Beschluss vom 12.10.2022 -
BVerwG 1 B 53.22ECLI:DE:BVerwG:2022:121022B1B53.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 12.10.2022 - 1 B 53.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:121022B1B53.22.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 53.22

  • VG Leipzig - 27.07.2020 - AZ: 1 K 1320/19.A
  • OVG Bautzen - 22.03.2022 - AZ: 4 A 671/20.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 12. Oktober 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und Böhmann
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 22. März 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

2 1. Die Revision ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

3 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 - 6 B 22.06 - NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3 m. w. N.).

4 Diesen Anforderungen wird das Vorbringen des Klägers nicht gerecht.

5 a) Die erste von der Beschwerde als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfene Frage,
ob eine Verweisung auf die Ausübung einer Tätigkeit im Bereich der (italienischen) Schattenwirtschaft mit Schwarzarbeit statthaft ist, obwohl die Republik Italien sich dem Beschluss des Europäischen Parlamentes und Rates 2016/344/EU vom 09.03.2016 angeschlossen hat und Schwarzarbeit jedenfalls seit dem Jahr 2021 mit Geldstrafen für die Arbeit-/Auftraggeber von 2.000,00 bis 50.00 0 ,00 € und gegebenenfalls Haft bedroht,
rechtfertigt es nicht, die Revision zuzulassen, weil sie im vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich ist und sich daher in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht stellen würde.

6 Ist die vorinstanzliche Entscheidung - wie vorliegend - auf mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt, so kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Zulassungsgrund dargelegt wird und vorliegt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 29. Januar 2013 - 4 BN 18.12 - juris Rn. 2 und vom 17. September 2019 - 1 B 41.19 - juris Rn. 7). Die Beschwerde setzt sich nicht damit auseinander, dass das Berufungsgericht seine Auffassung, Familien mit minderjährigen Kindern werde es voraussichtlich gelingen, die erforderlichen finanziellen Mittel zur Existenzsicherung zu erhalten, nicht allein auf die Möglichkeit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, sei es innerhalb des regulären Arbeitsmarkts (UA Bl. 18 ff., Rn. 52 ff.), sei es in der Schattenwirtschaft (UA Bl. 20, Rn. 57), sondern für den Fall eines Angewiesenseins auf finanzielle Hilfen - und insoweit selbstständig tragend - auch auf die voraussichtliche Bereitstellung finanzieller Mittel durch den italienischen Staat (UA Bl. 21 f., Rn. 58 ff.) gestützt hat.

7 Damit kann es auf sich beruhen, ob die Beschwerde Klärungsbedarf in Bezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab sieht (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 20. Januar 2022 - 1 B 5.22 - juris Rn. 25 f.) oder sich vielmehr - wofür der Verweis auf Maßnahmen des italienischen Staates zur Bekämpfung von Schwarzarbeit hindeuten könnte - auch insoweit gegen die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung wendet. Für den Fall, dass die Frage dessen ungeachtet als Rechts- und nicht als Tatsachenfrage aufzufassen wäre, bliebe die Beschwerde auch deshalb ohne Erfolg, weil sich ihre Begründung nicht substantiiert mit der Statthaftigkeit einer Verweisung auf die Ausübung einer Tätigkeit im Bereich der Schattenwirtschaft auseinandersetzt. Die bloße Bezugnahme auf den Beschluss 2016/344/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Einrichtung einer Europäischen Plattform zur Stärkung der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit genügt den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht.

8 b) Auch aufgrund der beiden weiteren von der Beschwerde als grundsätzlich klärungsbedürftig gestellten Fragen,
ob das Rundschreiben vom 08.02.2021 der Italienischen Republik an die anderen Dublin-Staaten ausreichend ist, um die Feststellung zu tragen, dass dem Kläger mit seiner Familie mit zwei Kleinkindern jedenfalls eine Unterkunft bei/in Kirchen, NGO’s und Privatpersonen oder in staatlichen Notunterkünften garantiert ist,
und
ob für den Kläger und seine Familie mit zwei Kleinkindern die Unterbringung in (staatlichen) Notunterkünften, die regelmäßig nur Plätze zum Schlafen vorhalten, zumutbar ist,
ist die Revision nicht zuzulassen.

