Beschluss vom 23.12.2011 -
BVerwG 5 B 24.11ECLI:DE:BVerwG:2011:231211B5B24.11.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 23.12.2011 - 5 B 24.11 - [ECLI:DE:BVerwG:2011:231211B5B24.11.0]

Beschluss

BVerwG 5 B 24.11

  • VG Potsdam - 25.08.2010 - AZ: VG 1 K 414/05

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Dezember 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Fleuß
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 25. August 2010 wird aufgehoben.
  2. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren und das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht unter Abänderung der Festsetzung durch das Verwaltungsgericht auf jeweils 90 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil das Urteil unter einem Verfahrensmangel leidet und die Entscheidung auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann. Bei seiner Entscheidungsfindung ist dem Verwaltungsgericht ein Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO unterlaufen, weil sein Urteil auf widersprüchliche tatsächliche Feststellungen gestützt ist.

2 Die Grundsätze der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind in der Regel revisionsrechtlich dem sachlichen Recht zuzuordnen (stRspr, vgl. Beschlüsse vom 11. August 1999 - BVerwG 11 B 61.98 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 19 und vom 22. Juli 2009 - BVerwG 5 B 45.09 - juris). Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung („Überzeugungsgrundsatz“) im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO betrifft die Feststellung aller für die Entscheidung des Gerichts erheblichen Tatsachen und deren „freie Würdigung“, mithin die ausreichende Erforschung und Würdigung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen wie etwa des Akteninhalts, des Vortrags der Beteiligten, eingeholter Auskünfte oder gerichtskundiger Tatsachen (Beschluss vom 30. Juni 2003 - BVerwG 4 B 35.03 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 26). Die Einhaltung der aus § 108 Abs. 1 VwGO folgenden verfahrensmäßigen Verpflichtung ist nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter eine aus seiner Sicht fehlerhafte Verwertung des vorliegenden Tatsachenmaterials rügt, aus dem er andere Schlüsse ziehen will als die angefochtene Entscheidung. Denn damit wird ein - angeblicher - Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung angesprochen, der einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO grundsätzlich nicht begründen kann (vgl. etwa Beschlüsse vom 10. Oktober 2001 - BVerwG 9 BN 2.01 - Buchholz 401.65 Hundesteuer Nr. 7 und vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 <S. 18 f.>). Ein solcher ist nur ausnahmsweise in den Fällen einer sog. Aktenwidrigkeit oder einer gegen die Denk- oder Naturgesetze verstoßenden oder sonst von Willkür geprägten Sachverhaltswürdigung in Betracht zu nehmen (stRspr; vgl. Beschluss vom 21. September 2011 - BVerwG 5 B 11.11 - juris Rn. 9).

3 Eine Aktenwidrigkeit der tatsächlichen Feststellungen liegt vor, wenn zwischen den in der angegriffenen Entscheidung getroffenen Annahmen und dem insoweit unumstrittenen Akteninhalt ein Widerspruch besteht. Dieser Widerspruch muss offensichtlich sein, so dass es einer weiteren Beweiserhebung zur Klärung des richtigen Sachverhalts nicht bedarf; der Widerspruch muss also „zweifelsfrei“ sein (stRspr; vgl. z.B. Beschlüsse vom 6. April 2009 - BVerwG 6 B 73.08 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 60 Rn. 4 und vom 10. Mai 2011 - BVerwG 8 B 12.11 - juris Rn. 15, jeweils m.w.N.). Dies ist hier der Fall. Das angegriffene Urteil trifft eine Feststellung, die im Widerspruch zum unumstrittenen Akteninhalt steht.

