Pressemitteilung Nr. 75/2008 vom 03.11.2008

Eilantrag gegen den Bau der A 44 im Abschnitt Hessisch Lichtenau-Ost bis Hasselbach weitgehend erfolgreich

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat dem Eilantrag eines in Hessen anerkannten Naturschutzvereins gegen den Neubau der Bundesautobahn A 44 östlich von Hessisch Lichtenau weitgehend stattgegeben. Damit darf - abgesehen von einer auf weiten zeitlichen Vorlauf angewiesenen naturschutzrechtlichen Kompensationsmaßnahme - nicht mit Arbeiten zur Vollziehung des angegriffenen Planfeststellungsbeschlusses begonnen werden. Der ergangene Gerichtsbeschluss bedeutet keine Vorentscheidung über den Ausgang des Hauptsacheverfahrens.


Mit dem Projekt der A 44 zwischen Kassel und Eisenach soll eine Lücke auf der Autobahnverbindung Rhein/Ruhr - Kassel - Dresden geschlossen werden. Ein Teilabschnitt der neuen Autobahn ist bereits fertig gestellt, ein weiterer aufgrund eines rechtskräftig bestätigten Planfeststellungsbeschlusses in Bau. Im hier betroffenen Teilabschnitt soll die Autobahntrasse in einem engen Korridor zwischen Teilbereichen eines nach europäischem Gemeinschaftsrecht ausgewiesenen Fauna-Flora-Habitat-Gebiets (FFH-Gebiets) verlaufen. Mit seiner Klage macht der Verein geltend, die geplante Trassenführung verstoße gegen das Gemeinschaftsrecht, da sie die Erhaltungsziele des Schutzgebiets erheblich beeinträchtige und eine deshalb erforderliche Abweichungsentscheidung fehle.


Das Bundesverwaltungsgericht hat seine Entscheidung über den Baustopp aufgrund einer Interessenabwägung getroffen: Der Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache sei offen. Die Klage werfe eine Vielzahl zum Teil schwieriger tatsächlicher und rechtlicher Fragen des europäischen Naturschutzrechts auf, die erst im Hauptsacheverfahren verlässlich geklärt werden könnten. Unter diesen Umständen sei es trotz des öffentlichen Interesses an einem zügigen Baubeginn vordringlich, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern, die die Beeinträchtigung gewichtiger, auch gemeinschaftsrechtlich geschützter Gemeinwohlbelange des Naturschutzes zur Folge haben könnten.


BVerwG 9 VR 3.08 - Beschluss vom 28.10.2008


Beschluss vom 28.10.2008 -
BVerwG 9 VR 3.08ECLI:DE:BVerwG:2008:281008B9VR3.08.0

Beschluss

BVerwG 9 VR 3.08

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. Oktober 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Storost
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Nolte und Domgörgen
beschlossen:

  1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Planfeststellungsbeschluss des Antragsgegners vom 16. November 2007 für den Neubau der Bundesautobahn A 44 Kassel - Herleshausen, Teilabschnitt Anschlussstelle Hessisch Lichtenau-Ost bis Hasselbach, wird angeordnet.
  2. Von der Anordnung ausgenommen ist die Teilregelung, die die Kompensationsmaßnahme A/E 2.1 des landschaftspflegerischen Begleitplans (Entwicklung eines Habitatverbundes für Reptilien und andere thermophile Arten) betrifft. Insoweit wird der Antrag abgelehnt.
  3. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Der Antragsteller, ein im Land Hessen anerkannter Naturschutzverein, begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Anfechtungsklage gegen den Planfeststellungsbeschluss des Antragsgegners vom 16. November 2007 für den Neubau der Bundesautobahn A 44 Kassel - Herleshausen im Teilabschnitt von der Anschlussstelle Hessisch Lichtenau-Ost bis Hasselbach. Er macht geltend, die geplante Trassenführung verstoße gegen europäisches Naturschutzrecht; dies insbesondere, weil das Vorhaben entgegen der Annahme des Antragsgegners zu erheblichen Beeinträchtigungen mehrerer FFH-Gebiete und europäischer Vogelschutzgebiete führe und die Voraussetzungen einer deshalb erforderlichen Abweichungsentscheidung fehlten.

