Verfahrensinformation

Der 1978 im Kosovo geborene Kläger reiste 1996 nach Deutschland ein. Nach erfolglosem Asylverfahren und Eheschließung mit einer Deutschen erhielt er im Jahr 2000 eine befristete und später eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Im Februar 2008 wurde er wegen Beihilfe zum vollendeten bzw. versuchten schweren Bandendiebstahl in 15 Fällen rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten verurteilt. Daraufhin wies das Regierungspräsidium Karlsruhe ihn im Juni 2009 aus und drohte ihm die Abschiebung in den Kosovo an. Die Klage des inzwischen von seiner deutschen Ehefrau geschiedenen und mit einer Kosovarin verheirateten Klägers blieb in erster Instanz ohne Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hat auf die Berufung des Klägers die Ausweisung aufgehoben. Da vom Kläger derzeit keine Wiederholungsgefahr mehr ausgehe, sei die Ausweisung, die allein der Abschreckung anderer Ausländer von ähnlichen Straftaten diene, rechtswidrig. Die von der Rechtsprechung geschaffene Rechtsfigur der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen habe nicht nur bei Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, sondern auch bei in Deutschland nachhaltig „verwurzelten“ Ausländern ihre Berechtigung jedenfalls mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages am 1. Dezember 2009 grundsätzlich verloren. Mit Blick auf die Aufwertung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und damit auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte insbesondere zum Schutz des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK sei sie nur noch ausnahmsweise bei ganz besonders schweren Straftaten (etwa Terrorismusdelikten) zulässig. Eine solche Straftat liege bei dem Kläger, der seit 14 Jahren in Deutschland lebe und hier nachhaltig „verwurzelt“ sei, nicht vor. Hiergegen richtet sich die vom Verwaltungsgerichtshof wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Revision des Beklagten.


Pressemitteilung Nr. 14/2012 vom 14.02.2012

Keine unbefristete Ausweisung „verwurzelter“ Ausländer aus generalpräventiven Gründen

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute seine bisherige Rechtsprechung bestätigt, nach der eine Ausweisung straffällig gewordener Ausländer, die besonderen Ausweisungsschutz nach nationalem Recht genießen, unter engen Voraussetzungen auch allein aus generalpräventiven Gründen zulässig sein kann. Es hat sie dahin fortentwickelt, dass eine solche Ausweisung grundsätzlich mit einer Befristung ihrer Wirkungen verbunden sein muss. 


Der Entscheidung lag der Fall eines kosovarischen Staatsangehörigen zugrunde, der 1996 im Alter von 18 Jahren nach Deutschland kam und seit 2004 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besaß. Nachdem er im Februar 2009 wegen Beihilfe zum schweren Bandendiebstahl in mehreren Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten verurteilt worden war, wies ihn das Regierungspräsidium Karlsruhe im Juni 2009 aus der Bundesrepublik Deutschland aus. Die Ausweisung war sowohl zur Abwehr der vom Kläger ausgehenden Gefahren (Spezialprävention) als auch zur abschreckenden Einwirkung auf andere Ausländer (Generalprävention) verfügt worden. Das Verwaltungsgericht hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Von dem Kläger, der inzwischen unter Aussetzung des Strafrests zur Bewährung aus der Strafhaft entlassen worden sei, gehe zwar keine Wiederholungsgefahr aus. Die Ausweisung sei aber wegen der besonderen Schwere der von ihm begangenen Straftaten aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hat der Berufung des Klägers stattgegeben und die Ausweisung aufgehoben. Sie sei nicht, wie nach dem Gesetz erforderlich (§ 56 Abs. 1 Satz 2 Aufenthaltsgesetz), aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt. Ein allein generalpräventiv begründetes öffentliches Interesse an der Ausweisung stelle bei der Personengruppe der „verwurzelten“ Ausländer, zu der der Kläger gehöre, regelmäßig keinen schwerwiegenden Grund in diesem Sinne dar. Vor dem Hintergrund, dass nach dem Recht der Europäischen Union für etwa zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Ausländer ein absolutes Verbot der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen bestehe, sei in Anpassung an diese Rechtslage auch bei nachhaltig „verwurzelten“ sonstigen Ausländern eine solche Ausweisung regelmäßig unzulässig.


Der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts ist dieser Auffassung nicht gefolgt. Aus den vom Verwaltungsgerichtshof aufgeführten Umständen lässt sich für die von den Privilegierungen des Unionsrechts nicht erfassten Ausländer ein regelmäßiges Verbot generalpräventiv begründeter Ausweisungen in Fällen einer „Verwurzelung“ nicht herleiten. Das bedeutet allerdings nicht, dass an eine derart begründete Ausweisung nicht besonders hohe Anforderungen zu stellen sind. Schon nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats ist in Fällen des besonderen Ausweisungsschutzes eine allein generalpräventiv motivierte Ausweisung nur ausnahmsweise zulässig, wenn die Straftat besonders schwer wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus andere Ausländer von ähnlichen Straftaten abzuhalten. Dies kommt insbesondere bei Drogendelikten in Betracht, aber auch bei Straftaten, die - wie hier der schwere Bandendiebstahl - der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind. Dabei ist jeweils im Einzelfall unter Berücksichtigung der Gesamtumstände zu prüfen, ob schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen und das öffentliche Interesse an der Ausweisung das schützenswerte private Interesse des betroffenen Ausländers überwiegt. Darüber hinaus ist eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung in derartigen Fällen zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit in ihren Wirkungen grundsätzlich zugleich von Amts wegen zu befristen. Denn wenn von dem Ausländer persönlich keine Gefahr mehr ausgeht, lässt sich bereits bei der Ausweisung beurteilen, wie lange er aus generalpräventiven Gründen unter Berücksichtigung seiner privaten Belange von der Bundesrepublik Deutschland ferngehalten werden muss. Es wäre deshalb unverhältnismäßig, ihn über diesen für seine Lebensplanung wichtigen Umstand im Unklaren zu lassen, ohne dass hierfür ein sachlicher Grund besteht. Hat die Ausländerbehörde keine Befristung verfügt und erweist sich die Ausweisung ansonsten als rechtmäßig, ist über den Befristungsanspruch im gerichtlichen Verfahren gegen die Ausweisung mit zu entscheiden. Mit einer Klage gegen eine unbefristet verfügte Ausweisung ist nämlich immer das Hilfsbegehren verbunden, die Wirkungen der Ausweisung jedenfalls zu befristen. Der Ausländer darf insoweit nicht auf ein neues, eigenständiges Verfahren verwiesen werden. Über die Länge der Frist ist im gerichtlichen Verfahren abschließend zu entscheiden. Ein behördliches Ermessen besteht insoweit nicht.


Da der Verwaltungsgerichtshof - aus seiner Sicht folgerichtig - keine Feststellungen zu Art und Schwere der konkreten Straftaten des Klägers getroffen hat, konnte der Senat nicht selbst abschließend beurteilen, ob die besonderen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer generalpräventiv begründeten Ausweisung vorliegen. Das Verfahren war daher an den Verwaltungsgerichtshof zur weiteren Aufklärung zurückzuverweisen. Sollte die Ausweisung sich danach nicht schon aus anderen Gründen als rechtswidrig erweisen, wäre der Beklagte jedenfalls verpflichtet, von Amts wegen eine Entscheidung über die Befristung ihrer Wirkungen zu treffen.


BVerwG 1 C 7.11 - Urteil vom 14. Februar 2012

Vorinstanz:

VGH Mannheim, VGH 11 S 2/11 - Urteil vom 18. März 2011 -


Beschluss vom 13.09.2011 -
BVerwG 1 VR 1.11ECLI:DE:BVerwG:2011:130911B1VR1.11.0

Leitsatz:

Für die Anordnung, dass die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80b Abs. 2 VwGO fortdauert, ist abweichend vom Wortlaut der Vorschrift das Bundesverwaltungsgericht auch dann zuständig, wenn das Oberverwaltungsgericht über die Berufung entschieden hat und das Verfahren in der Hauptsache nach Einlegung eines Rechtsmittels beim Bundesverwaltungsgericht anhängig ist (Fortführung der Rechtsprechung zur berichtigenden Auslegung von § 80b Abs. 2 VwGO in BVerwGE 129, 58).

  • Rechtsquellen
    VwGO § 80 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 5 bis 8, § 80b
    AufenthG § 11 Abs. 1 Satz 1, § 84 Abs. 2

  • VGH Baden-Württemberg - 18.03.2011 - AZ: VGH 11 S 2/11
    VG Karlsruhe - 21.07.2010 - AZ: VG 5 K 1778/09

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 13.09.2011 - 1 VR 1.11 - [ECLI:DE:BVerwG:2011:130911B1VR1.11.0]

Beschluss

BVerwG 1 VR 1.11

  • VGH Baden-Württemberg - 18.03.2011 - AZ: VGH 11 S 2/11
  • VG Karlsruhe - 21.07.2010 - AZ: VG 5 K 1778/09

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. September 2011
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft
beschlossen:

  1. Auf den Antrag des Antragstellers wird angeordnet, dass die aufschiebende Wirkung seiner Anfechtungsklage gegen den Ausweisungsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 23. Juni 2009 fortdauert.
  2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Antragsverfahren auf 2 500 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Der Antragsteller, ein kosovarischer Staatsangehöriger, wurde mit Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 23. Juni 2009 unter Androhung der Abschiebung in den Kosovo aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Die sofortige Vollziehung dieses Bescheides wurde nicht angeordnet. Die Klage des Antragstellers gegen den Bescheid hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe mit Urteil vom 21. Juli 2010 abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat die Berufung auf Antrag des Klägers zugelassen und mit Urteil vom 18. März 2011 die Ausweisungsverfügung und die Abschiebungsandrohung aufgehoben. Hiergegen hat der Beklagte die vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Revision eingelegt, die beim Bundesverwaltungsgericht unter dem Aktenzeichen BVerwG 1 C 7.11 anhängig ist.

2 Mit seinem Antrag vom 8. Juli 2011 begehrt der Antragsteller die aufschiebende Wirkung seiner Klage wiederherzustellen. Diese Wirkung sei gemäß § 80b VwGO während des Berufungsverfahrens entfallen. Nach dem Obsiegen im Berufungsverfahren sei die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung interessengerecht. Er benötige eine solche Entscheidung, damit ihm die Ausländerbehörde nach einer Ausreise die Wiedereinreise ermögliche. Er müsse dringend seine Mutter im Kosovo besuchen, deren Gesundheitszustand besorgniserregend sei. Derzeit erhalte er nur auf das Land Baden-Württemberg beschränkte Duldungen. Der Antragsteller ist der Auffassung, dass sich aus § 80b Abs. 3 VwGO mit seiner Folgeverweisung auf § 80 Abs. 5 bis 8 VwGO die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für die Entscheidung über seinen Antrag ergebe, beantragt aber vorsorglich hilfsweise eine Verweisung des Verfahrens an den Verwaltungsgerichtshof.

3 Der Antragsgegner bezweifelt, ob angesichts der dem Antragsteller erteilten laufenden Duldungen ein Rechtsschutzbedürfnis für die Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung bestehe und ob § 80b Abs. 2 VwGO überhaupt auf Fälle anwendbar sei, bei denen ein zweitinstanzliches Urteil die Rechtswidrigkeit der Verfügung festgestellt habe. Zudem sei fraglich, ob die aufschiebende Wirkung der Klage auch die Sperrwirkung der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und das mit der Ausweisung verbundene Erlöschen der Niederlassungserlaubnis des Antragstellers vorläufig entfallen lasse.

II

4 Das Begehren des Antragstellers ist als Antrag auf Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung seiner Klage nach § 80b Abs. 2 VwGO zu verstehen (1.). Für die Entscheidung über diesen Antrag ist das Bundesverwaltungsgericht als Rechtsmittelgericht der Hauptsache zuständig (2.). Der Antrag ist zulässig (3.) und begründet (4.).

5 1. Wie der Antragsteller zutreffend ausführt, ist die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Ausweisungsbescheid gemäß § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO kraft Gesetzes entfallen. Nach der zweiten Alternative dieser Vorschrift endet die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage, wenn diese im ersten Rechtszug abgewiesen worden ist, drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist des gegen die abweisende Entscheidung gegebenen Rechtsmittels. Diese Voraussetzungen sind hier während des Berufungsverfahrens eingetreten, so dass das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers als Antrag auf Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung nach § 80b Abs. 2 VwGO auszulegen ist.

6 2. Für die Entscheidung hierüber ist in der vorliegenden Verfahrenskonstellation das Bundesverwaltungsgericht und nicht der Verwaltungsgerichtshof zuständig. Zwar sieht § 80b Abs. 2 VwGO vor, dass „das Oberverwaltungsgericht“ auf Antrag anordnen kann, dass die aufschiebende Wirkung fortdauert. Mit dieser speziellen Zuständigkeitsregelung, die auf eine Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum 6. VwGOÄndG zurückgeht (BTDrucks 13/5642 S. 2), sollte erreicht werden, dass nicht das Gericht des ersten Rechtszuges - unter dem Eindruck seiner klageabweisenden Entscheidung - über die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung entscheidet. Dabei hat der Gesetzgeber offenbar nur an den Regelfall der erstinstanzlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichts gemäß § 45 VwGO und des anschließenden Berufungsverfahrens vor dem Oberverwaltungsgericht gedacht. Für andere Fallkonstellationen ist die Regelung dagegen unstreitig defizitär und die Vorschrift berichtigend auszulegen. So ist bereits geklärt, dass nicht das Oberverwaltungsgericht, sondern das Bundesverwaltungsgericht als Rechtsmittelgericht für die Entscheidung nach dieser Vorschrift zuständig ist, wenn den Beteiligten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts gemäß § 134 VwGO unter Übergehung der Berufungsinstanz die Sprungrevision zusteht, durch Bundesgesetz die Berufung ausgeschlossen ist oder nur die Revision zulässig ist oder gemäß § 48 VwGO das Oberverwaltungsgericht bereits im ersten Rechtszug entschieden hat (Beschluss vom 19. Juni 2007 - BVerwG 4 VR 2.07  - BVerwGE 129, 58). Diese Konstellationen sind im Gesetzgebungsverfahren ersichtlich übersehen worden. Wenn das Oberverwaltungsgericht überhaupt nicht mit der Sache befasst ist oder wenn es erstinstanzlich entschieden hat, sollte es nach den Vorstellungen des Gesetzgebers sicherlich nicht die Entscheidung über den vorläufigen Rechtsschutz nach § 80b Abs. 2 VwGO treffen. Vielmehr obliegt in diesen Fällen die Entscheidung nach § 80b Abs. 2 VwGO dem Bundesverwaltungsgericht als Rechtsmittelgericht der Hauptsache. Nur eine solche berichtigende Auslegung wird dem Ziel der Entlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der im Gesetzgebungsverfahren getroffenen Grundentscheidung gerecht, dass nicht das Gericht der ersten Instanz über die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung der gerade vom ihm abgewiesenen Klage entscheiden soll. Dies entspricht auch der einhelligen Auffassung im Schrifttum (Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 80b Rn. 14; Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 80b Rn. 27; Schmidt, in Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 80b Rn. 7; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Februar 1998, § 80b Rn. 43).

7 Eine solche berichtigende Auslegung der Vorschrift ist darüber hinaus aber auch bei der hier vorliegenden Fallkonstellation geboten, in der das Oberverwaltungsgericht als Rechtsmittelgericht zwar im Berufungsverfahren zuständig war, das Verfahren in der Hauptsache aber nach Ergehen der Berufungsentscheidung als Revision beim Bundesverwaltungsgericht anhängig ist. Dabei ist zunächst klarzustellen, dass entgegen der Ansicht des Antragsgegners auch nach einer zugunsten des Klägers ergangenen, noch nicht rechtskräftig gewordenen Berufungsentscheidung Raum für eine Entscheidung nach § 80b Abs. 2 VwGO ist, denn die einmal kraft Gesetzes entfallene aufschiebende Wirkung der Klage kann - sofern nicht die Behörde die Vollziehung bis zur Unanfechtbarkeit aussetzt (§ 80b Abs. 1 Satz 2 letzter Halbsatz VwGO) - nur durch eine gerichtliche Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung nach § 80b Abs. 2 VwGO wieder hergestellt werden. Ist aber eine solche Entscheidung während des Berufungsverfahrens nicht beantragt worden und nicht ergangen und ist die Hauptsache inzwischen aufgrund einer Revision beim Bundesverwaltungsgericht anhängig, stellt auch dies eine besondere Fallgestaltung dar, die der Gesetzgeber bei der Zuständigkeitsregelung in § 80b Abs. 2 VwGO nicht im Blick hatte. Würde man auch in diesen Fällen eine fortbestehende Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte annehmen, könnte dies zu einer zwischen Oberverwaltungsgericht und Bundesverwaltungsgericht gespaltenen Zuständigkeit im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 und § 80b Abs. 2 VwGO führen. Wenn die Behörde etwa die sofortige Vollziehung einzelner Regelungen des Verwaltungsakts nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordnet, es im Übrigen aber bei der aufschiebenden Wirkung belassen hat, wäre für den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung während des Revisionsverfahrens das Bundesverwaltungsgericht nach § 80 Abs. 5 VwGO zuständig, während über die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der nicht für sofort vollziehbar erklärten Regelungen desselben Verwaltungsakts das Oberverwaltungsgericht nach § 80b Abs. 2 VwGO zu entscheiden hätte (ebenso Beschluss vom 19. Juni 2007 a.a.O. Rn. 12 m.w.N.). Dass der Gesetzgeber eine solche Aufspaltung der Zuständigkeiten und die damit verbundenen Verzögerungen beim vorläufigen Rechtsschutz in Kauf nehmen wollte, ist nicht anzunehmen. Auch im Falle des einheitlichen Wegfalls der aufschiebenden Wirkung einer Klage nach § 80b Abs. 1 VwGO könnte es, worauf der Vertreter des Antragstellers zu Recht hinweist, zu zwei Entscheidungen verschiedener Gerichte über die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung der Klage in ein und demselben Revisionsverfahren kommen. Denn bei Festhalten an dem Wortlaut des § 80b Abs. 2 VwGO müsste zunächst das Oberverwaltungsgericht über einen Antrag auf Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung nach dieser Bestimmung entscheiden, während das Bundesverwaltungsgericht nach § 80 Abs. 7 VwGO diese Entscheidung, ggf. sogar von Amts wegen, wieder ändern könnte. Eine solche Verdoppelung der Zuständigkeit innerhalb eines Rechtszuges stünde weder mit der Eilbedürftigkeit der Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes noch mit der vom Gesetzgeber angestrebten Entlastung der Gerichte in Einklang.

