Beschluss vom 17.02.2020 -
BVerwG 2 WDB 6.19ECLI:DE:BVerwG:2020:170220B2WDB6.19.0

Aufhebung einer unverhältnismäßig langen Einbehaltung von Ruhegehalt

Leitsätze:

1. Eine ungewöhnlich lange Dauer eines Disziplinarverfahrens kann dazu führen, dass eine Einbehaltungsanordnung nach § 126 Abs. 3 WDO unverhältnismäßig wird und von der Einleitungsbehörde aufzuheben ist.

2. Im summarischen Antragsverfahren nach § 126 Abs. 5 Satz 3 WDO löst eine formell rechtskräftige Gerichtsentscheidung eine eingeschränkte Bindungswirkung mit der Folge aus, dass dieselbe Sache nur dann einer erneuten gerichtlichen Überprüfung und Entscheidung unterliegt, wenn neue Tatsachen geltend gemacht oder neue Beweismittel beigebracht werden.

  • Rechtsquellen
    WDO §§ 114, 117, 126 Abs. 3 und Abs. 5 Satz 1 und 3

  • TDG Nord 2. Kammer - 21.08.2019 - AZ: TDG N 2 GL 1/19

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 17.02.2020 - 2 WDB 6.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:170220B2WDB6.19.0]

Beschluss

BVerwG 2 WDB 6.19

  • TDG Nord 2. Kammer - 21.08.2019 - AZ: TDG N 2 GL 1/19

In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Burmeister und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Henke
am 17. Februar 2020 beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde des früheren Soldaten wird der Beschluss der ... Kammer des Truppendienstgerichts ... vom 21. August 2019 geändert.
  2. Die Anordnung der Einbehaltung von 30 Prozent des Ruhegehalts des früheren Soldaten in der Verfügung des Amtschefs des Streitkräfteamts vom 11. März 2014 wird mit Wirkung zum 5. April 2018 aufgehoben.
  3. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Gründe

I

1 Das Beschwerdeverfahren betrifft die vorläufige Einbehaltung von Ruhegehalt.

2 Der ...chef des ...amts leitete am 6. Dezember 2011 gegen den früheren Soldaten ein gerichtliches Disziplinarverfahren ein und ordnete mit Bescheid vom 11. März 2014 die Einbehaltung von 30 Prozent seines Ruhegehalts ab 1. April 2014 an. Mit Bescheid vom 8. April 2014 lehnte er dessen Antrag auf Aufhebung der Einbehaltungsanordnung ab. Der frühere Soldat nahm einen hiergegen beim Truppendienstgericht gestellten Antrag am 15. Januar 2015 zurück.

3 Nachdem im sachgleichen Strafverfahren mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 19. März 2015 gegen den früheren Soldaten wegen Betrugs und Untreue in acht Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung verhängt worden war, schuldigte die Wehrdisziplinaranwaltschaft ihn am 5. August 2016 beim Truppendienstgericht an. Er habe als Redakteur und Dezernatsleiter der ... der Bundeswehr im ...amt im Jahr 2010 ohne entsprechende Gegenleistungen Zahlungen der Bundeskasse an Dritte bzw. über Dritte an sich veranlasst und dadurch den Bund in fünfstelliger Höhe geschädigt.

4 Mit Beschluss vom 21. November 2017 wies das Truppendienstgericht einen Abänderungsantrag des früheren Soldaten gegen die mit Bescheid des ...chefs des ...amts vom 1. September 2017 aufrechterhaltene Einbehaltungsanordnung zurück. Der frühere Soldat habe das ihm vorgeworfene Dienstvergehen mit einem hinreichenden Grad an Wahrscheinlichkeit begangen. Bei vollem Tatnachweis sei die Aberkennung seines Ruhegehalts hinreichend wahrscheinlich. Die Einbehaltungsanordnung belaste ihn nicht unverhältnismäßig. Seine "Netto-Einbuße" liege deutlich unter 30 %, weil sich die Steuerlast reduziere. Auch trage er für seine Versorgungsansprüche keine Werbungskosten. Eine Existenzgefährdung sei weder substanziiert vorgetragen noch ersichtlich. Verfahrensverzögerungen seien ohne Belang, weil er im Fall der Höchstmaßnahme von jedem Monat, den das Verfahren dauere, profitiere. Werde ihm sein Ruhegehalt nicht aberkannt, sei das einbehaltene Ruhegehalt zu erstatten. Der Beschluss ist mangels Einlegung von Rechtsmitteln rechtskräftig geworden.

5 Einen dritten Antrag des früheren Soldaten vom 5. April 2018, die Einbehaltungsanordnung zum 1. April 2014 aufzuheben, lehnte der ...chef des ...amts mit Bescheid vom 21. Januar 2019 ab. Mit Beschluss vom 21. August 2019 wies das Truppendienstgericht den hiergegen gerichteten Antrag des früheren Soldaten zurück. Die Begründung entspricht im Wesentlichen derjenigen im Beschluss vom 21. November 2017.