II

2 Der Antrag, gegen dessen Zulässigkeit keine durchgreifenden Bedenken bestehen, ist im Wesentlichen begründet. Das Interesse des Antragstellers am Unterbleiben von Vollzugsmaßnahmen bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens überwiegt das Interesse des Antragsgegners an der sofortigen Vollziehung des Planfeststellungsbeschlusses. Abweichendes gilt nur in Bezug auf die Kompensationsmaßnahme A/E 2.1 des landschaftspflegerischen Begleitplans, für deren sofortige Vollziehung ein überwiegendes öffentliches Interesse zu bejahen ist.

3 Der Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache ist offen. Im Hauptsacheverfahren stellt sich eine Vielzahl zum Teil schwieriger Rechts- und Tatsachenfragen, die neben dem Artenschutz namentlich den gemeinschaftsrechtlich veranlassten Gebietsschutz betreffen und deren Beantwortung sich mit der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht hinreichend prognostizieren lässt. Das trifft in rechtlicher Hinsicht vor allem für die ordnungsgemäße Abgrenzung von FFH-Gebieten, für die Berücksichtigung der in Folgeabschnitten des Vorhabens zu erwartenden weiteren Auswirkungen auf die im planfestgestellten Abschnitt betroffenen FFH-Gebiete sowie für die Frage zu, ob und inwieweit der Schutzgehalt der Erhaltungsziele solcher FFH-Gebiete, die in mehrere Teilgebiete zerfallen, auf die Korridore zwischen den Teilgebieten ausstrahlt. In tatsächlicher Hinsicht werden voraussichtlich insbesondere Fragen im Zusammenhang mit den Verhaltensgewohnheiten der Fledermausarten Großes Mausohr und Bechsteinfledermaus, ihrer Störanfälligkeit, ihrer Anpassungsfähigkeit an veränderte Gelände- und Bewuchsstrukturen sowie der Eignung planfestgestellter Schutzmaßnahmen wie Irritationsschutzwände und Überflughilfen näher zu prüfen sein. Trotz hilfsweise durchgeführter Abweichungsprüfung lässt sich der Ausgang des Rechtsstreits nicht losgelöst von diesen Fragen hinreichend verlässlich prognostizieren, da von ihrer Klärung auch abhängt, ob sich die der Abweichungsprüfung zugrunde gelegten Annahmen als tragfähig erweisen.

4 Unter diesen Umständen entspricht es trotz des gesteigerten Vollzugsinteresses, das mit der Aufnahme des Vorhabens in den Fernstraßenbedarfsplan als vordringlicher Bedarf indiziert ist, einer angemessenen Interessenabwägung, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern, die zur Folge haben könnten, dass gewichtige, auch gemeinschaftsrechtlich geschützte Gemeinwohlbelange des Naturschutzes beeinträchtigt werden und naturschutzrechtlich gebotene Verfahrensweisen und Vorkehrungen nicht mit dem ihnen rechtlich gebührenden Gewicht zum Tragen kommen (vgl. Beschluss vom 14. April 2005 - BVerwG 4 VR 1005.04 - BVerwGE 123, 241 ff.). Davon betroffen sind insbesondere auch die Vorhabenteile, die der Antragsgegner zeitnah verwirklichen will, wie der Bau von Grün- und Straßenbrücken sowie die Verlegung der B 7; unter Berücksichtigung des Vortrags des Antragstellers lässt sich nicht mit der nötigen Sicherheit ausschließen, dass es bereits durch diese baulichen Maßnahmen zu negativen Auswirkungen auf die Erhaltungsziele der Schutzgebiete kommt.

5 Eine Ausnahme bildet lediglich die Ersatzmaßnahme A/E 2.1 des landschaftspflegerischen Begleitplans. Einerseits ist das Interesse, ihre Verwirklichung sofort in Angriff zu nehmen, besonders dringlich, da sie nach den vom Antragsteller nicht in Zweifel gezogenen Angaben im landschaftspflegerischen Begleitplan (S. 292) mindestens zwei Vegetationsperioden vor Beginn der eigentlichen Bauarbeiten bzw. vor Umsiedlung der Schlingnatter durchgeführt sein muss; andererseits sind Belange des Naturschutzes, die durch die Kompensationsmaßnahme beeinträchtigt werden könnten, weder vom Antragsteller geltend gemacht worden, noch sonst zutage getreten.

6 Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 3 Nr. 2, § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG.