Pressemitteilung Nr. 114/2012 vom 29.11.2012

Sorgerechtsentscheidungen ausländischer Stellen sind grundsätzlich anzuerkennen

Deutsche Behörden und Gerichte müssen ausländische Sorgerechtsentscheidungen im Visumverfahren grundsätzlich anerkennen. Sie dürfen diese nur dann außer Acht lassen, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung offensichtlich unvereinbar ist. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. 


Das Bundesverwaltungsgericht hatte über mehrere Fälle zu entscheiden, in denen minderjährige Ausländer zu einem in Deutschland lebenden Elternteil nachziehen wollen. In drei Fällen war dem im Bundesgebiet lebenden Vater durch eine Entscheidung eines türkischen Gerichts, in einem Fall einer hier lebenden mongolischen Mutter das alleinige Sorgerecht übertragen worden.


Die Anträge auf Erteilung von Visa zum Zweck des Kindernachzugs wurden von den zuständigen deutschen Auslandsvertretungen abgelehnt. Das Auswärtige Amt war der Auffassung, dass die in § 32 Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) enthaltene Nachzugsvoraussetzung der alleinigen Personensorgeberechtigung bei dem im Bundesgebiet lebenden Elternteil nicht vorliege. Die ausländischen Sorgerechtsentscheidungen seien nicht anzuerkennen, da sie mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) unvereinbar seien. In den die Türkei betreffenden Fällen hätten weder die Voraussetzungen für die Übertragung des Sorgerechts nach den Vorschriften des türkischen Familienrechts vorgelegen noch sei das Kindeswohl der Kläger von den türkischen Stellen ausreichend berücksichtigt worden. In dem Fall der Sorgerechtsübertragung in der Mongolei sei die bereits 14jährige Klägerin im gerichtlichen Verfahren nicht angehört worden, was mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar sei.


In den Verfahren der türkischen Kläger hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Bundesrepublik Deutschland zur Erteilung der beantragten Visa verpflichtet bzw. die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht ist der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zur Anerkennung der Sorgerechtsentscheidungen gefolgt. Es hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass diese Sorgerechtsentscheidungen mit dem deutschen ordre public zu vereinbaren und deshalb aufenthaltsrechtlich zu respektieren sind. Nach Art. 16 des hier anzuwendenden Haager Minderjährigenschutz-Übereinkommens kann eine von einem ausländischen Gericht getroffene Sorgerechtsentscheidung nur dann unbeachtet bleiben, wenn die Anwendung mit der öffentlichen Ordnung offensichtlich unvereinbar ist. Dieser ordre public-Vorbehalt schließt es grundsätzlich aus, ausländische Entscheidungen auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Von Bedeutung ist bei einer ausländischen Sorgerechtsübertragung nur, ob das Entscheidungsergebnis in einem so starken Widerspruch zu dem Grundgedanken des Kindeswohls steht, dass es untragbar erscheint, oder die Entscheidung in einem Verfahren zustande gekommen ist, das grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügt. Daran gemessen sind die hier zugrundeliegenden Sorgerechtsentscheidungen der türkischen Gerichte nicht zu beanstanden. Die Kläger sind angehört worden und haben - wie auch ihre Mütter - der Sorgerechtsübertragung zugestimmt. Die zugrundeliegende wirtschaftliche Motivation, dem Kind durch die Übersiedlung nach Deutschland eine bessere Förderung und Ausbildung zu bieten, spricht nicht gegen das Kindeswohl.


Der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat zwei der Berufungsurteile allerdings teilweise aufgehoben und die Sachen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, weil die Berechnungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG) Anlass zur Beanstandung gaben.


Im Fall der Klägerin aus der Mongolei hat das Bundesverwaltungsgericht die strittige Sorgerechtsentscheidung nicht anerkannt. Denn es ist mit Grundprinzipien des deutschen Verfahrensrechts unvereinbar, im Sorgerechtsverfahren dem Kind keine Gelegenheit zur Äußerung einzuräumen. Vielmehr hat eine Anhörung entweder unmittelbar vor dem entscheidenden Gericht oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle zu erfolgen. Ist dies - wie hier - nicht geschehen, ist der Sorgerechtsübertragung die Anerkennung in Deutschland zu versagen. In diesem Verfahren wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob sich ein Nachzugsanspruch aus einem anderen Rechtsgrund ergibt.