6 Mit seiner gegen diesen Beschluss erhobenen Beschwerde macht der frühere Soldat geltend, er habe kein Dienstvergehen begangen. Den von ihm veranlassten Zahlungen an Dritte lägen gleichwertige Gegenleistungen zugrunde. Jedenfalls habe er keine Kernbereichspflichten verletzt, so dass nicht mit der Verhängung der Höchstmaßnahme zu rechnen sei. Die Einbehaltungsanordnung sei zudem aufgrund ihrer Dauer unverhältnismäßig geworden. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt ist dem entgegengetreten.

7 Das Truppendienstgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 28. Oktober 2019 nicht abgeholfen und hat sie dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

II

8 Die nach § 114 WDO zulässige Beschwerde des früheren Soldaten ist teilweise begründet. Das Truppendienstgericht hat seinen Antrag gegen den eine rückwirkende Aufhebung der Einbehaltungsanordnung vom 11. März 2014 ablehnenden Bescheid des ...chefs des ...amts vom 21. Januar 2019 zu Unrecht in vollem Umfang zurückgewiesen. Die Einbehaltungsanordnung vom 1. April 2014 ist mit Wirkung zum 5. April 2018 aufzuheben.

9 Nach § 126 Abs. 3 WDO kann die Einleitungsbehörde bei einem früheren Soldaten gleichzeitig mit der Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens oder - wie hier - später anordnen, dass ein Teil, höchstens 30 vom Hundert des Ruhegehalts einbehalten wird. Gemäß § 126 Abs. 5 Satz 1 WDO kann sie eine Einbehaltungsanordnung jederzeit von Amts wegen oder auf Antrag wieder aufheben.

10 Die Einbehaltungsanordnung nach § 126 Abs. 3 WDO setzt eine rechtswirksame Einleitungsverfügung und die Prognose voraus, dass dem früheren Soldaten im gerichtlichen Disziplinarverfahren voraussichtlich das Ruhegehalt aberkannt werden wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Juli 2002 - 2 WDB 1.02 - Buchholz 235.01 § 126 WDO 2002 Nr. 1). Bei der Ausübung ihres Ermessens hinsichtlich des Erlasses und der Aufhebung einer Einbehaltungsanordnung hat die Einleitungsbehörde den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Dieser sich als übergreifende Leitregel allen staatlichen Handelns aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Grundsatz besagt, dass das gewählte Mittel und der gewollte Zweck in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen müssen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. April 1991 - 2 WDB 3.91 - BVerwGE 93, 69 <77>). Daraus folgt, dass ein solcher Eingriff in die Rechtsposition des Betroffenen nicht länger dauern darf, als er sachlich geboten erscheint.

11 Die gesetzlich vorgesehene Einbehaltung eines Teils des Ruhegehalts ist nur in Ansehung eines ordnungsgemäß durchzuführenden Disziplinarverfahrens unter Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes eine im Allgemeinen verfassungsrechtlich unbedenkliche Maßnahme. Mit zunehmender Verzögerung des Abschlusses des Disziplinarverfahrens gerät die Aufrechterhaltung der Einbehaltung von Ruhegehalt notwendigerweise immer stärker in einen Widerstreit mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Da innerhalb einer stetig verlaufenden zeitlichen Entwicklung der präzise Zeitpunkt, zu dem eine noch verhältnismäßige, durch die Einbehaltung eines Teils des Ruhegehalts verursachte Belastung in eine unverhältnismäßige Belastung umschlägt, nicht feststellbar ist, bedarf es zur hinreichenden Begründung der Unverhältnismäßigkeit ihrer sich aus den konkreten Umständen des Einzelfalls ergebenden Evidenz, d.h. dass die mögliche Begründung der Unverhältnismäßigkeit nicht generalisierend festgestellt werden kann, sondern sich aus den konkreten Umständen des Einzelfalles ergeben muss (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. September 1993 - 2 BvR 1517/92 - NVwZ 1994, 574; BVerwG, Beschluss vom 6. April 1995 - 2 WDB 6.94 - BVerwGE 103, 222 <224 f.>).

