schon im Zeitpunkt des tatsächlichen Leistungsbeginns.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit aus § 188 Satz 2 VwGO; § 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO in der ab dem 1. Januar 2002 geltenden Fassung ist nach § 194 Abs. 5 VwGO noch nicht anzuwenden, weil das Verfahren vor dem 1. Januar 2002 bei dem Bundesverwaltungsgericht anhängig geworden ist.