Beschluss vom 04.11.2021 -
BVerwG 9 B 31.21ECLI:DE:BVerwG:2021:041121B9B31.21.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 04.11.2021 - 9 B 31.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:041121B9B31.21.0]

Beschluss

BVerwG 9 B 31.21

  • VG Mainz - 24.06.2020 - AZ: VG 3 K 896/19.MZ
  • OVG Koblenz - 29.06.2021 - AZ: OVG 6 A 10169/21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. November 2021
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Bick und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Steinkühler und Dr. Dieterich
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. Juni 2021 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 021,12 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Die Klägerin begehrt das Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich eines Gebührenbescheids für eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung.

2 Mit Bescheid vom 18. März 2016 zog der Beklagte die Klägerin zu Gebühren für eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung heran; der Bescheid wurde bestandskräftig. Durch Beschluss vom 30. Mai 2018 - 1 BvR 45/15 - (NVwZ 2019, 57 ff.) erklärte das Bundesverfassungsgericht die dem Gebührenbescheid zugrundeliegende Rechtsgrundlage für mit Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar. In Randnummer 32 des Beschlusses heißt es:
"Laufende Gerichts- und Verwaltungsverfahren, in denen Nummer 4.1.1.1 Besonderes Gebührenverzeichnis entscheidungserheblich ist, bleiben bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, längstens aber bis zum 31. Dezember 2018 ausgesetzt oder sind auszusetzen (vgl. BVerfGE 37, 217 <260 f.>; 82, 126 <155>; 105, 73 <134>). Die Aussetzung gibt dem Verordnungsgeber Gelegenheit zu einer verfassungskonformen Neuregelung. Verzichtet er auf eine Regelung, tritt am 1. Januar 2019 Nichtigkeit ein."

3 Durch Änderungsverordnung vom 28. November 2018 wurde die für nichtig erklärte Bestimmung rückwirkend zum 13. Mai 2006 neu gefasst. Die Klägerin beantragte daraufhin das Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich des vorgenannten Gebührenbescheids, hilfsweise dessen Rücknahme. Der Beklagte lehnte den Antrag ab; der Widerspruch sowie die Klage und die Berufung der Klägerin hatten ebenfalls keinen Erfolg.

II

4 Die auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und des Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

5 1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

6 Grundsätzlich bedeutsam im Sinne dieser Vorschrift ist eine Rechtssache nur, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Den Darlegungen der Beschwerde lässt sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.

7 Die Frage,
ob es für den Erlass einer gesetzlichen Regelung, welche von den grundsätzlichen Wirkungen des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG abweicht, einer besonderen Formulierung einer solchen Vorschrift bedarf, wenn von dieser auch bereits bestandskräftig abgeschlossene Verwaltungsentscheidungen erfasst werden und solche nachträglich neu zu treffen sein sollen,
betrifft zwar Bundesrecht und damit revisibles Recht im Sinne des § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Sie ist aber nicht klärungsbedürftig, denn sie lässt sich ohne Weiteres mit Hilfe der herkömmlichen Auslegungsmethoden beantworten. Es ergibt sich bereits eindeutig aus dem Wortlaut des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, dass es "einer besonderen gesetzlichen Regelung" bedarf, soll nicht der − ebenfalls in § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG beschriebene − Regelfall eintreten, demzufolge "die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt (bleiben)".

8 Wie die weitere Beschwerdebegründung zeigt (S. 2 ff.), geht es ihr letztlich um die Frage, ob Art. 3 der Änderungsverordnung eine solche besondere Regelung im Sinne des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG darstellt. Das Berufungsgericht hat dies unter Hinweis auf den Wortlaut, die Einbettung der Regelung in das Gesamtgefüge des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, die Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Norm verneint (UA S. 12 ff.). An diese Auslegung einer landesrechtlichen Vorschrift ist der Senat im Revisionsverfahren nach § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 560 ZPO gebunden. Dass vorliegend ausnahmsweise ein revisionsrechtlich zu beachtender Verfahrensfehler vorliegen könnte, weil die Auslegung des Oberverwaltungsgerichts gegen Natur- oder Denkgesetze, allgemeine Erfahrungs- oder Auslegungsregeln verstoßen oder sonst die Grenze einer objektiv willkürfreien Würdigung überschritten hätte, macht die Klägerin weder ausdrücklich noch der Sache nach substantiiert geltend. Vielmehr erschöpft sich ihre Kritik in der wiederholten Aussage, die Auslegung des Berufungsgerichts halte sich nicht an Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.

9 2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen.

10 Die angegriffene Entscheidung weicht nur dann von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder des Bundesverwaltungsgerichts ab, wenn das Oberverwaltungsgericht sich in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einem in der herangezogenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Widerspruch gesetzt hat (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 30. Juni 2021 - 9 B 46.20 - juris Rn. 24). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Beschwerde benennt keinen Rechtssatz, mit dem das Berufungsgericht von obergerichtlicher Rechtsprechung abgewichen wäre. Hinsichtlich der oben genannten Frage zur Auslegung des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG geht die Beschwerde selbst davon aus, dass es hierzu keine Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebe; damit scheidet eine Abweichung insoweit von vornherein aus. Hinsichtlich der "Auslegung anhand der anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung" gibt die Beschwerde zwar eine Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts an, benennt allerdings keinen abweichenden Rechtssatz des Berufungsgerichts. In der Sache handelt es sich auch hier vielmehr − wie bereits bei der Grundsatzrüge ausgeführt − um einen Angriff gegen die Rechtsanwendung der Vorinstanz im Einzelfall. Damit kann aber weder die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache noch eine Divergenz dargetan werden.

11 3. Auch ein Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor.

12 a) Das Berufungsgericht hat sich durch die Bezugnahme auf die Kommentierung in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG-Kommentar, Stand Januar 2020, § 79 Rn. 44 (vgl. UA S. 11 Mitte) nicht auf eine Rechtsauffassung gestützt, die mit den Beteiligten zuvor nicht erörtert wurde. Vielmehr war die genannte Kommentarstelle bereits Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens (vgl. hierzu nur Urteil des Verwaltungsgerichts vom 24. Juni 2020 UA S. 9 sowie Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung vom 1. September 2020 S. 8).

13 b) Das Berufungsgericht hat des Weiteren nicht das klägerische Vorbringen zur Auslegung des Art. 2 der Änderungsverordnung "vollständig ignoriert". Vielmehr hat es dieses im Tatbestand des Urteils (S. 5 f.) zusammenfassend wiedergegeben; dass es ihm in der Sache nicht gefolgt ist, begründet keinen Gehörsverstoß.

14 c) Gleiches gilt für das Argument, bei dem von der Beklagten für die Auslegung der Änderungsverordnung herangezogenen Dokument handele es sich lediglich um einen nicht unterschriebenen Entwurf ohne Angaben zu Datum und Verfasser. Auch dieses Vorbringen hat das Berufungsgericht im Tatbestand des Urteils (S. 6) vollständig wiedergegeben, es also nicht übergangen. Soweit die Beschwerde kritisiert, das Berufungsgericht habe das Dokument trotz der klägerischen Bedenken "als offizielle Begründung der Änderungsverordnung zur Auslegung herangezogen", geht es der Sache nach nicht um einen Verfahrensfehler, sondern um eine inhaltliche Kritik an der Würdigung des Dokuments. Im Übrigen kam dem Dokument für das Berufungsgericht keine derart zentrale Bedeutung zu, wie es die Beschwerde in ihrer Begründung darstellt. Wie oben bereits erwähnt, hat es die Änderungsverordnung anhand der anerkannten Auslegungsmethoden (Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck, Entstehungsgeschichte) ausgelegt. Auf den Entwurf ist es lediglich ergänzend im Zusammenhang mit der subjektiven Vorstellung des Verordnungsgebers eingegangen (UA S. 14 f.), wobei es zugleich betont hat, dass es auf diese nicht entscheidend ankomme. Vor diesem Hintergrund liegt auch kein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz vor (§ 86 VwGO). Das Berufungsgericht war − ausgehend von seiner materiell-rechtlichen Rechtsauffassung, für die es bei der Beurteilung eines Verfahrensfehlers maßgeblich ankommt − nicht gehalten, weitere Nachforschungen zur Änderungsverordnung anzustellen.

15 d) Schließlich liegt auch kein Verfahrensfehler in der Handhabung der Vorschriften zur gerichtlichen Überprüfung von Ermessensentscheidungen (§ 114 Satz 1 VwGO), die die Beschwerde hier in Bezug auf den − erstmals im Widerspruchsverfahren von der Klägerin genannten − Anspruch nach § 21 Abs. 1 LGebG rügt.

16 Das Berufungsgericht hat eine gesonderte Entscheidung durch den Beklagten über den Anspruch nach § 21 Abs. 1 LGebG für nicht erforderlich gehalten, da sich die Ermessenserwägungen zu der von der Klägerin beantragten Rücknahme des Gebührenbescheids und der Billigkeitsentscheidung zur Rückerstattung überzahlter Gebühren deckten. Ein Ermessensausfall liege damit nicht vor (UA S. 17 unten). Die Beschwerde hält das Vorgehen des Berufungsgerichts für unzulässig; es habe die fehlende Ermessensentscheidung "ersetzt" (Beschwerdebegründung S. 12 oben). Mit dieser Kritik kann sie jedoch nicht erfolgreich einen Verfahrensmangel begründen. Denn ein solcher ist nur anzunehmen, wenn gegen eine Vorschrift verstoßen wird, die den äußeren Verfahrensablauf regelt, nicht aber dann, wenn die Vorinstanz eine Vorschrift missachtet hat, die den inneren Vorgang der richterlichen Rechtsfindung bestimmt. § 114 Satz 1 VwGO regelt in Ergänzung von § 113 Abs. 1 und 5 VwGO die Grenzen der materiellen Befugnis der Verwaltungsgerichte, die behördliche Ermessensausübung zu kontrollieren. Überschreitet ein Gericht diese Grenzen, liegt darin ein materiellrechtlicher Fehler, der im Anwendungsbereich des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO unbeachtlich ist (BVerwG, Beschluss vom 19. August 2013 - 5 B 47.13 - juris Rn. 7 m.w.N.).

17 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.