9 Für die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung reicht, anders als für die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO oder § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG (BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 - BVerwGE 70, 24 <26>), eine Tatsachenfrage von grundsätzlicher Bedeutung nicht aus (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. September 2020 - 1 B 38.20 - juris Rn. 3). Die Klärungsbedürftigkeit muss vielmehr in Bezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab, nicht auf die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung bestehen. Auch der Umstand, dass das Ergebnis der zur Feststellung und Würdigung des Tatsachenstoffes berufenen Instanzgerichte voneinander abweicht oder für eine Vielzahl von Verfahren von Bedeutung ist, lässt für sich allein eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 21 ff.) haben sich allerdings die Berufungsgerichte nach § 108 VwGO (erkennbar) mit abweichenden Tatsachen- und Lagebeurteilungen anderer Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe auseinanderzusetzen. Dies hat das Berufungsgericht hier getan (UA Bl. 22 f., Rn. 63 ff.).

10 Auch soweit die damit verbundene Frage zur Zumutbarkeit einer Unterbringung in "(staatlichen) Notunterkünften, die regelmäßig nur Plätze zum Schlafen vorhalten", eine Rechtsfrage darstellt, ist ein im vorliegenden Fall bestehender grundsätzlicher Klärungsbedarf nicht dargelegt. Der Kläger führt weder aus, warum die Unterbringung in einer Unterkunft, die "nur" Plätze zum Schlafen bereithält, nicht zumutbar sein soll, und welche weiteren Leistungen hierfür aus welchen Gründen ihrer Auffassung nach geboten werden müssten, noch ist dargelegt oder ohne Weiteres ersichtlich, dass die in der Frage enthaltenen Tatsachenfeststellungen im Berufungsurteil überhaupt so getroffen worden sind. Die Revision kann aber nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen werden, wenn die Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung von einer tatsächlichen Annahme ausgeht, die von der Vorinstanz nicht festgestellt wurde (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2006 - 6 B 27.06 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 35 Rn. 8).

11 c) Soweit die Beschwerde schließlich die Frage als rechtsgrundsätzlich bedeutsam aufwirft,
ob es statthaft ist, Asylbewerber, die noch kein behördliches Asylverfahren in Italien durchlaufen haben, nach den italienischen Rechtsvorschriften zum Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem, die für Menschen gelten, denen in Italien internationaler Schutz zugesprochen worden ist, zu beurteilen, dabei insbesondere darauf abzustellen, dass in Italien international Geschützte nach erfolgter Registrierung italienischen Staatsangehörigen gleichgestellt sind,
würde sie sich in einem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich stellen, weil das Berufungsgericht - entgegen der Annahme der Beschwerde - hinsichtlich der staatlichen Gesundheitsversorgung in Italien sehr wohl zwischen Asylbewerbern und international Schutzberechtigten unterscheidet. Für beide Personengruppen sieht das Berufungsgericht auf der Grundlage von ihm herangezogener sachverständiger Auskünfte in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Art und Weise den tatsächlichen Zugang zu medizinischer Versorgung als gesichert an (vgl. UA Bl. 15, Rn. 41).

12 Unabhängig vom Vorstehenden wendet sich die Beschwerde auch mit dieser Frage der Sache nach gegen die Tatsachenwürdigung des Berufungsgerichts, nämlich die Anwendung des für international Schutzberechtigte geltenden italienischen Sozialversicherungsrechts auf Schutz suchende Asylantragsteller, ohne diese Tatsachenwürdigung mit Verfahrensrügen anzugreifen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. März 2018 - 1 B 155.17 - juris Rn. 3 f. m. w. N.).

13 2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.