BVerwG 10 C 4.12 - Urteil vom 29. November 2012

Vorinstanzen:

OVG Berlin-Brandenburg, 11 B 3.10 - Urteil vom 25. Oktober 2011 -

VG Berlin, 9 K 135.09.V - Urteil vom 23. September 2009 -

BVerwG 10 C 5.12 - Urteil vom 29. November 2012

Vorinstanzen:

OVG Berlin-Brandenburg, 11 B 23.10 - Urteil vom 25. Oktober 2011 -

VG Berlin, 29 K 154.10.V - Urteil vom 20. Juli 2010 -

BVerwG 10 C 11.12 - Urteil vom 29. November 2012

Vorinstanzen:

OVG Berlin-Brandenburg, 2 B 6.22 - Urteil vom 23. Februar 2012 -

VG Berlin, 5 K 146.09.V - Urteil vom 20. Juli 2010 -

BVerwG 10 C 14.12 - Urteil vom 29. November 2012

Vorinstanzen:

OVG Berlin-Brandenburg, 11 B 29.10 - Urteil vom 10. Mai 2012 -

VG Berlin, 11 K 542.09.V - Urteil vom 21. September 2010 -


Beschluss vom 07.04.2022 -
BVerwG 2 B 6.22ECLI:DE:BVerwG:2022:070422B2B6.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 07.04.2022 - 2 B 6.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:070422B2B6.22.0]

Beschluss

BVerwG 2 B 6.22

  • VG Düsseldorf - 13.11.2019 - AZ: 31 K 9317/18.O
  • OVG Münster - 01.12.2021 - AZ: 3d A 4611/19.O

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. April 2022
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. von der Weiden
und Dr. Hartung sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hampel
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 1. Dezember 2021 wird verworfen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die ausschließlich auf Divergenz (§ 67 Satz 1 LDG NRW und § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) gestützte Beschwerde des Beklagten ist unzulässig.

2 1. Gegen den 1956 geborenen Beklagten erhob die Klägerin Disziplinarklage wegen des Vorwurfs des Verstoßes gegen Arbeitszeitregelungen und Buchungspflichten sowie wegen des Vorwurfs der Störung des Betriebsfriedens durch Versenden von E-Mails an eine Kollegin und Nichtbefolgung dienstlicher Weisungen. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Der Beklagte sei wegen seines innerdienstlichen Dienstvergehens aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen. Das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit sei unwiderruflich zerstört.

3 2. In Bezug auf die geltend gemachte Divergenz genügt die Beschwerde nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.

4 Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Juni 1995 - 8 B 61.95 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 18). Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt nicht den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenzrüge (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 1995 - 6 B 39.94 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 342 S. 55).

5 Eine solche Rechtssatzdivergenz zeigt die Beschwerde nicht auf. Sie beschränkt sich darauf geltend zu machen, die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts genüge nicht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Handhabung der Vorgaben des § 13 Abs. 2 Satz 1 bis 3 und Abs. 3 Satz 1 LDG NRW sowie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen einer Bemessungsentscheidung. Wie dargelegt, kann in Disziplinarverfahren eine Divergenz nicht damit begründet werden, das Tatsachengericht habe die be- und entlastenden Umstände im Rahmen der Gesamtwürdigung fehlerhaft gewichtet (BVerwG, Beschlüsse vom 3. Juli 2007 - 2 B 18.07 - Rn. 7 und vom 20. Januar 2011 - 2 B 49.10 - IÖD 2011, 46).

6 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 74 Abs. 1 LDG NRW i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil für das Beschwerdeverfahren Festgebühren nach dem Gebührenverzeichnis der Anlage zu § 75 LDG NRW erhoben werden.