Beschluss vom 25.11.2020 -
BVerwG 9 B 20.20ECLI:DE:BVerwG:2020:251120B9B20.20.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 25.11.2020 - 9 B 20.20 - [ECLI:DE:BVerwG:2020:251120B9B20.20.0]

Beschluss

BVerwG 9 B 20.20

  • VG Freiburg - 25.04.2018 - AZ: VG 1 K 2521/15
  • VGH Mannheim - 18.02.2020 - AZ: VGH 2 S 1504/18

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 25. November 2020
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Bick und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Dieterich
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerinnen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 18. Februar 2020 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerinnen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 100,42 € festgesetzt.

Gründe

1 Die auf sämtliche Zulassungsgründe gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

2 1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Grundsätzlich bedeutsam im Sinne dieser Vorschrift ist eine Rechtssache nur, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint.

3 Den Darlegungen der Beschwerde lässt sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.

4 Die Fragen,
ob es die Obliegenheit eines Rechtsmittelführers zur Inanspruchnahme der Möglichkeiten nach dem Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen in Baden-Württemberg (Landesinformationsfreiheitsgesetz - LIFG BW) und insbesondere zur Inanspruchnahme von gerichtlichem Rechtsschutz zur Durchsetzung des Anspruchs nach dem LIFG BW vorrangig vor dem Amtsermittlungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 VwGO gibt,
und ob sich eine informationspflichtige Stelle durch rechtswidrig systematisch praktizierte Nichtbearbeitung von LIFG-Anträgen und damit durch vorsätzliche Obliegenheitsverletzungen (folglich auch durch Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben) zum Nachteil des Rechtsmittelführers der Normbindung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG entziehen kann,
rechtfertigen mangels Entscheidungserheblichkeit nicht die Zulassung der Revision. Sie gehen schon von einem Sachverhalt aus, der sich so, wie er in den Fragen formuliert wird, nicht aus dem Berufungsurteil ergibt. Hiervon abgesehen betreffen sie nicht entscheidungserhebliche Ausführungen des Berufungsgerichts.

5 Das Berufungsgericht hat die ihm vorliegenden Unterlagen und Erläuterungen als ausreichend angesehen, um auf dieser Grundlage die streitgegenständliche Gebührenkalkulation zu überprüfen; weitere Unterlagen und Belege seien - entgegen der Auffassung der Klägerinnen - für einen ordnungsgemäßen Gemeinderatsbeschluss nicht erforderlich gewesen, da der Gemeinderat keine Rechnungs-, Kassen- oder Belegprüfung durchzuführen habe. Lediglich ergänzend - und damit nicht entscheidungstragend - weist das Gericht darauf hin, dass den Klägerinnen für den Fall, dass es ihnen um die Einsicht in weitere Unterlagen gehe, die Möglichkeiten nach dem Landesinformationsfreiheitsgesetz zustünden, die sie gegebenenfalls gerichtlich durchsetzen müssten (UA S. 42 f.). Dabei ist das Berufungsgericht allerdings weder von einer Obliegenheit der Klägerinnen noch von einer "systematisch praktizierte(n) Nichtbearbeitung von LIFG-Anträgen" seitens der Beklagten ausgegangen; insoweit handelt es sich um rechtliche Wertungen der Beschwerde, auf deren Grundlage kein Revisionsverfahren zugelassen werden kann.

6 2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen Divergenz zuzulassen.

7 Das Urteil weicht nur dann von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder des Bundesverwaltungsgerichts ab, wenn das Berufungsgericht sich in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einem in der herangezogenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Widerspruch gesetzt hat (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Februar 2002 - 9 B 63.01 - NVwZ 2002, 1235). Dass diese Voraussetzungen erfüllt wären, lässt sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen.

8 Die Klägerinnen entnehmen dem Berufungsurteil (UA S. 62 f.) den Rechtssatz, dass die Aufhebung eines verfahrensfehlerhaft zustande gekommenen Verwaltungsakts (auch) im Widerspruchsverfahren nicht verlangt werden kann, wenn es sich um einen gebundenen Verwaltungsakt handelt und eine andere Entscheidung in der Sache nicht hätte getroffen werden können. Auch findet sich in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. August 2011 - 9 C 2.11 - (BVerwGE 140, 245 Rn. 20) der von der Beschwerde wiedergegebene Rechtssatz, dass die Widerspruchsbehörde grundsätzlich die gleiche Entscheidungsbefugnis wie die Erstbehörde besitzt, also zur Änderung, Aufhebung und Ersetzung des Ausgangsbescheids einschließlich seiner Begründung und Ermessenserwägungen befugt ist. Inwieweit sich diese Rechtssätze widersprechen sollen, wird aber nicht dargelegt und ist auch nicht ersichtlich. Denn die Befugnis zur Änderung oder Ersetzung von Ermessenserwägungen setzt deren rechtliche Zulässigkeit voraus, woran es im Fall eines gebundenen Verwaltungsakts gerade fehlt.

