Beschluss vom 23.04.2024 -
BVerwG 6 PKH 2.24ECLI:DE:BVerwG:2024:230424B6PKH2.24.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 23.04.2024 - 6 PKH 2.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:230424B6PKH2.24.0]
Beschluss
BVerwG 6 PKH 2.24
- VG Schwerin - 24.07.2020 - AZ: 7 A 428/18 SN
- OVG Greifswald - 23.01.2024 - AZ: 1 LB 627/20
In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. April 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft sowie die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Steiner und Dr. Gamp
beschlossen:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für die Durchführung eines Beschwerdeverfahrens gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 23. Januar 2024 wird abgelehnt.
Gründe
I
1 Der Antragsteller wendet sich gegen ein polizeiliches Gefährderanschreiben.
2
Nachdem er sowohl bei dem Jobcenter als auch vor dem Sozialgericht erfolglos versucht hatte, die Abberufung der für ihn zuständigen Sachbearbeiterin zu erreichen, verfasste er am 10. April 2017 ein Schreiben an das Jobcenter zu Händen der Sachbearbeiterin. Darin erklärte er, dass er ihren letzten Brief nicht so rechtzeitig erhalten hätte, so dass er den darin angesetzten Termin noch hätte wahrnehmen können. Darüber hinaus schrieb er u. a.:
"... Der Rechtsweg zum Wechsel des Arbeitsvermittlers stellt die Ausschöpfung der friedlichen Mittel dar, die ich erledigen muss, bevor ich im Sinne von Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes aktiven Widerstand gegen Sie betreiben darf. Nur dann wäre ein Mittel des Widerstandes nicht widerrechtlich im Sinne von § 227 BGB.
Leider gibt es für mich keine Möglichkeit Sie als Privatperson von Ihnen als Amtsträgerin abzutrennen - damit laufen zwangsweise Mittel des Widerstandes gegen die Amtsperson, welche die verfassungsmäßige Ordnung versucht zu beseitigen - gleichzeitig gegen Sie als Privatperson.
Oben habe ich angegeben, dass ich ansonsten gerne der Einladung gefolgt wäre - ich hätte im Sinne der sozialen Notwehr der Amtsträgerin zur Wiederherstellung (Widerstand) der verfassungsmäßigen Ordnung bestimmt einen Stuhl oder vielleicht auch die Computertastatur über den Schädel gezogen, damit diese nie wieder die verfassungsmäßige Ordnung stört. ..."
3 Daraufhin richtete das Polizeirevier S. ein auf den 20. April 2017 datiertes Gefährderanschreiben an den Antragsteller, in dem ihm wegen der von ihm ausgesprochenen Drohung mit Körperverletzungsdelikten empfohlen wurde, zur Abwendung polizeilicher Maßnahmen Handlungen in Wort und Schrift zu vermeiden, die zum Nachteil der Sachbearbeiterin bzw. anderer Mitarbeiter des Jobcenters führten. Er wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass die Polizei zur Verhinderung von Störungen vor allem von Platzverweisen und Ingewahrsamnahmen Gebrauch mache und Straftaten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verfolge. Der Widerspruch des Antragstellers gegen das Gefährderanschreiben wurde mit Bescheid vom 2. Mai 2017 als unstatthaft zurückgewiesen.
4 Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Antragstellers hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 23. Januar 2024 zurückgewiesen. Der Anfechtungsantrag sei bereits wegen fehlender Statthaftigkeit unzulässig. Der hilfsweise gestellte Feststellungsantrag sei unbegründet. Das auf die polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel des § 13 SOG M-V gestützte Gefährderanschreiben vom 20. April 2017 sei nicht rechtswidrig gewesen.
5 Die in § 13 SOG M-V normierten Voraussetzungen für ein polizeiliches Einschreiten hätten vorgelegen. Aufgrund des Schreibens vom 10. April 2017 sei von einer konkreten Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der Sachbearbeiterin auszugehen. Es habe aus einem objektivierten Empfängerhorizont heraus unter Beachtung des sachlichen Kontextes der Äußerung nur so verstanden werden können, dass - mindestens - eine gegen Frau K. gerichtete Körperverletzungshandlung durch den Antragsteller gedroht habe. Dieser habe dargelegt, dass er durch den von ihm beschrittenen Rechtsweg zum Erreichen eines Wechsels des Arbeitsvermittlers alle friedlichen Mittel ausgeschöpft habe und nunmehr berechtigt sei, im Sinne von Art. 20 Abs. 4 GG aktiven Widerstand gegen seine Sachbearbeiterin zu betreiben. Auch seine Ausführungen in dem an den Beklagten gerichteten Schreiben vom 22. April 2017 seien nicht geeignet, den Sachverhalt anders zu würdigen. Seine Erklärung, die körperliche Unversehrtheit von Frau K. nicht verletzen zu wollen, sei erst nach Übergabe des Gefährderanschreibens verfasst worden und somit für die Gefahrenbeurteilung im Zeitpunkt der polizeilichen Maßnahme ohne Bedeutung.
6 Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen möchte der Antragsteller Beschwerde erheben und beantragt Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren. Der Beklagte ist dem Antrag entgegengetreten.