4 Das Verwaltungsgericht stellt fest, Joachim X habe der NSDAP als einfaches Mitglied angehört und eine herausgehobene Position oder Tätigkeit innerhalb der NSDAP oder einer ihrer Untergliederungen nicht wahrgenommen (UA S. 8 a.E./9, Nr. 2 Buchst. b der Urteilsgründe). Im Zusammenhang mit der ebenfalls in dem Urteil getroffenen Feststellung, nach der Joachim X als Hauptstellenleiter im Amt für Volkswohlfahrt tätig war (UA S. 3 und 9, Buchst. c), erweist sich diese Feststellung als aktenwidrig. Sie steht offensichtlich in Widerspruch zu der sich in den Gerichtsakten befindenden Stellungnahme des Instituts für Zeitgeschichte vom 1. August 2007 an das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen (GA S. 521 f.). Dort wird dargelegt, dass es sich bei dem Hauptamt um einen Teil der Reichsleitung handelte, die die oberste Ebene der Parteihierarchie unter Hitler darstellte (vgl. auch Rang- und Organisationsliste der NSDAP mit Gliederungen, angeschlossenen Verbänden und betreuten Organisationen unter Beschreibung weiterer Verbände, Einrichtungen, Dienststellen und Personengruppen, Stuttgart 1947, S. 14). War X als Hauptstellenleiter hauptamtlich innerhalb der Reichsleitung der NSDAP tätig, widerspricht dies der Feststellung, er sei nur einfaches Mitglied der NSDAP gewesen und habe eine herausgehobene Tätigkeit innerhalb der NSDAP nicht wahrgenommen. Soweit das Verwaltungsgericht in Übereinstimmung mit der Stellungnahme des Instituts für Zeitgeschichte feststellt, es habe sich bei einem Hauptstellenleiter hierarchisch um eine einem Referatsleiter in einem Ministerium vergleichbare Stelle gehandelt, ändert dies nichts daran, dass X in einem Hauptamt der Reichsleitung der NSDAP Leitungsfunktionen erfüllt hat.

5 Ein Beruhen des Urteils auf der fehlerhaften Feststellung, X sei nur einfaches Mitglied der NSDAP gewesen, lässt sich nicht ausschließen. Wäre das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass X hauptamtlich auf Reichsebene in der Partei tätig war, hätte es Anlass zu der Prüfung gehabt, ob dieser Tätigkeit X bereits eine Indizwirkung für ein erhebliches Vorschubleisten zugunsten des nationalsozialistischen Systems im Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG zukommt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt der Wahrnehmung herausgehobener Funktionen in der NSDAP, zum Beispiel als führender Funktionär auf Reichsebene, zumal wenn sie über einen längeren Zeitraum und im Sinne der Partei beanstandungsfrei ausgeübt worden sind, regelmäßig eine objektive Indizwirkung für ein erhebliches Vorschubleisten zugunsten des nationalsozialistischen Systems zu (Urteile vom 19. Oktober 2006 - BVerwG 3 C 39.05 - BVerwGE 127, 56 = Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 7, jeweils Rn. 25, und vom 29. September 2010 - BVerwG 5 C 16.09 - Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 21 Rn. 17 und 22 = ZOV 2011, 36 <38>; Beschlüsse vom 14. Januar 2008 - BVerwG 5 B 199.07 - ZOV 2008, 99 und vom 9. April 2008 - BVerwG 5 B 168.07 - ZOV 2008, 163). Besteht eine tatsächliche Vermutung für ein erhebliches Vorschubleisten und ist diese nicht erschüttert, käme es auf die übrigen, von dem Verwaltungsgericht vornehmlich in den Blick genommenen Handlungen und Funktionen X nicht mehr entscheidend an. Es müsste auch nicht untersucht werden, ob die von Hitler bescheinigten Verdienste X „um die Bewegung“ bereits den Schluss auf ein erhebliches Vorschubleisten zulassen.

6 2. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der ihm in § 133 Abs. 6 VwGO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, die angegriffene Entscheidung aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.

7 3. Die Kostenentscheidung ist der Schlussentscheidung vorzubehalten. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes sowie die Abänderung der Festsetzung des Verwaltungsgerichts beruhen auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 3, § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG. Der Senat orientiert sich dabei an dem vom Beklagten für den Verlust des ehemaligen Vermögens der Ehefrau Joachim X mit Bescheid vom 2. September 2004 festgesetzten Entschädigungsanspruch (VA S. 635).