9 3. Die Revision ist schließlich nicht wegen eines Verfahrensmangels im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Der Beschwerdebegründung sind keine Verfahrensmängel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu entnehmen, auf denen das angegriffene Urteil beruhen kann.

10 Zwar macht die Beschwerde einen Verstoß "gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufgrund der Verletzung rechtlichen Gehörs durch Verletzung der Berufungsklägerin von § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO, somit auch wegen Verletzung der Berufungsklägerin des rechtsstaatlichen Grundsatzes fairer Verfahrensgestaltung" geltend (Beschwerdebegründung S. 13 f.) und benennt damit drei anerkannte Verfahrensfehler (a); deren Vorliegen wird aber nicht den gesetzlichen Vorgaben des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt (b).

11 a) Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Gegen diese Pflicht verstößt es, wenn es seiner Entscheidung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde legt. Es darf sich nicht auf tatsächliche Feststellungen stützen, für die es nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens keine Grundlage gibt. Es darf Umstände, auf deren Vorliegen es nach seiner Rechtsauffassung für die Entscheidung ankommt, nicht ungeprüft behaupten (BVerwG, Beschluss vom 27. Februar 2020 - 9 BN 3.19 - juris Rn. 4). Soweit das Gericht nicht gewichtige Tatsachen oder Tatsachenkomplexe übergangen hat, deren Entscheidungserheblichkeit sich aufdrängt, ist allerdings regelmäßig davon auszugehen, dass es seiner Pflicht aus § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO genügt und seiner Entscheidung das Beteiligtenvorbringen sowie den festgestellten Sachverhalt vollständig und richtig zugrunde gelegt hat (BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2006 - 6 C 19.06 - Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 264 Rn. 28 m.w.N.).

12 Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verpflichtet das Gericht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Das Gericht ist allerdings nicht gehalten, sich mit jedem Vorbringen ausdrücklich zu befassen. Nur wenn besondere Umstände den eindeutigen Schluss zulassen, dass es Ausführungen eines Beteiligten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen hat, ist der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Zur Begründung einer diesbezüglichen Beschwerde ist darzulegen, welches Vorbringen (angeblich) nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen wurde, inwiefern sich dies aus der Urteilsbegründung ergibt und unter welchem denkbaren Gesichtspunkt das übergangene Vorbringen auf der Grundlage des materiellen Rechtsstandpunkts des Berufungsgerichts zu einer anderen Entscheidung hätte führen können (stRspr; vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. August 2019 - 9 B 36.19 - juris Rn. 8 m.w.N.).

13 Das Recht auf ein faires Verfahren wird aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitet. Es gewährleistet jedermann einen Mindestbestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen; die genaue Ausgestaltung und Konkretisierung obliegt dem Gesetzgeber und sodann, in den vom Gesetz gezogenen Grenzen, den Gerichten bei der ihnen obliegenden Rechtsauslegung und -anwendung (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 5. Oktober 2020 - 2 BvR 554/20 - juris Rn. 32).

14 b) Die Bezeichnung eines Verfahrensmangels verlangt gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO substantiierten Tatsachen- und Rechtsvortrag (BVerwG, Beschluss vom 9. Oktober 2020 - 6 B 51.20 - juris Rn. 10). Daran fehlt es. Die allgemeinen Vorwürfe, das Berufungsgericht habe "unvollständig ermittelten Sachverhalt zu Grunde gelegt" (S. 18, 20, 22, 25 usw.), genügen nicht den Anforderungen an eine substantiierte Darlegung eines konkreten Verfahrensmangels.

15 Die Beschwerdebegründung enthält von S. 12 - 46 im Wesentlichen ungeordnetes Vorbringen, das aus einer Schilderung von Sachverhaltsdetails aus dem gesamten gerichtlichen Verfahren, allgemeinen Obersätzen zur Rechtmäßigkeit von Gebührenkalkulationen und - teilweise wörtlich wiedergegebenen - Auszügen aus verschiedenen Schriftsätzen und dem Berufungsurteil besteht; ergänzt wird dies durch "Vorbemerkungen zur Antragsbegründung" (S. 12 f.) und eigene rechtliche Bewertungen des Sachverhalts.