II
7 Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten bleibt erfolglos, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Zwar wäre eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Oberverwaltungsgericht gemäß § 133 Abs. 1 VwGO statthaft. Aber auch unter Würdigung des Vorbringens des Antragstellers - zuletzt im Schreiben vom 18. April 2024 - ist nicht ersichtlich, dass hinsichtlich des Berufungsurteils ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO vorliegen könnte.
8 Der Antragsteller macht als Verfahrensmangel im Sinne eines Gehörsverstoßes (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 i. V. m. § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 GG) geltend, das Berufungsurteil habe den der Ausgangsentscheidung des Verwaltungsgerichts anhaftenden Verstoß gegen das rechtliche Gehör nicht geheilt. Das Oberverwaltungsgericht sei bei seiner Würdigung nicht auf eine der "streitgegenständlichen Sachen eingegangen" und habe seinen "schriftlichen Tatsachenvortrag vollständig übergangen". Dieses Vorbringen vermag keinen Gehörsverstoß zu belegen. Denn es ist nichts dafür ersichtlich, dass das Berufungsgericht als Tatsacheninstanz unter Verletzung der prozessrechtlichen Vorgaben des § 128 VwGO den Sachverhalt nicht selbständig ermittelt und rechtlich gewürdigt hätte. In der Berufungsverhandlung hatte der rechtsanwaltlich vertretene Antragsteller Gelegenheit zur Stellungnahme; Beweisanträge hat er nicht gestellt. Schließlich hat das Oberverwaltungsgericht im Tatbestand des Berufungsurteils das Berufungsvorbringen des Antragstellers ausführlich wiedergegeben und dessen Argumente in den Entscheidungsgründen - soweit entscheidungserheblich - auch verarbeitet. Damit ist nichts für eine Gehörsverletzung ersichtlich.
9 Das Vorbringen im Zusammenhang mit der unterbliebenen Anhörung rechtfertigt unter keinem Aspekt die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO. Denn das Berufungsgericht hat die tatrichterliche Feststellung getroffen, dass von den Polizeibeamten vor Übergabe des Gefährderanschreibens eine Gefährderansprache durchgeführt worden ist (UA S. 11). Deshalb erweisen sich die vom Antragsteller aufgegriffenen Hilfserwägungen im Berufungsurteil, die die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 und § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG M-V betreffen, nicht als entscheidungserheblich, sodass das Urteil darauf nicht beruhen kann.
10 Eine Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO kommt auch nicht in Betracht, soweit sich der Antragsteller gegen die berufungsgerichtliche Auslegung seines Schreibens vom 10. April 2017 wendet. Denn der vom Oberverwaltungsgericht zugrunde gelegte, durch Auslegung aus dem objektivierten Empfängerhorizont gewonnene Erklärungsinhalt des Schreibens würde den Senat in dem erstrebten Revisionsverfahren nach § 137 Abs. 2 VwGO binden, weil nicht erkennbar ist, dass gegen das Auslegungsergebnis des Berufungsgerichts durchgreifende Verfahrensrügen erhoben werden könnten.
11 Bei der Auslegung von Äußerungen eines Beteiligten handelt es sich aus revisionsrechtlicher Perspektive um eine Tatsachenfeststellung (BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2022 - 6 C 11.18 - BVerwGE 171, 59 Rn. 35 m. w. N.). Das dabei vom Tatrichter gewonnene Auslegungsergebnis verstößt nicht bereits dann gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), wenn ein Beteiligter eine andere Würdigung vornimmt oder andere Schlüsse zieht als das Tatsachengericht. Der Überzeugungsgrundsatz ist vielmehr erst dann verletzt, wenn der Tatrichter den ihm durch den Grundsatz der freien Beweiswürdigung gezogenen Wertungsrahmen verlassen hat, d. h. wenn er nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht, aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen tatsächlichen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 9. April 2018 - 6 B 36.18 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 92 Rn. 8 und vom 5. November 2019 - 6 B 8.19 - juris Rn. 19). Dass diese Voraussetzungen vorliegen könnten, lässt das Vorbringen des Antragstellers auch nicht ansatzweise erkennen.
12 Schließlich bestehen keine Erfolgsaussichten für eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, wenn der Antragsteller sich auf die rechtliche Qualifizierung des Gefährderanschreibens als Verwaltungsakt seitens der Polizeibeamten vor Ort beruft. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass ein Gericht die Rechtsform des Verwaltungshandelns unabhängig von der Einschätzung der Behörde nach objektiven Kriterien zu bestimmen hat (UA S. 10). Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs hat es das Schreiben der Polizei vom 20. April 2017 dahingehend ausgelegt, dass es keine Regelung i. S. d. § 35 VwVfG M-V enthält, sondern als schlicht-hoheitliches Handeln anzusehen ist. Nachdem das Oberverwaltungsgericht dem Antragsteller auf seinen hilfsweise gestellten Feststellungsantrag (§ 43 VwGO) vollumfänglich Rechtsschutz gewährt und zur Sache entschieden hat, sind Gründe für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO auch insoweit nicht ersichtlich.