8 3. Der Antrag auf Anordnung der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig. Der Antrag ist nicht fristgebunden (Beschluss vom 19. Juni 2007 a.a.O. Rn. 13 m.w.N.) und kann deshalb auch noch während des Revisionsverfahrens gestellt werden. An dem Rechtsschutzinteresse für einen solchen Antrag bestehen entgegen der Ansicht des Antragsgegners keine Zweifel. Ein Rechtsschutzinteresse ist schon deshalb zu bejahen, weil sich die kraft Gesetzes erloschene aufschiebende Wirkung der Klage - sofern der Antragsgegner die Vollziehung nicht selbst bis zur Unanfechtbarkeit des Bescheides aussetzt - nur auf dem Weg über eine solche gerichtliche Entscheidung herstellen lässt und die aufschiebende Wirkung der Klage dem Antragsteller auf jeden Fall eine günstigere Rechtsposition vermittelt. Dies ergibt sich schon daraus, dass nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG für Zwecke der Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit der Aufenthaltstitel, den der Antragsteller vor der Ausweisung besaß, als fortbestehend gilt, solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. Diese beschränkte Fiktion des Fortbestehens des bisherigen Aufenthaltstitels nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vermittelt dem Antragsteller in Bezug auf seine Erwerbstätigkeit einen besseren Schutz als die bisherige antragsabhängige Erteilung befristeter Duldungen durch den Antragsgegner. Im Übrigen besteht auch allgemein ein berechtigtes Interesse daran, vor einer sonst möglichen Vollziehung der Ausweisung und Abschiebungsandrohung auch rechtlich durch Herstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage - und nicht nur tatsächlich durch Erteilung von Duldungen seitens des Antragsgegners - geschützt zu sein. Auf die Frage, ob sich aus der aufschiebenden Wirkung der Klage auch noch weitere rechtlichen Vorteile, etwa im Hinblick auf die Möglichkeit einer Wiedereinreise nach einer Besuchsreise ins Ausland, ergeben, kommt es insoweit nicht an.

9 4. Der Antrag ist auch begründet. Für die Entscheidung über einen Antrag nach § 80b Abs. 2 VwGO gelten die gleichen Grundsätze wie für eine Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO. Dies folgt schon aus der Anordnung der entsprechenden Anwendung von § 80 Abs. 5 VwGO in § 80b Abs. 3 VwGO (Beschluss vom 19. Juni 2007 a.a.O. Rn. 14 m.w.N.). Bei der danach gebotenen Interessenabwägung überwiegt vorliegend das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage das Interesse des Antragsgegners an der sofortigen Vollziehung der Ausweisung und Abschiebungsandrohung in dem angefochtenen Bescheid. Die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers sind nach der zu seinen Gunsten ausgefallenen Berufungsentscheidung und der Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache offen. Ein besonderes Vollzugsinteresse ist schon deshalb nicht ersichtlich, weil der Antragsgegner dem Antragsteller laufende Duldungen erteilt und - soweit ersichtlich - eine Abschiebung des Antragstellers vor rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht beabsichtigt. Zudem ist die Ausweisung auch nicht auf spezialpräventive, sondern nur noch auf generalpräventive Gründe gestützt. Demgegenüber ist das individuelle Interesse des seit 14 Jahren in Deutschland lebenden Antragstellers an der Fortdauer der aufschiebenden Wirkung seiner Klage höher zu bewerten. Hierfür spricht schon der Umstand, dass der maßgebende Grund für die zeitliche Begrenzung der zuvor bestehenden aufschiebenden Wirkung durch § 80b Abs. 1 VwGO mit der der Klage stattgebenden Berufungsentscheidung entfallen ist. Der Gesetzgeber hat sich bei der Regelung von der Auffassung leiten lassen, dass es, wenn eine Anfechtungsklage im ersten Rechtszug nach eingehender Prüfung des Rechtsschutzbegehrens keinen Erfolg hat, in der Regel nicht gerechtfertigt sei, dass die aufschiebende Wirkung noch während eines eventuellen Rechtsmittelverfahrens fortdauert (BTDrucks 13/3993 S. 11 f.). Die Voraussetzungen für diese Vermutung des Gesetzgebers sind vorliegend durch den Erfolg der Klage im Berufungsverfahren beseitigt, wenn nicht gar in ihr Gegenteil verkehrt. Bei diesem Verfahrensstand spricht daher alles dafür, die Fortdauer der ursprünglich bestehenden aufschiebenden Wirkung der Klage anzuordnen.

10 Welche rechtlichen Auswirkungen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ausweisungsverfügung und Abschiebungsandrohung mit Blick auf die vom Kläger beabsichtigte Ausreise zum Zwecke des Besuchs seiner Mutter im Kosovo und seine Wiedereinreise angesichts von § 84 Abs. 2 AufenthG hat, ist im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden.

11 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG.

Urteil vom 14.02.2012 -
BVerwG 1 C 7.11ECLI:DE:BVerwG:2012:140212U1C7.11.0

Leitsätze:

1. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG können bei strafrechtlichen Verurteilungen ausnahmsweise auch dann vorliegen, wenn von dem Ausländer selbst keine Wiederholungsgefahr mehr ausgeht, wegen der besonderen Schwere der Straftat aber ein dringendes Bedürfnis besteht, durch die Ausweisung generalpräventiv andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten abzuhalten (Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung). Dies gilt grundsätzlich auch bei in Deutschland verwurzelten Ausländern.

2. Eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung muss zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit in ihren Wirkungen zugleich von Amts wegen befristet werden. Fehlt es an einer solchen Befristung kann der Ausländer diese im Rechtsstreit um die Ausweisung mit dem im Klagebegehren als minus enthaltenen hilfsweisen Verpflichtungsantrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung erstreiten.

3. Die Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung ist nach Inkrafttreten der Änderung des § 11 Abs. 1 AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) auch hinsichtlich der Dauer der Befristung gerichtlich voll überprüfbar.