12 Eine solche das Entscheidungsermessen der Einleitungsbehörde begrenzende Unverhältnismäßigkeit ist hier jedenfalls seit dem 5. April 2018 gegeben. Zu diesem Zeitpunkt dauerte die seit dem 1. April 2014 wirkende Einbehaltungsanordnung bereits mehr als vier Jahre an. Dabei wurde der frühere Soldat durchweg mit der gesetzlich höchstens zulässigen Einbehaltung von 30 Prozent seines Ruhegehalts belastet. Das gegen ihn geführte Disziplinarverfahren ist nicht mit der möglichen und gebotenen Beschleunigung betrieben worden. So gibt es keinen rechtfertigenden Grund dafür, dass zwischen dem im sachgleichen Strafverfahren am 11. April 2015 rechtskräftig gewordenen Strafbefehl und dem Eingang der Anschuldigungsschrift beim Truppendienstgericht am 5. August 2016 fast 14 Monate vergangen sind. Ebenso wenig ist es sachlich gerechtfertigt, dass seit dem Eingang der Anschuldigungsschrift beim Truppendienstgericht am 5. August 2016 noch keine Hauptverhandlung stattgefunden hat. Ein zeitnaher Abschluss des Disziplinarverfahrens ist nicht absehbar. Vielmehr hat der Vorsitzende der ... Kammer des Truppendienstgerichts mit Verfügung vom 26. Juni 2018 darauf hingewiesen, dass Zweifel an der hinreichenden Bestimmtheit der Anschuldigungen bestünden, und hat der Wehrdisziplinaranwaltschaft anheim gestellt, eine Nachtragsanschuldigungsschrift in Betracht zu ziehen. Ferner hat er sie zur Vorlage weiterer Unterlagen zwecks Klärung, ob eine Verletzung von Kernbereichspflichten vorliegt, sowie zur Bestimmung von Art und Umfang eines gegebenenfalls einzuholenden Sachverständigengutachtens aufgefordert. In seinem Beschluss vom 21. August 2019 hat das Truppendienstgericht erneut auf die Befugnis der Wehrdisziplinaranwaltschaft verwiesen, die Anschuldigungen, an deren Bestimmtheit es weiterhin Zweifel geäußert hat, durch eine Nachtragsanschuldigungsschrift zu verändern oder zu ergänzen. Der frühere Soldat selbst hat die Verzögerungen nicht zu verantworten. Auch hat er während des gerichtlichen Disziplinarverfahrens mehrfach von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Berechtigung der Einbehaltung eines Teils seines Ruhegehalts überprüfen zu lassen.

13 Demgegenüber ist die Einbehaltungsanordnung nicht auch für den Zeitraum vom 1. April 2014 bis zum 4. April 2018 aufzuheben. Denn das Truppendienstgericht hat mit Beschluss vom 21. November 2017 bereits entschieden, dass sie nicht aufzuheben ist. Dieser Beschluss ist mangels Einlegung von Rechtsmitteln nach § 125 Abs. 1 Satz 1 WDO formell rechtskräftig geworden. Zwar entfaltet er mit Rücksicht auf den vorläufigen Charakter von Anordnungen nach § 126 Abs. 3 WDO und des summarischen Antragsverfahrens nach § 126 Abs. 5 Satz 3 keine materielle Rechtskraft (vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Dezember 2009 - 2 WDB 4.09 - Buchholz 450.2 § 126 WDO 2002 Nr. 6). Er löst aber eine eingeschränkte Bindungswirkung mit der Folge aus, dass dieselbe Sache nur dann einer erneuten gerichtlichen Überprüfung und Entscheidung unterliegt, wenn neue Tatsachen geltend gemacht oder neue Beweismittel beigebracht werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. Juli 1991 - 1 DB 14.91 - ZBR 1992, 86 m.w.N.).

14 Der frühere Soldat hat indes keine neuen Tatsachen vorgetragen oder neue Beweismittel beigebracht, die das Truppendienstgericht bei seiner Beschlussfassung am 21. November 2017 nicht zur Kenntnis genommen und erwogen hat. Der Aufhebungsantrag vom 5. April 2018 entspricht - abgesehen von seinen Ausführungen zu der auch nach dem 21. November 2017 nicht erkennbaren zeitnahen Beendigung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens - wörtlich demjenigen vom 15. Mai 2017. Auch die Anträge auf gerichtliche Entscheidung vom 5. Oktober 2017 und vom 18. Februar 2019 sind nahezu wortgleich. Das im Antrag vom 18. Februar 2019 zusätzlich in Bezug genommene Schreiben des Verteidigers des früheren Soldaten an die Einleitungsbehörde vom 19. Dezember 2018 enthält ebenso wie dessen Schriftsätze vom 19. Februar 2019 und vom 21. Mai 2019 keine entscheidungserheblichen neuen Tatsachen oder Beweismittel. Vielmehr wird darin an sämtlichen Beweisanträgen festgehalten, die schon im Schriftsatz vom 6. Dezember 2016 gestellt wurden, der dem Truppendienstgericht bei seiner Beschlussfassung am 21. November 2017 vorlag. Vor diesem Hintergrund einer im Wesentlichen unveränderten Sachlage war es seitens des Streitkräfteamtes nicht ermessensfehlerhaft, auf den Antrag vom 5. April 2018 die Einbehaltungsanordnung nicht rückwirkend aufzuheben. Hingegen überschritt die Aufrechterhaltung der Einbehaltungsanordnung für die Zukunft - wie ausgeführt - die durch das Übermaßverbot gezogenen Grenzen des Ermessens.

15 Einer Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bedurfte es nicht. Diese werden von der zur Hauptsache ergehenden Kostenentscheidung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens mit erfasst (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Oktober 2019 - 2 WDB 3.19 - juris Rn. 29).