Beschluss vom 01.08.2022 -
BVerwG 1 B 52.22ECLI:DE:BVerwG:2022:010822B1B52.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 01.08.2022 - 1 B 52.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:010822B1B52.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 52.22

  • VG Leipzig - 26.02.2020 - AZ: 1 K 1321/19.A
  • OVG Bautzen - 22.03.2022 - AZ: 4 A 309/20.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 1. August 2022
durch den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 22. März 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 1. Die auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

2 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisherigen revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - Buchholz 442.066 § 78 TKG Nr. 1 Rn. 6 f. und 11. November 2011 - 5 B 45.11 - juris Rn. 3). Daran gemessen kommt die Zulassung der Revision nicht in Betracht.

3 a) Die Revision ist nicht hinsichtlich der Fragen
"Ist das Rundschreiben vom 08.02.2021 der Italienischen Republik an die anderen Dublin-Staaten ausreichend, um die Feststellung zu tragen, dass der Klägerin mit ihrer Familie mit zwei Kleinkindern jedenfalls eine Unterkunft bei/in Kirchen, NGO's und Privatpersonen oder in (staatlichen) Notunterkünften garantiert ist?"
und
"Ist für die Klägerin und ihre Familie mit zwei Kleinkindern die Unterbringung in (staatlichen) Notunterkünften, die regelmäßig nur Plätze zum Schlafen vorhalten, zumutbar?"
zuzulassen.

4 Für die Zulassung der Revision reicht, anders als für die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO/§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG (BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 - BVerwGE 70, 24 <26>), eine Tatsachenfrage grundsätzlicher Bedeutung nicht aus (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. September 2020 - 1 B 38.20 -). Die Klärungsbedürftigkeit muss vielmehr in Bezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab, nicht auf die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung bestehen; auch der Umstand, dass das Ergebnis der zur Feststellung und Würdigung des Tatsachenstoffes berufenen Instanzgerichte voneinander abweicht oder für eine Vielzahl von Verfahren von Bedeutung ist, lässt für sich allein nach geltendem Revisionszulassungsrecht eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu. Der Gesetzgeber hat insoweit auch für das gerichtliche Asylverfahren an den allgemeinen Grundsätzen des Revisionsrechts festgehalten und für das Bundesverwaltungsgericht keine Befugnis eröffnet, Tatsachen(würdigungs)fragen grundsätzlicher Bedeutung in "Länderleitentscheidungen", wie sie etwa das britische Prozessrecht kennt, zu treffen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 21 ff. zur Feststellung einer extremen Gefahrenlage) haben sich allerdings die Berufungsgerichte nach § 108 VwGO (erkennbar) mit abweichenden Tatsachen- und Lagebeurteilungen anderer Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe auseinanderzusetzen. Dies hat das Berufungsgericht hier getan.

5 Auch soweit die zweite Frage zur Zumutbarkeit einer Unterbringung in "(staatlichen) Notunterkünften, die regelmäßig nur Plätze zum Schlafen vorhalten", eine Rechtsfrage darstellt, ist ein im vorliegenden Fall bestehender grundsätzlicher Klärungsbedarf nicht dargelegt. Die Klägerin führt weder aus, warum die Unterbringung in einer Unterkunft, die "nur" Plätze zum Schlafen bereithält, nicht zumutbar sein soll, und welche weiteren Leistungen hierfür aus welchen Gründen ihrer Auffassung nach geboten werden müssten, noch ist dargelegt oder ohne Weiteres ersichtlich, dass die in der Frage enthaltenen Tatsachenfeststellungen im Berufungsurteil überhaupt so getroffen worden sind. Die Revision kann aber nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen werden, wenn die Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung von einer tatsächlichen Annahme ausgeht, die von der Vorinstanz nicht festgestellt wurde (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2006 - 6 B 27.06 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 35 Rn. 8).

6 b) Die Revision ist auch nicht hinsichtlich der Frage
"Ist es statthaft, Asylbewerber, die noch kein behördliches Asylverfahren in Italien durchlaufen haben, nach den italienischen Rechtsvorschriften zum Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem, die für Menschen gelten, denen in Italien internationaler Schutz zugesprochen worden ist, zu beurteilen, dabei insbesondere darauf abzustellen, dass in Italien international Geschützte nach erfolgter Registrierung italienischen Staatsangehörigen gleichgestellt sind?"
zuzulassen. Auch mit dieser Frage wendet sich die Beschwerde der Sache nach gegen die Tatsachenwürdigung des Berufungsgerichts, nämlich die Anwendung des für international Schutzberechtigte geltenden italienischen Sozialversicherungsrechts auf schutzsuchende Asylantragsteller, ohne diese Tatsachenwürdigung mit Verfahrensrügen anzugreifen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. März 2018 - 1 B 155.17 - juris Rn. 3 f. m. w. N.).

7 c) Ohne Erfolg bleibt die Revision auch in Bezug auf die als rechtsgrundsätzlich aufgeworfene Frage
"Ist eine Verweisung auf die Ausübung einer Tätigkeit im Bereich der (italienischen) Schattenwirtschaft mit Schwarzarbeit statthaft, obwohl die Republik Italien sich dem Beschluss des Europäischen Parlamentes und Rates 2016/344/EU vom 09.03.2016 angeschlossen hat und Schwarzarbeit jedenfalls seit dem Jahr 2021 mit Geldstrafen für die Arbeit-/Auftraggeber von € 2.000,00 bis € 50.000,00 und gegebenenfalls Haft bedroht?".

8 Die Entscheidungserheblichkeit dieser Frage ist weder im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt noch in der Sache ersichtlich. Ist die vorinstanzliche Entscheidung auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, so kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Zulassungsgrund dargelegt wird und vorliegt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 29. Januar 2013 - 4 BN 18.12 - juris Rn. 2 und vom 17. September 2019 - 1 B 41.19 - juris Rn. 7). Die Beschwerde setzt sich nicht damit auseinander, dass das Berufungsgericht seine Auffassung, Familien mit minderjährigen Kindern werde es voraussichtlich gelingen, die erforderlichen finanziellen Mittel zur Existenzsicherung zu erhalten, nicht allein auf die Möglichkeit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, sei es innerhalb des regulären Arbeitsmarkts (UA Rn. 52 ff.), sei es in der Schattenwirtschaft (UA Rn. 57), sondern für den Fall eines Angewiesenseins auf finanzielle Hilfen - und insoweit selbständig tragend - auch auf die voraussichtliche Bereitstellung finanzieller Mittel durch den italienischen Staat (UA Rn. 58 ff.) gestützt hat.

9 Damit kann es auf sich beruhen, ob die Beschwerde Klärungsbedarf in Bezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab sieht (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 20. Januar 2022 - 1 B 5.22 - juris Rn. 25 f.) oder sich vielmehr - wofür der Verweis auf Maßnahmen des italienischen Staates zur Bekämpfung von Schwarzarbeit hindeuten könnte - auch insoweit gegen die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung wendet. Für den Fall, dass die Frage dessen ungeachtet als Rechts- und nicht als Tatsachenfrage aufzufassen wäre, bliebe die Beschwerde auch deshalb ohne Erfolg, weil sich ihre Begründung nicht substantiiert mit der Statthaftigkeit einer Verweisung auf die Ausübung einer Tätigkeit im Bereich der Schattenwirtschaft auseinandersetzt. Die bloße Bezugnahme auf den Beschluss 2016/344/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Einrichtung einer Europäischen Plattform zur Stärkung der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit vermag den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht zu genügen.

10 2. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

11 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 RVG; Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.