  • Rechtsquellen
    AufenthG § 11 Abs. 1, §§ 53, 54 Nr. 1, § 56 Abs. 1
    EMRK Art. 8
    GG Art. 2 Abs. 1, Art. 6
    Richtlinie 2008/115/EG Art. 6, 11 Abs. 1 und 2, Art. 12 Abs. 1,
    Art. 13 Abs. 1, Art. 15 Abs. 5 und 6

  • VG Karlsruhe - 21.07.2010 - AZ: VG 5 K 1778/09
    VGH Baden-Württemberg - 18.03.2011 - AZ: VGH 11 S 2/11

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11 - [ECLI:DE:BVerwG:2012:140212U1C7.11.0]

Urteil

BVerwG 1 C 7.11

  • VG Karlsruhe - 21.07.2010 - AZ: VG 5 K 1778/09
  • VGH Baden-Württemberg - 18.03.2011 - AZ: VGH 11 S 2/11

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 14. Februar 2012
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter
sowie die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Beck und Fricke
für Recht erkannt:

  1. Das Verfahren wird eingestellt, soweit es die Abschiebungsandrohung in Nr. 2 Abs. 2 des Bescheides des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 23. Juni 2009 betrifft. Die Urteile des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 18. März 2011 und des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21. Juli 2010 sind insoweit wirkungslos.
  2. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs aufgehoben, soweit es die Ausweisung in Nr. 1 des Bescheides betrifft.
  3. Die Sache wird insoweit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  4. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I

1 Der Kläger, ein kosovarischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.

2 Der 1978 geborene Kläger reiste 1996 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Nach einem erfolglos gebliebenen Asylverfahren heiratete er im Juni 1999 eine deutsche Staatsangehörige. Er erhielt daraufhin Mitte 2000 zunächst eine befristete und im Oktober 2004 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die ab Januar 2005 als Niederlassungserlaubnis fortgalt. Nach Scheidung seiner Ehe im Jahre 2006 und einer nur kurze Zeit dauernden zweiten Ehe mit einer Kosovarin heiratete der Kläger im Januar 2008 im Kosovo in dritter Ehe eine kosovarische Staatsangehörige. Zu einem Nachzug der Ehefrau nach Deutschland kam es nicht.

3 Der Kläger, der seit mehreren Jahren eine feste Arbeitsstelle als Staplerfahrer besaß, wurde im Juni 2008 in Untersuchungshaft genommen und im Februar 2009 vom Landgericht Heidelberg wegen Beihilfe zum schweren Bandendiebstahl in zwölf Fällen und zum versuchten schweren Bandendiebstahl in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Daraufhin wies ihn das Regierungspräsidium Karlsruhe mit Bescheid vom 23. Juni 2009 aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1) und drohte ihm die Abschiebung in den Kosovo an (Nr. 2). In der Begründung hieß es, der Kläger genieße zwar besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG und könne deshalb nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Solche Gründe lägen aber hier wegen der schweren, in hoher Zahl und über einen längeren Zeitraum hinweg begangenen Eigentumsdelikte vor. Die Ausweisung sei sowohl aus spezialpräventiven Gründen wegen der von ihm ausgehenden Wiederholungsgefahr als auch aus generalpräventiven Gründen wegen der besonderen Schwere der Straftaten gerechtfertigt. Bei der im Rahmen der Ermessensausübung vorzunehmenden Interessenabwägung überwiege das öffentliche Interesse an der Ausweisung die persönlichen Interessen des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet, zumal seine Ehefrau im Kosovo lebe.

4 Das Verwaltungsgericht hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Zwar gehe von dem Kläger, der inzwischen nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe unter Aussetzung des Strafrests zur Bewährung aus der Haft entlassen worden sei, keine Wiederholungsgefahr mehr aus. Die Ausweisung sei aber wegen der besonderen Schwere der von ihm begangenen Straftaten, die der organisierten Kriminalität zuzurechnen seien, aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt. Sie sei auch unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers, der erst als Erwachsener nach Deutschland eingereist sei, nicht unverhältnismäßig, zumal der Kläger auch noch starke Kontakte zum Kosovo habe.

5 Auf die Berufung des Klägers hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Urteil vom 18. März 2011 die Ausweisung und die Abschiebungsandrohung für den Fall der Haftentlassung (Nr. 2 Abs. 2 des Bescheides) aufgehoben. Zur Begründung hat er ausgeführt: Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung lägen keine schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor, wie sie für eine Ausweisung des Klägers erforderlich seien. Die Ausweisung könne nicht auf spezialpräventive Gründe gestützt werden, weil von dem Kläger derzeit keine Wiederholungsgefahr mehr ausgehe. Die Ausweisung werde vom Beklagten allein tragend zur - generalpräventiven - Abschreckung anderer Ausländer aufrechterhalten. Ein allein auf diesen Gesichtspunkt gestütztes öffentliches Interesse an der Ausweisung stelle bei der Personengruppe der „verwurzelten“ Ausländer, zu der der Kläger gehöre, im Lichte von Art. 8 EMRK regelmäßig keinen schwerwiegenden Grund im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG dar. Dies ergebe sich in einer Gesamtschau aus den neueren Rechtsprechungslinien sowohl des Bundesverfassungsgerichts als auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - und im Übrigen auch aus der Rechtsauffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union - EuGH - in Bezug auf Unionsbürger sowie des Bundesverwaltungsgerichts in Bezug auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige. Dies gelte jedenfalls seit Inkrafttreten des EU-Reformvertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009. Der vom Bundesverfassungsgericht besonders betonte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stehe bei nachhaltig verwurzelten Ausländern, die sich auf den qualifizierten Schutz von Art. 8 EMRK berufen könnten, einer Ausweisung aus generalpräventiven Gründen in der Regel entgegen. Auch die Rechtsprechung des EGMR laufe in rechtstatsächlicher Hinsicht sehr stark auf eine Ausweisung - nur oder nur auch - aus spezialpräventiven Gründen zu. Bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen könne der Aufenthalt nach der Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts nicht mehr allein aus generalpräventiven Gesichtspunkten beendet werden. Daraus ergebe sich unter Berücksichtigung der ebenfalls aufenthaltsrechtlich besonders geschützten drittstaatsangehörigen Familienmitglieder dieser Personengruppen für rund zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Ausländer ein Verbot der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen. Die richterrechtliche Schöpfung der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen habe deshalb auch bezüglich der in Deutschland nachhaltig „verwurzelten“ Ausländer ihre Berechtigung grundsätzlich verloren. Bei ihnen könne eine generalpräventiv begründete Ausweisung nur ausnahmsweise im Fall besonders schwerwiegender staats- oder gesellschaftsgefährdender Delikte zulässig sein, wie sie etwa in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG - Qualifikationsrichtlinie - („Terrorismusdelikte“) oder in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG - Unionsbürgerrichtlinie - genannt seien. Entsprechend dem Vorbild der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Verschiebung des maßgeblichen Zeitpunkts bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Ausweisungen müsse das grundsätzliche Verbot der generalpräventiven Ausweisung mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages und der dadurch bedingten Aufwertung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des EGMR auf nachhaltig „verwurzelte“ Ausländer erstreckt werden. Der Kläger gehöre zu dieser Personengruppe: Er lebe seit 14 Jahren im Bundesgebiet, wo seine gesamte berufliche Entwicklung erfolgt sei. Hier lebten enge Familienangehörige und sein Freundeskreis, er verfüge über einen Arbeitsplatz, der ihn ohne ergänzende Sozialleistungen unterhalte, und verbringe sein Privatleben mit seiner deutschen Partnerin. Auf eine gleichzeitige tiefgreifende „Entwurzelung“ aus dem Heimatland komme es dabei nicht an.

6 Dagegen richtet sich die vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Revision des Beklagten. Er macht geltend, dass sich weder aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch der des EGMR das vom Verwaltungsgerichtshof angenommene grundsätzliche Verbot einer generalpräventiven Ausweisung für „verwurzelte“ Ausländer aus Drittstaaten ergebe.

7 Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil und stellt darüber hinaus die Berechtigung einer allein generalpräventiv motivierten Ausweisung grundsätzlich in Frage. Die behauptete abschreckende Wirkung von Ausweisungen sei nicht durch empirische Studien belegt und könne schon deshalb einen derartigen Grundrechtseingriff nicht rechtfertigen. Zudem setze die richterrechtliche Figur der generalpräventiven Ausweisung eine zur Verhaltenssteuerung geeignete kontinuierliche Ausweisungspraxis voraus. Diese liege angesichts der großen Anzahl unionsrechtlich privilegierter Ausländer, die nur noch aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden dürften, in der Realität nicht mehr vor.

8 Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich an dem Verfahren beteiligt und unterstützt die Auffassung des Beklagten.

9 Der Kläger hat inzwischen während einer Besuchsreise in den Kosovo im November 2011 in vierter Ehe eine in Deutschland lebende kosovarische Staatsangehörige geheiratet. Anschließend ist ihm von der Deutschen Botschaft in Pristina für die Wiedereinreise ein Visum zum Familiennachzug erteilt worden. Die Beteiligten haben daraufhin in der Revisionsverhandlung den Rechtsstreit hinsichtlich der Abschiebungsandrohung in Nr. 2 Abs. 2 des Bescheides vom 23. Juni 2009 übereinstimmend für erledigt erklärt.

II

10 Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 141, 125 Abs. 1 VwGO einzustellen. Zugleich ist die Unwirksamkeit der vorinstanzlichen Entscheidungen hinsichtlich der Abschiebungsandrohung in Nr. 2 Abs. 2 des angefochtenen Bescheides festzustellen (§ 173 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO in entsprechender Anwendung).

11 Hinsichtlich der allein noch in Streit befindlichen Ausweisung (Nr. 1 des angefochtenen Bescheides) ist die Revision der Beklagten begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs beruht insoweit auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Verwaltungsgerichtshof hat die Ausweisung als rechtswidrig angesehen, weil er das Vorliegen schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bei dem Kläger verneint hat. Die hierfür angeführte Begründung ist mit Bundesrecht nicht vereinbar (1.). Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil nicht selbst abschließend entscheiden kann, ob bei dem Kläger schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen (2.), und sich die Ausweisung auch nicht bereits aus anderen Gründen als rechtswidrig erweist (3.), ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (4.).

12 Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts, hier also des Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom 15. November 2007 - BVerwG 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 Rn. 12). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (stRspr, etwa Urteil vom 11. Januar 2011 - BVerwG 1 C 1.10 - BVerwGE 138, 371 Rn. 10 m.w.N.). Maßgeblich sind deshalb die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 2011 (BGBl I S. 2854). Damit sind insbesondere auch die Änderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) - im Folgenden: Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 - zu beachten.

13 Der Verwaltungsgerichtshof ist - in Übereinstimmung mit dem Beklagten - zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger mit seiner rechtskräftigen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten den (Regel-)Ausweisungstatbestand des § 54 Nr. 1 AufenthG verwirklicht hat, dass er aber aufgrund des Besitzes einer Niederlassungserlaubnis und seines mehr als fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz genießt. Der Kläger kann daher nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG und nur aufgrund einer sämtliche Umstände des Einzelfalles berücksichtigenden Ermessensentscheidung der Beklagten nach § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG ausgewiesen werden.

14 1. Die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, dass schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG hier nicht vorlägen, beruht indes auf einer fehlerhaften Auslegung dieser Vorschrift.

15 a) Soweit sich diese Annahme auf die vom Beklagten ursprünglich auch angeführten spezialpräventiven Gründe für die Ausweisung des Klägers, nämlich die von ihm ausgehende Gefahr der erneuten Begehung vergleichbarer Straftaten, bezieht, ist sie revisionsrechtlich allerdings nicht zu beanstanden. Nachdem bereits das Verwaltungsgericht das Vorliegen spezialpräventiver Gründe verneint hatte, ist auch der Verwaltungsgerichtshof aufgrund der ihm vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass von dem Kläger inzwischen keine gesteigerte Wiederholungsgefahr mehr ausgeht. Mit dem Begriff der gesteigerten Wiederholungsgefahr ist dabei erkennbar die auch von der Rechtsprechung des Senats verlangte ernsthaft drohende Gefahr erneuter schwerer Verfehlungen des Ausländers - im Gegensatz zur lediglich entfernten Möglichkeit solcher Verfehlungen - gemeint (vgl. Urteile vom 13. Januar 2009 - BVerwG 1 C 2.08 - Buchholz 402.242 § 54 AufenthG Nr. 7 Rn. 16 und vom 11. Juni 1996 - BVerwG 1 C 24.94 - BVerwGE 101, 247 <253>). Dies wird durch die Bezugnahme des Verwaltungsgerichtshofs auf die entsprechenden Ausführungen im Urteil des Verwaltungsgerichts deutlich, die auf diese Rechtsprechung zurückgreifen. Auch vom Beklagten werden die Feststellungen zum Fehlen einer Wiederholungsgefahr nicht angegriffen. Vielmehr wird die Ausweisung nunmehr tragend allein auf generalpräventive Gründe gestützt.

16 b) Die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs, dass es für eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung an schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung schon deshalb fehle, weil bei „verwurzelten“ Ausländern eine so begründete Ausweisung regelmäßig unzulässig sei, hält einer revisionsgerichtlichen Prüfung dagegen nicht stand.

17 aa) Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung können nicht nur bei Verwirklichung der Ausweisungstatbestände der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5a und 7 AufenthG, bei denen die Vermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG eingreift, sondern auch bei Vorliegen sonstiger (Regel- und Ermessens-)Ausweisungsgründe gegeben sein. Erforderlich ist jedoch stets, dass dem Ausweisungsanlass ein besonderes Gewicht zukommt. Dieses kann sich bei Straftaten insbesondere aus deren Art, Schwere und Häufigkeit ergeben (stRspr, zuletzt Urteil vom 13. Januar 2009 a.a.O.). Darüber hinaus ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt, dass strafrechtliche Verurteilungen nicht nur dann einen solchen schwerwiegenden Ausweisungsanlass bilden können, wenn von dem betreffenden Ausländer die Gefahr der erneuten Begehung von Straftaten ausgeht (Spezialprävention), sondern auch dann, wenn durch die Ausweisung andere Ausländer von der Begehung solcher Straftaten abgehalten werden sollen (Generalprävention). Allerdings liegt bei einer allein auf generalpräventive Gründe gestützten Ausweisung im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein schwerwiegender Ausweisungsanlass nur ausnahmsweise vor, wenn die Straftat besonders schwer wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (Urteile vom 11. Juni 1996 a.a.O. <254 ff.> m.w.N. und vom 31. August 2004 - BVerwG 1 C 25.03 - BVerwGE 121, 356 <362>).

18 An dieser Rechtsprechung, die ihrerseits schon sehr hohe Anforderungen an die Annahme schwerwiegender Gründe im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bei einer allein generalpräventiv motivierten Ausweisung stellt, ist auch weiterhin festzuhalten.

19 bb) Soweit der Klägervertreter die abschreckende Wirkung von Ausweisungen auf andere Ausländer generell in Frage stellt, weil sie nicht durch empirische Studien belegt sei, und meint, aufgrund der großen Anzahl privilegierter Ausländer, die nur noch aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden dürften, habe die richterrechtliche Figur der generalpräventiven Ausweisung mangels kontinuierlicher Ausweisungspraxis inzwischen ihre Berechtigung verloren, kann dem nicht gefolgt werden. Denn die grundsätzliche Möglichkeit einer generalpräventiv begründeten Ausweisung von Ausländern, die nicht zu einem unionsrechtlich privilegierten Personenkreis gehören, beruht nicht auf einer rein richterrechtlichen Schöpfung, sondern liegt erkennbar auch der gesetzlichen Regelung sowohl des Ausländergesetzes 1990 als auch des Aufenthaltsgesetzes zugrunde. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber bei bestimmten schwerwiegenden Verurteilungen in § 53 AufenthG (im Anschluss an die Vorgängerregelung in § 47 Abs. 1 AuslG 1990) eine zwingende Ausweisung vorgeschrieben hat. Das zeigt, dass er die Ausweisung jedenfalls in diesen Fällen unabhängig vom Vorliegen einer Wiederholungsgefahr und damit auch bei Fehlen spezialpräventiver Gründe - also allein aus generalpräventiven Erwägungen - als zulässig und geboten angesehen hat. Auch dem Umstand, dass der Gesetzgeber des Ausländergesetzes 1990 und des Aufenthaltsgesetzes sich in Kenntnis der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht von der Vorstellung einer generalpräventiv motivierten Ausweisung abgewandt hat, ist zu entnehmen, dass er diese in seinen Willen aufgenommen hat. Das wird durch die Ausführungen zu den Ausweisungsvorschriften (§§ 45 ff. AuslG 1990) im Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 27. Januar 1990 bestätigt (BTDrucks 11/6321 S. 49 ff.). Dort wird eingangs allgemein auf die verhaltenssteuernde - also generalpräventive - Wirkung des Ausweisungsrechts für die Ausländer verwiesen und u.a. von der „Notwendigkeit der Generalprävention“ sowohl im Rahmen der Strafzumessung als auch im Rahmen der verwaltungsrechtlichen Beurteilung der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gesprochen (a.a.O. S. 50). Durch das Aufenthaltsgesetz, das die Ausweisungsvorschriften zwar neu strukturiert, aber die hier entscheidenden Regelungen inhaltlich übernommen hat, hat sich an diesem Befund nichts geändert (BTDrucks 15/420 S. 90 f.). Da der Gesetzgeber selbst grundsätzlich generalpräventive Motive im Ausweisungsrecht anerkennt und gerade bei strafrechtlichen Verurteilungen auch als alleinigen Grund für eine Ausweisung billigt, können die Gerichte und Behörden bei der Anwendung der einschlägigen Vorschriften dies nicht wegen eines fehlenden empirischen Nachweises der Abschreckungswirkung für andere Ausländer oder wegen des zunehmenden Anteils nur spezialpräventiv auszuweisender Ausländer in Frage stellen. Denn insoweit ist die Einschätzung des Gesetzgebers, die im Rahmen des ihm zustehenden weiten gesetzgeberischen Ermessens liegt und nicht erkennbar willkürlich ist, zu respektieren. Im Übrigen sind bei der von dem Klägervertreter aufgeworfenen Frage, ob Ausweisungen angesichts der erhöhten Anforderungen an ihre Zulässigkeit und der dadurch bedingten rückläufigen Ausweisungspraxis überhaupt noch geeignet sind, verhaltenssteuernd auf andere Ausländer zu wirken, nicht nur die rein generalpräventiv begründeten Ausweisungen, sondern auch die spezialpräventiven Ausweisungen oder Aufenthaltsbeendigungen infolge der Begehung von Straftaten in den Blick zu nehmen. Auch diese spezialpräventiven Maßnahmen können nämlich verhaltenssteuernd auf andere Ausländer wirken.

20 cc) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs ist das Erfordernis schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auch nicht einschränkend dahin auszulegen, dass es jedenfalls bei nachhaltig „verwurzelten“ Ausländern im Falle einer allein auf generalpräventive Gründe gestützten Ausweisung regelmäßig nicht vorliegt. Eine derartige regelhafte Einschränkung, die ihrerseits die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles - etwa der Schwere der konkreten Straftat oder auch der „Entwurzelung“ des Ausländers in seinem Herkunftsstaat - von vornherein ausblendet, stimmt weder mit der bisherigen Rechtsprechung des Senats zu § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG überein, noch ist sie, wie der Verwaltungsgerichtshof meint, im Lichte von Art. 8 EMRK aufgrund einer Gesamtschau der neueren Rechtsprechungslinien des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - in Verbindung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union - EuGH - und des Bundesverwaltungsgerichts zu Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen geboten.

21 Das Bundesverfassungsgericht hat auch in seiner neueren Kammerrechtsprechung zur Verhältnismäßigkeit des durch eine Ausweisung bewirkten Eingriffs in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG die Bedeutung generalpräventiver Erwägungen im Ausweisungsrecht (unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386 <397>) anerkannt und betont, dass eine am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Entscheidung allerdings voraussetzt, dass die Ausländerbehörde die Umstände der Straftat und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen von Amts wegen sorgfältig ermittelt und eingehend würdigt. Insbesondere kann das Gewicht der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Interessen nicht allein anhand der Typisierung der den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten in den Ausweisungsvorschriften des Aufenthaltsgesetzes bestimmt werden. Vielmehr sind auch bei strafrechtlichen Verurteilungen nach § 53 AufenthG im Einzelfall die Umstände der begangenen Straftat, wie sie sich aus dem Strafurteil und dem vorangegangenen Strafverfahren ergeben, individuell zu würdigen. Dies gilt naturgemäß erst recht bei unterhalb der Schwelle des § 53 AufenthG liegenden strafrechtlichen Verurteilungen nach § 54 Nr. 1 AufenthG. Darüber hinaus sind in gleicher Weise die gegen die Ausweisung sprechenden privaten Belange des Betroffenen im Einzelnen zu ermitteln und individuell zu würdigen, um sie dann unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit den entgegenstehenden öffentlichen Interessen abwägen zu können (BVerfG, Beschlüsse vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 - BVerfGK 11, 153 und vom 10. August 2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300). Diese vom Bundesverfassungsgericht nunmehr präzisierten Prüfungsanforderungen lassen keinen Schluss auf die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellte Auslegungsregel zu, die sowohl im Hinblick auf die den Ausweisungsanlass bildende Straftat als auch im Hinblick auf die schutzwürdigen Belange des Betroffenen die Berücksichtigung und Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalles ausblendet und durch eine typisierende Betrachtung - wenn auch zugunsten des Ausländers - ersetzt.

22 Die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellte Auslegungsregel kann auch nicht aus der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK hergeleitet werden. Die Entscheidungen des EGMR zum Schutz des Privat- und Familienlebens in Fällen der Ausweisung straffällig gewordener Ausländer enthalten kein ausdrückliches Verbot generalpräventiv begründeter Ausweisungen. Im Gegenteil hat der Gerichtshof in einzelnen Fällen, in denen generalpräventive Gründe für die Ausweisung maßgeblich waren, eine Konventionsverletzung verneint (EGMR, Urteile vom 28. Juni 2007 - Nr. 31753/02 - Kaya/Deutschland - InfAuslR 2007, 325 und vom 6. Dezember 2007 - Nr. 69735/01 - Chair/Deutschland - InfAuslR 2008, 111). Auch die vom EGMR aufgestellten sog. „Boultif/Üner-Kriterien“ (vgl. EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006 - Nr. 46410/99 - Üner/Niederlande - NVwZ 2007, 1279 Rn. 57 f.) laufen der Sache nach nicht auf ein de-facto-Verbot solcher Ausweisungen hinaus (a.A. OVG Bremen, zuletzt Urteil vom 10. Mai 2011 - 1 A 306.10 u.a. - InfAuslR 2011, 341 <343>). Sowohl die Art und Schwere der begangenen Straftat als auch die seit der Straftat vergangene Zeit und das Nachtatverhalten des Betroffenen können sinnvoll auch bei einer generalpräventiv begründeten Ausweisung als Gesichtspunkte im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden. Auch das Bundesverfassungsgericht, das die Rechtsprechung des EGMR und die von ihm entwickelten Kriterien ausdrücklich in Bezug genommen hat, hat daraus ersichtlich kein Regelverbot einer generalpräventiven Ausweisung hergeleitet.

23 Soweit der Verwaltungsgerichtshof sich bei seiner Gesamtschau auf die Rechtsprechung des EuGH zur Aufenthaltsbeendigung von Unionsbürgern und deren Familienangehörigen sowie die Rechtsprechung zu assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen berufen hat, derzufolge bei diesem Personenkreis eine generalpräventiv motivierte Aufenthaltsbeendigung ausgeschlossen ist, können daraus keine Schlüsse für die übrigen Drittstaatsangehörigen gezogen werden. Denn bei den genannten Personen handelt es sich um unionsrechtlich privilegierte Gruppen, die sich durch erhöhten Ausweisungsschutz von den übrigen Drittstaatsangehörigen unterscheiden. Entsprechendes gilt im Übrigen auch für die aufenthaltsrechtlich stärker geschützten Inhaber einer Daueraufenthaltserlaubnis-EG (vgl. Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG).

24 2. a) Ist eine einschränkende Auslegung des Begriffs der schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG in Gestalt der vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Regel damit nicht durch höherrangiges Recht geboten, verbleibt es bei der nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats maßgeblichen Auslegung der Bestimmung. Danach sind, wie oben bereits ausgeführt, bei allein generalpräventiv begründeten Ausweisungen an die Annahme schwerwiegender Gründe der öffentliche Sicherheit und Ordnung im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders hohe Anforderungen zu stellen. In diesen Fällen ist erforderlich, dass die den Ausweisungsanlass bildende Straftat besonders schwer wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über die strafrechtliche Sanktion hinaus durch die Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Dabei kommt es stets auf die besondere Schwere der Straftat im Einzelfall an. Dies setzt voraus, dass die konkreten Umstände der begangenen Straftat oder Straftaten, wie sie sich aus dem Strafurteil und dem vorangegangenen Strafverfahren ergeben, ermittelt und individuell gewürdigt werden. Die besondere Schwere der Straftat im Hinblick auf die verhaltenssteuernde Wirkung der Ausweisung auf andere Ausländer erfordert, dass von einer derartigen Straftat eine besonders hohe Gefahr für den Staat oder die Gesellschaft ausgeht, wie dies insbesondere bei Drogendelikten oder Straftaten aus dem Bereich der organisierten Kriminalität der Fall sein kann.

25 Sind diese Anforderungen an das Vorliegen eines schwerwiegenden Ausweisungsanlasses im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG für eine generalpräventiv begründete Ausweisung erfüllt, ist darüber hinaus zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit - in der Regel im Rahmen der erforderlichen Ermessensausübung nach § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG - das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Ausweisung mit dem Gewicht des schutzwürdigen privaten Interesses des Ausländers an dem Verbleib in Deutschland abzuwägen. Dadurch wird sichergestellt, dass gerade die Belange „verwurzelter“ Ausländer je nach ihrem Gewicht im Einzelfall zum Tragen kommen.

26 b) Für den Fall des Klägers bedeutet dies, dass der Senat nicht selbst abschließend darüber entscheiden kann, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für die angefochtene Ausweisung, nämlich schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, vorliegen. Denn der Verwaltungsgerichtshof hat - nach seiner Rechtsauffassung folgerichtig - keine Feststellungen zu den konkreten Umständen der Begehung der Straftaten, insbesondere zur Bedeutung des Tatbeitrages des Klägers, sowie zu weiteren Umständen des Einzelfalles wie etwa zu seinem Verhalten nach der Tat im Ermittlungs- und Strafverfahren getroffen. Ohne eine solche tatrichterliche Feststellung und Würdigung ist eine Entscheidung über das Vorliegen schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aber nicht möglich. Denn die Straftaten des Klägers sind nicht schon von vornherein gänzlich ungeeignet, ein schwerwiegendes öffentliches Interesse an einer Ausweisung in dem oben dargestellten Sinn zu begründen. Schwere Bandendiebstähle nach § 244a StGB sind Delikte, die der Gesetzgeber der organisierten Kriminalität zurechnet. Der qualifizierte Straftatbestand des § 244a StGB ist mit dem Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15. Juli 1992 (BGBl I S. 1302) in das Strafgesetzbuch eingefügt und - anders als der einfache Bandendiebstahl - als Verbrechen eingestuft worden. Dabei ging es dem Gesetzgeber u.a. darum, eine höhere individuelle wie allgemeine Abschreckungswirkung zu erzielen (BTDrucks 12/989 S. 25). Die vom Kläger begangenen Straftaten kommen deshalb als Anlass einer allein generalpräventiven Ausweisung grundsätzlich in Betracht. Auch der Umstand, dass der Kläger nur wegen Beihilfe verurteilt worden ist, führt angesichts des nach den Ausführungen im Strafurteil nahe an der Mittäterschaft liegenden Tatbeitrags nicht dazu, dass ohne nähere tatrichterliche Feststellung und Würdigung im Einzelfall bereits von vornherein ein schwerwiegender Ausweisungsanlass verneint werden kann.

27 4. Die Aufhebung der Ausweisung durch den Verwaltungsgerichtshof erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO).

28 a) Allerdings müssen bei einer allein auf generalpräventive Erwägungen gestützten Ausweisung eines Ausländers mit besonderem Ausweisungsschutz (§ 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) die Wirkungen der Ausweisung regelmäßig von Amts wegen zugleich mit der Ausweisung befristet werden. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, der ausgewiesen worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm darf nach Satz 2 der Vorschrift kein Aufenthaltstitel nach diesem Gesetz erteilt werden. Diese kraft Gesetzes eintretenden Wirkungen werden nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auf Antrag befristet. Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, schließt diese Regelung es nicht aus, dass die Ausländerbehörde zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung im Einzelfall von Amts wegen verpflichtet ist, die Wirkungen der Ausweisung schon bei Erlass der Ausweisung zu befristen. Ob dies erforderlich ist, hängt von den gesamten Umständen des Einzelfalles, insbesondere dem Ausmaß der von dem Ausländer ausgehenden Gefahr, der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Gefahr und den schutzwürdigen Belangen des Ausländers und seiner Angehörigen ab (Urteile vom 15. März 2005 - BVerwG 1 C 2.04 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 42, vom 23. Oktober 2007 - BVerwG 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367 Rn. 18 und vom 2. September 2009 - BVerwG 1 C 2.09 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 54 Rn. 25 sowie Beschluss vom 20. August 2009 - BVerwG 1 B 13.09 - Buchholz 402.242 § 11 AufenthG Nr. 4 Rn. 8). Dies führt bei einer allein generalpräventiv motivierten Ausweisung eines Ausländers mit besonderem Ausweisungsschutz - außer in den Fällen des Ausschlusses der Befristung nach § 11 Abs. 1 Satz 7 AufenthG - regelmäßig dazu, dass eine Befristung der Wirkungen der Ausweisung von Amts wegen zugleich mit der Ausweisung auszusprechen ist. Ist die Ausweisung zunächst sowohl auf spezialpräventive als auch auf generalpräventive Gründe gestützt und ergibt sich - wie hier - erst im gerichtlichen Verfahren, dass die spezialpräventiven Gründe nicht (mehr) vorliegen und die Ausweisung allein auf generalpräventive Gründe gestützt wird, kann und muss die Ausländerbehörde die Befristung der Wirkungen der Ausweisung nachholen.

29 Wird ein Ausländer infolge einer besonders schweren Straftat nach Maßgabe von § 56 Abs. 1 AufenthG allein zu generalpräventiven Zwecken ausgewiesen und geht somit von ihm selbst in dem für die Ausweisungsentscheidung maßgeblichen Zeitpunkt keine relevante Gefahr der erneuten Straffälligkeit mehr aus, erfordert das bei einem derartigen Eingriff besonders zu beachtende Gebot der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich eine Befristung der Wirkungen der Ausweisung. In diesem Fall lässt sich bereits in dem für die Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt beurteilen, wie lange der Betroffene unter Berücksichtigung seiner schützwürdigen privaten Belange vom Bundesgebiet ferngehalten werden muss, damit die notwendige generalpräventive Wirkung erzielt werden kann. Es wäre deshalb unverhältnismäßig, ihn über diesen für seine Lebensplanung wichtigen Umstand im Unklaren zu lassen, ohne dass hierfür ein rechtfertigender sachlicher Grund besteht. Gerade weil der Betroffene bei einer allein generalpräventiv begründeten Ausweisung - anders als bei einer spezialpräventiv begründeten Ausweisung - keinen Einfluss auf das Entfallen des Ausweisungszwecks nehmen kann, wiegt es bei schützenswerten Bindungen an das Bundesgebiet besonders schwer, wenn ihm mit der Ausweisung keine konkrete zeitliche Perspektive für die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie der Sperre für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aufgezeigt wird. Sollten sich seine persönlichen Bindungen an die Bundesrepublik Deutschland zu einem späteren Zeitpunkt - etwa durch Änderung der familiären Situation - noch verstärken, kann dem durch eine Verkürzung der Befristung Rechnung getragen werden. Sollte der Betroffene nachträglich trotz der positiven Prognose erneut straffällig werden, kann dies bei der erneuten Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Ablauf der Sperrwirkung berücksichtigt werden.

30 b) Das Fehlen einer Befristung der Wirkungen der Ausweisung hat aber nicht zur Folge, dass die - ansonsten rechtmäßige - Ausweisung aufzuheben ist, sondern führt dazu, dass der Ausländer schon mit der Anfechtung der Ausweisung zugleich seinen Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG durchsetzen kann. Das materiellrechtliche Erfordernis, dass eine allein generalpräventiv motivierte Ausweisung in den Fällen des § 56 Abs. 1 AufenthG in ihren Wirkungen grundsätzlich zugleich zu befristen ist, ist verfahrensrechtlich dadurch zu verwirklichen, dass der bestehende Anspruch auf Befristung schon im Rechtsstreit um die Ausweisungsverfügung realisiert werden kann. Damit wird dem Anspruch des Betroffenen auf gleichzeitige Entscheidung über die Ausweisung und die Befristung ihrer Wirkungen Rechnung getragen und die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung im Ergebnis gewährleistet. Diese verfahrensrechtliche Ausgestaltung entspricht der gesetzlichen Systematik, die zwei getrennte Verwaltungsakte - nämlich die Ausweisung einerseits und die Befristung ihrer Wirkungen andererseits - vorsieht (vgl. hierzu Beschluss vom 10. Dezember 1993 - BVerwG 1 B 160.93 - Buchholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 2 zur Vorgängerregelung in § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG 1990). Prozessual wird dieses Ergebnis dadurch sichergestellt, dass in der Anfechtung der Ausweisung zugleich - als minus - für den Fall der Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ein (Hilfs-)Antrag auf Verpflichtung der Ausländerbehörde zu einer angemessenen Befristung der Wirkungen der Ausweisung gesehen wird. Der Ausländer darf insoweit nicht auf ein eigenständiges neues Verfahren verwiesen werden. Im Fall der rechtskräftigen Bestätigung der Ausweisung wird vielmehr auf den Hilfsantrag des Betroffenen hin zugleich eine Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung getroffen.

31 c) Erachtet das Gericht die Ausweisung für rechtmäßig, hat es auf den Hilfsantrag des Betroffenen hin zunächst darüber zu befinden, ob ihm bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ein Anspruch auf die Befristung der Wirkungen der Ausweisung zusteht. Sollte ein Befristungsanspruch bestehen, hat das Gericht sodann über die konkrete Dauer der Befristung zu befinden. Die Bemessung der Dauer steht nämlich seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 nicht mehr im Ermessen der Ausländerbehörde. Es handelt sich vielmehr um eine gebundene Entscheidung. Dies ergibt sich aus den folgenden Erwägungen:

32 Weder der Wortlaut des nunmehr geltenden § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. noch derjenige seiner Vorgängerreglungen in § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG a.F. oder § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG 1990 verhalten sich ausdrücklich zur Frage, ob die Bemessung der Frist in das Ermessen der Ausländerbehörden gestellt ist. Seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 ist der Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung nicht mehr allein im Regelfall gegeben, wie dies zuvor in § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG a.F. bestimmt gewesen ist. Vielmehr besteht ein solcher Anspruch - vorbehaltlich der Ausnahme nach § 11 Abs. 1 Satz 7 AufenthG - in jedem Fall. Hinsichtlich der Dauer der Frist ist nunmehr geregelt, dass sie unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen ist und fünf Jahre nur überschreiten darf, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (§ 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG n.F.). Die Änderungen des § 11 AufenthG dienen der Umsetzung des Art. 11 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 - Rückführungsrichtlinie. Mit dieser Richtlinie, die auf Art. 63 Abs. 3 Buchst. b EG (jetzt: Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV) gestützt ist und also der Bekämpfung der illegalen Einwanderung zu dienen bestimmt ist, soll eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegt werden (4. Erwägungsgrund). Im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts sollen Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden (6. Erwägungsgrund). Um die Interessen der Betroffenen wirksam zu schützen, sollen für Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr eine Reihe gemeinsamer rechtlicher Mindestgarantien gelten (11. Erwägungsgrund). Die Wirkung der einzelstaatlichen Rückführungsmaßnahmen soll einen europäischen Zuschnitt erhalten (14. Erwägungsgrund). Daher garantiert Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie, dass gegen Entscheidungen nach ihrem Art. 12 Abs. 1 - also Rückkehrentscheidungen sowie gegebenenfalls Entscheidungen über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung - ein wirksamer Rechtsbehelf eingelegt werden kann.

33 Neben dieser nunmehr unionsrechtlichen Prägung von § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, die das Interesse des Einzelnen an der zeitlichen Beschränkung des Einreiseverbots und an einem darauf bezogenen wirksamen Rechtsschutz rechtlich erheblich aufwertet, ist auch die Bedeutung der Befristung für die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK zu berücksichtigen. So zieht der EGMR die Frage der Befristung bei der Prüfung von Ausweisungen am Maßstab des Art. 8 Abs. 2 EMRK als ein wesentliches Kriterium heran (EGMR, Urteile vom 17. April 2003 - Nr. 52853/99 - Yilmaz/Deutschland - NJW 2004, 2147; vom 27. Oktober 2005 - Nr. 32231/02 - Keles/Deutschland - InfAuslR 2006, 3 <4>; vom 22. März 2007 - Nr. 1638/03 - Maslov/Österreich - InfAuslR 2007, 221 <223> und vom 25. März 2010 - Nr. 40601/05 - Mutlag/Deutschland - InfAuslR 2010, 325 <327>). In der Gesamtschau der sich aus den Grundrechten des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie aus dem Unionsrecht ergebenden Argumente und der erstmals mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 im Grundsatz eingeführten Höchstfrist von fünf Jahren sind die schützenswerten privaten Interessen des Betroffenen an der Befristung nunmehr in einer Weise aufgewertet, dass vor dem Hintergrund des insoweit offenen Wortlauts des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. nicht mehr angenommen werden kann, der Verwaltung sei ein Spielraum zur Rechtskonkretisierung im Einzelfall eingeräumt, der nur auf die Einhaltung äußerer Grenzen gerichtlich überprüfbar wäre. Die Regelung ist in ihrem europäischen Gesamtzusammenhang betrachtet nunmehr so zu verstehen, dass dem Betroffenen ein Recht auf eine vollständige gerichtliche Kontrolle der Dauer der Befristung eingeräumt ist, um sein Recht auf eine verhältnismäßige Aufenthaltsbeendigung zu sichern. An dem bisherigen Verständnis des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG a.F., der nach allgemeiner Meinung die Dauer der Befristung in das Ermessen der Ausländerbehörde stellte (h.M. vgl. etwa Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011 § 11 AufenthG Rn. 44), ist angesichts der neuen Rechtslage seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 am 26. November 2011 nicht mehr festzuhalten.

34 Sofern die Ausländerbehörde rechtsfehlerhaft keine Befristung ausgesprochen hat oder die von ihr verfügte Frist zu lang ist, hat das Gericht die Behörde deshalb zu verpflichten, die Wirkungen der Ausweisung auf einen konkreten, von ihm für geboten gehaltenen Zeitraum zu befristen. Damit ist gewährleistet, dass mit der abschließenden gerichtlichen Entscheidung über die Ausweisung auch die Dauer der Sperrwirkung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG feststeht und der Ausländer sich in seiner Lebensplanung darauf einstellen kann.

35 c) Ob die Notwendigkeit einer zugleich mit der Ausweisung zu verfügenden Befristung des Einreiseverbots künftig auch unmittelbar aus Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG hergeleitet werden könnte, bedarf hier keiner Klärung. Insbesondere kann offenbleiben, ob die Ausweisung als solche, gegebenenfalls in Verbindung mit der Abschiebungsandrohung, als Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie anzusehen ist (verneinend VGH Mannheim, Urteil vom 10. Februar 2012 - 11 S 1361/11 - juris). Denn selbst wenn dies der Fall wäre, würde die hier streitige, im Juli 2009 verfügte und mit der Klage angegriffene Ausweisung von der Richtlinie, die von den Mitgliedstaaten bis zum 24. Dezember 2010 umzusetzen war, noch nicht erfasst (vgl. zur intertemporalen Anwendung von Richtlinien: EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007 - Rs. C-349/06, Polat - Slg. 2007, I-8167 Rn. 25 ff.). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie für bereits vor deren Umsetzung begonnene und darüber hinaus andauernde Inhaftierungen gelten (vgl. EuGH, Urteil vom 30. November 2009 - Rs. C-357/09 PPU, Kadzoev - Slg. 2009, I-11189 Rn. 38). Denn Regelungen zur Dauer der Abschiebungshaft betreffen zukünftige Auswirkungen eines noch andauernden Sachverhalts und nicht die gerichtliche Kontrolle einer Behördenentscheidung, die vor Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie getroffen worden ist. Im Übrigen dürften sich aus der Richtlinie, sofern sie Ausweisungsentscheidungen erfassen sollte, auch keine weitergehenden Rechtsfolgen hinsichtlich der Befristung des Einreiseverbots ergeben, als sie für die bereits aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gebotene Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gelten.

36 5. Erweist sich die Berufungsentscheidung damit nicht bereits aus anderen Gründen als richtig, ist die Sache zur weiteren Aufklärung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen. In dem erneuten Berufungsverfahren wird der Beklagte, sofern er auch angesichts der aktuellen persönlichen Verhältnisse des Klägers an der Ausweisung festhalten will, Gelegenheit haben, seine maßgeblichen Ermessenserwägungen unter Beachtung der hierfür vom Senat aufgestellten formalen Anforderungen (Urteil vom 13. Dezember 2011 - BVerwG 1 C 14.10 - Leitsatz 2, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) zu ergänzen und die erforderliche Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung nachzuholen. Der Verwaltungsgerichtshof wird seinerseits die erforderlichen Feststellungen zur Schwere der konkreten Straftat des Klägers treffen und die festgestellten Umstände würdigen müssen. Sollte er schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bejahen und auch die - nachzuholende - Ermessensentscheidung des Beklagten einschließlich der Verhältnismäßigkeitsprüfung als rechtsfehlerfrei ansehen, müsste er auch noch über den im Begehren des Klägers als minus enthaltenen Antrag auf Verpflichtung des Beklagten zur Befristung der Wirkungen des Ausweisung oder gegebenenfalls über die Rechtmäßigkeit einer inzwischen von dem Beklagten ausgesprochen Befristung befinden.

37 Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Einer gesonderten Kostenentscheidung in Bezug auf den übereinstimmend für erledigt erklärten Teil des Rechtsstreits (Abschiebungsandrohung in Nr. 2 Abs. 2 des Bescheides) bedarf es nicht. Der Abschiebungsandrohung, die allein auf der Ausweisung beruht, kommt im vorliegenden Fall kostenmäßig keine eigenständige Bedeutung zu. Es entspricht daher billigem Ermessen im Sinne von § 161 Abs. 2 VwGO, hier in Anwendung des Rechtsgedankens des § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO von einer gesonderten Kostenregelung hinsichtlich der Abschiebungsandrohung abzusehen.