16 Die Behauptung auf Seite 20 der Beschwerdebegründung, das Berufungsgericht habe dadurch einen unrichtigen Sachverhalt zugrunde gelegt, dass es nicht über den tatsächlichen Einwand der grundrechtlich unzulässigen rückwirkenden Änderung des Kalkulationszeitraums entschieden habe, ist nicht geeignet zur Darlegung eines Verfahrensfehlers. Für die Beurteilung, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, ist nach den oben dargelegten Grundsätzen die materielle Rechtsauffassung des Berufungsgerichts maßgeblich und nicht die hiervon abweichende Auffassung der Klägerinnen. Das Berufungsgericht hat sich deren Argumentation, es handele sich um eine echte Rückwirkung, nicht angeschlossen (UA S. 44 f.) und auf dieser Grundlage den Sachverhalt gewürdigt.

17 Weiter ist die Behauptung (Beschwerdebegründung S. 22) unzutreffend, das Berufungsgericht sei von einem unrichtig ermittelten Sachverhalt ausgegangen, soweit es nicht den wirklichen Einwand der Klägerinnen, die tatsächlichen Werte der Jahre 2008 - 2011 hätten berücksichtigt werden müssen, zugrunde gelegt habe. Vielmehr hat das Berufungsgericht ausweislich der Urteilsgründe (UA S. 45 unten) angenommen, dass bei den Anschaffungs- und Herstellungskosten die tatsächlichen Kosten und nicht prognostische Werte zu ermitteln sind.

18 Das Berufungsgericht hat auch keinen unrichtig ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt, soweit es Beweismittel der Klägerinnen nicht zur Kenntnis genommen hat (Beschwerdebegründung S. 24 f.). Wie sich aus der in Bezug genommenen Seite 5 des Schriftsatzes vom 4. Januar 2019 ergibt, geht es erneut darum, ob die Abschreibungen aus tatsächlichen Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten ermittelt worden sind.

19 Auf Seite 4 des Schriftsatzes vom 4. Januar 2019 stellen die Klägerinnen dar, woraus sie entnehmen wollen, dass die Beklagte Hochrechnungen vorgenommen habe, statt tatsächliche Kosten zu berücksichtigen. Sie bezieht sich auf von der Beklagten vorgelegte Bögen zum Thema "Entwicklung des Anlagevermögens in 1990"; "Erfassung der Baukosten für Mischwasserkanäle des Stadtteil(s) Fützen, Erfassungsstichtag 31. Dezember 1990, als vermeintliche Baukosten im Jahr 1991"; "Auszug aus handschriftlicher Zusammenstellung vom 24.10.1985 der Anlagenachweise von Teileinrichtungen" sowie "Auszug aus dem ursprünglich handschriftlich geführten Anlagennachweis". Hieraus schließen die Klägerinnen, dass Teile der Einrichtung bereits um das Jahr 1939 bestanden haben und vermissen (Schriftsatz vom 4. Januar 2019, Seite 4 unten) eine Stellungnahme zu den bezeichneten Bögen.

20 Aus dieser Bezugnahme der Beschwerdebegründung auf den Schriftsatz vom 4. Januar 2019 sowie aus dem Hinweis auf die Nichtbearbeitung von Anträgen nach dem Landesinformationsfreiheitsgesetz ergibt sich nicht, dass das Berufungsgericht seiner Entscheidung einen unrichtig ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt hat. Es ist nicht ersichtlich, dass der Verwaltungsgerichtshof Anhaltspunkte dafür nicht zur Kenntnis genommen hat, dass hochgerechnete Herstellungskosten berücksichtigt worden sind. Denn die erwähnten Bögen geben keinen Hinweis auf die Richtigkeit der Behauptung der Klägerinnen. Deren Beharren auf eine weitere Sachverhaltsermittlung stellt sich so als Ausforschungsbegehren dar.

21 Auch mit den weiteren Rügen wird kein Verfahrensmangel dargelegt. Das gilt insbesondere soweit die Klägerinnen - jeweils in Abweichung von der Auffassung des Berufungsgerichts - unterstellen, dass es auf die von ihnen auf der Grundlage des Landesinformationsfreiheitsgesetzes beantragten Unterlagen ankomme (Beschwerdebegründung S. 17 ff. sowie S. 25; s. dazu bereits oben unter 1.), und dass der Beklagte durch die Nichtvorlage von Unterlagen gegen § 99 VwGO verstoßen habe (S. 17 f., S. 28). Hierzu sieht der Senat von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

22 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG.