Beschluss vom 30.07.2003 -
BVerwG 8 B 70.03ECLI:DE:BVerwG:2003:300703B8B70.03.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 30.07.2003 - 8 B 70.03 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:300703B8B70.03.0]

Beschluss

BVerwG 8 B 70.03

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 14.01.2003 - AZ: OVG 15 A 4115/01

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Juli 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. M ü l l e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a g e n k o p f und K r a u ß
beschlossen:

  1. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Januar 2003 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 28 345,37 € festgesetzt.

Die Beschwerde der Beklagten ist mit dem Ergebnis der Zurückverweisung der Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO begründet. Es liegt ein geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
Die mit der Beschwerde erhobene Verfahrensrüge, das Oberverwaltungsgericht habe den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (§ 86 Abs. 1 VwGO), greift durch. Zu Recht hat die Beschwerde gerügt, das Oberverwaltungsgericht habe es unterlassen, über die Ursächlichkeit der Einleitung von perhaltigem Kontaktwasser im Jahre 1992 für den 1996 eingetretenen Schadensfall im Kanal vor dem Hause F.-Straße 44 Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu erheben. Der Senat lässt es dabei dahinstehen, ob insoweit auch der Überzeugungsgrundsatz, der das Tatsachengericht verpflichtet, bei der Bildung der Überzeugung von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt auszugehen (vgl. nur Urteil vom 18. Mai 1990 - 7 C 3.90 - BVerwGE 85, 155 <158>; Beschluss vom 18. Juli 2001 - BVerwG 8 B 103.01 -), verletzt worden ist.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Auffassung vertreten, dass die Verletzung des Eigentums der Klägerin durch unzulässige Perchlorethyleneinleitung in den Anschluss des Hauses F.-Straße 44 allein oder zusammen durch weitere Perchlorethyleneinleitungen von anderen Grundstücken verursacht worden ist (u.a. S. 17 f.). Dabei hat es ohne eigene Sachaufklärung mit Hilfe eines Beweises des ersten Anscheins angenommen, dass die Beklagte oder einer ihrer Verrichtungsgehilfen den genannten chemischen Stoff vorsätzlich oder fahrlässig in den Hausanschluss des genannten Hauses eingeleitet haben. Das Oberverwaltungsgericht hat somit aber die ihm obliegende Aufklärung der Ursächlichkeit und des Verschuldens unterlassen, obwohl sich ihm auf der Grundlage seiner materiellen Auffassung die Notwendigkeit weiterer Sachaufklärung hätte aufdrängen müssen. Denn die Frage der Schadensverursachung und des Verschuldens ist für das Berufungsgericht, das einen Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB durchgreifen lässt, entscheidungserheblich. Die zwischen den Beteiligten von Anfang an streitige und auch vom Verwaltungsgericht im Sinne der Beklagten entschiedene Frage der Kausalität und des Verschuldens ist für den Erfolg der Klage von entscheidender Bedeutung. Insoweit hat aber das Berufungsgericht keine eigenen tatsächlichen Feststellungen getroffen, sondern es hat sich stattdessen auf die Rechtsfigur des Beweises des ersten Anscheins gestützt. Damit hat es zugleich auf weitere Maßnahmen zur Aufklärung der Schadensverursachung verzichtet, etwa durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, was die Beklagtenseite ausdrücklich in ihrem Schriftsatz vom 15. Februar 2002 beantragt hat.
Dieser Verzicht ist mit § 86 Abs. 1 VwGO nur ganz ausnahmsweise vereinbar, wenn es nämlich um einen Sachverhalt geht, der nach der Lebenserfahrung regelmäßig auf einen bestimmten Verlauf hinweist und es deshalb rechtfertigt, die besonderen Umstände des einzelnen Falles in ihrer Bedeutung zurücktreten zu lassen und ohne weiteres von einem bestimmten Kausalitätsverlauf auszugehen (vgl. Beschluss vom 1. Dezember 1995 - BVerwG 8 B 150.95 - NWVBl 1996, 125 f.). Zu Recht weist die Beschwerde darauf hin, dass für einen solchen typischen Kausalverlauf der festgestellte Sachverhalt keine hinreichend sichere Grundlage bietet, wie bereits das Verwaltungsgericht in seinem Urteil zutreffend erkannt hat. Die Beklagte hat von Anfang an auch auf andere mögliche Ursachen für die erhöhte Perkonzentration hingewiesen. Insbesondere ist nicht ausgeschlossen, dass andere Einleiter in Betracht kommen, zumal die Identität des im Betrieb der Klägerin gelagerten chemischen Stoffs mit dem im Kanal gefundenen Stoff trotz entsprechender Untersuchung nicht geklärt werden konnte.
Erhebliche Zweifel bestehen auch am Vorliegen des für den Beweis des ersten Anscheins notwendigen typischen Geschehensablaufs in zeitlicher Hinsicht. Es soll darin liegen, dass eine 1992 nach dem Vortrag der Beklagten letztmals erfolgte Einleitung von perhaltigem Kontaktwasser noch Auswirkungen im Jahre 1996 hat. Ob das aber ein typischer Geschehensverlauf ist, wird in der angegriffenen Entscheidung aber gerade nicht begründet. Für das Vorliegen eines typischen Kausalverlaufs hat das Oberverwaltungsgericht auch insoweit keine näheren Feststellungen getroffen.
Selbst wenn aber die Rechtsfigur des Beweises des ersten Anscheins vorliegend eingreifen könnte, wenn zuvor die zu einer Annahme notwendigen Tatsachen festgestellt worden sind, hätte das Oberverwaltungsgericht prüfen müssen, ob der Beweis des ersten Anscheins durch den Vortrag der Beklagten erschüttert worden ist. In diesem Fall hätte es den vorliegenden Beweisangeboten der Beklagten nachgehen müssen. Auch ohne in der mündlichen Verhandlung gestellten förmlichen Beweisantrag hätte es sich dem Berufungsgericht aufdrängen müssen, mittels eines Sachverständigengutachtens den Sachverhalt hinsichtlich möglicher anderer Schadensursachen und möglicherweise durch Zeugenvernehmung bezüglich des vom Senat unterstellten Verschuldens der Bediensteten der Beklagten näher aufzuklären.
Im Übrigen hat das Oberverwaltungsgericht seine möglicherweise bestehende eigene Sachkunde zur Beurteilung der hier getroffenen naturwissenschaftlich-technischen Fragen in der Entscheidung nicht dargelegt, was ebenfalls einen Verfahrensmangel begründet. Das Urteil kann auch, wie die Beschwerde zutreffend dargelegt hat, auf diesen Verfahrensmängeln beruhen.
Bei seiner erneuten Entscheidungsfindung wird das Oberverwaltungsgericht zu berücksichtigen haben, dass die Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins nur bei Vorliegen eines "typischen Geschehensablaufs" eingreifen können und dass hierzu tatsächliche Feststellungen, gegebenenfalls mit Hilfe eines Sachverständigengutachtens zu treffen sind. Auch wird sich das Berufungsgericht mit der einen Beweis des ersten Anscheins bei einer vergleichbaren Fallgestaltung verneinenden zivilrechtlichen Rechtsprechung (vgl. OLG Köln, Urteil vom 3. Dezember 1992 - 1 U 17/91 - VersR 1993, 894 f.), aber auch mit den nachvollziehbaren Erwägungen des verwaltungsgerichtlichen Urteils zur Notwendigkeit eines Strengbeweises näher befassen müssen (UA S. 9 f.).
Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit von der Zurückverweisung gemäß § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, weil es dem Tatsachengericht obliegt, die erforderlichen Tatsachenfeststellungen durchzuführen.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 13, 14 GKG.