Beschluss vom 26.10.2022 -
BVerwG 4 BN 19.22ECLI:DE:BVerwG:2022:261022B4BN19.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 26.10.2022 - 4 BN 19.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2022:261022B4BN19.22.0]

Beschluss

BVerwG 4 BN 19.22

  • VGH Kassel - 03.03.2022 - AZ: 3 C 2655/19.N

In der Normenkontrollsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 26. Oktober 2022
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt und Dr. Hammer
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. März 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die auf die Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

2 1. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine klärungsbedürftige Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die in dem angestrebten Revisionsverfahren beantwortet werden kann, sofern dies über den Einzelfall hinaus zur Wahrung einer einheitlichen Rechtsprechung oder zur Fortbildung des Rechts beiträgt. Diese Voraussetzungen sind nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO in der Beschwerdebegründung darzulegen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91>).

3 Die als rechtsgrundsätzlich bedeutsam aufgeworfene Frage,
ob Fehler und Versäumnisse des Satzungsgebers bei der Ermittlung der Tatsachenbasis einer Erhaltungssatzung zur Erhaltung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB und/oder darauf basierende Fehleinschätzungen des Satzungsgebers nur dann für die Wirksamkeit der Satzung beachtlich sein können, wenn diese Fehler, Versäumnisse und Fehleinschätzungen den Satzungserlass als vollständig zwecklos erscheinen lassen. (Oder ob nicht vielmehr solche Fehler, Versäumnisse und Fehleinschätzungen bereits dann für die Wirksamkeit der Satzung relevant sind, wenn sie offensichtlich und auf das Ergebnis des Verfahrens bzw. der Abwägung von Einfluss gewesen sind, vgl. § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB),
rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Es ist jedenfalls nicht dargetan, dass diese Frage entscheidungserheblich ist. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist der Verwaltungsgerichtshof nicht davon ausgegangen, dass der Erhaltungssatzung eine fehlerhafte Ermittlung des Datenmaterials zugrunde liegt; die aufgeworfene Frage nach der Relevanz eines solchen Fehlers unter Anwendung des auch für Erhaltungssatzungen einschlägigen § 214 BauGB stellt sich demnach nicht. Der Verwaltungsgerichtshof legt dar, dass es sich bei den städtebaulichen Veränderungen, die Anlass für den Erlass einer Milieuschutzsatzung sein könnten, in aller Regel um Prozesse handele, die sich über Jahre aufbauten, sodass das Datenmaterial aus den Jahren 2007 bis 2013 als Grundlage für den Erlass einer Satzung im Jahre 2018 herangezogen werden könne, auch wenn sich einzelne Parameter gegebenenfalls anders als vom Satzungsgeber angenommen entwickelt hätten. Er kommt zum Schluss, dass die Antragsgegnerin bei Satzungsbeschluss nicht einer Fehleinschätzung hinsichtlich des Fortschritts des Strukturwandels unterlegen sei, sondern dass sie allenfalls aufgrund der dort verwendeten Daten eine gemäßigtere Einschätzung zugrunde gelegt habe als dies mittlerweile den Tatsachen entspreche.

4 2. Mit den Verfahrensrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) dringt die Antragstellerin ebenso wenig durch. Ein Verfahrensmangel im Sinne dieser Vorschrift ist nur dann bezeichnet, wenn er sowohl in den ihm (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Das leistet die Antragstellerin nicht.

5 a) Das in Art. 103 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierte und in § 108 Abs. 2 VwGO einfachgesetzlich ausgeformte Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs gewährleistet das Recht, sich vor Gericht zu den relevanten Umständen zu äußern. Dieses Recht kann nur dann effektiv wahrgenommen werden, wenn der Betroffene weiß, zu welchem Gegenstand seine Äußerung sinnvoll ist; daher ist er vom Gericht über den Verfahrensstoff zu informieren. Schließlich hat das Gericht das Gehörte zur Kenntnis zu nehmen und in seiner Sachentscheidung in Erwägung zu ziehen; anderenfalls liefe das Äußerungsrecht leer (vgl. etwa Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 103 Abs. 1, Stand März 2022, Rn. 62; Rixen, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 108 Rn. 186; Dawin, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand Februar 2022, § 108 Rn. 131, jeweils m. w. N.). In keiner dieser Verwirklichungsstufen zeigt die Antragstellerin einen Gehörsverstoß auf.

6 aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet, dass das Gericht nur solche Tatsachen verwertet und seiner Entscheidung zugrunde legt, die von einem Verfahrensbeteiligten oder dem Gericht im Einzelnen bezeichnet zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurden und zu denen der Beteiligte sich äußern konnte (vgl. nur BVerfG, Beschlüsse vom 18. Juni 1985 - 2 BvR 414/84 - BVerfGE 70, 180 <189> und vom 8. Februar 1994 - 1 BvR 765/89 u. a. - BVerfGE 89, 381 <392>).

7 Die Antragstellerin rügt insoweit, der Verwaltungsgerichtshof habe einen Zeitungsartikel aus der FAZ vom 14. Oktober 2021 verwertet, ohne ihr zuvor Gelegenheit zur Äußerung gegeben zu haben. Sie zeigt jedoch nicht auf, dass der Verwaltungsgerichtshof den daraus gewonnenen Erkenntnissen über einen im Zeitraum von Mitte 2020 bis Mitte 2021 in Frankfurt überhitzten Markt für Wohnimmobilien - wie von ihr behauptet – "tragende und wesentliche Bedeutung für die Entscheidungsfindung" beigemessen hat.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mit dem Einwand der Antragstellerin auseinandergesetzt, dass eine Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen kein hinreichendes Indiz für eine "Aufwertung" darstelle, und hierzu unter anderem ausgeführt, dass die Umwandlung als (Kapital-)Anlage regelmäßig mit der Erwartung einhergehe, höhere Mieten, mit oder ohne Änderung der baulichen Anlagen, erzielen zu können und damit ein attraktives Anlageobjekt zu besitzen; dies befördere die in den meisten Großstädten zu beobachtenden Gentrifizierungsprozesse. Die auf den genannten Zeitungsartikel gestützte Aussage zum derzeit überhitzten Wohnungsmarkt mit einem Blasenrisiko infolge einer deutlichen Überbewertung von Immobilien dient dem Verwaltungsgerichtshof lediglich zur (nachträglichen) Bestätigung der zuvor als allgemeingültig formulierten Einschätzung von Anlegererwartungen, die in wirtschaftliche Entscheidungen umgesetzt werden, und so den Strukturwandel befördern, dem mit der Erhaltungssatzung begegnet werden soll. Das angegriffene Urteil ist folglich nicht tragend auf die aus dem Zeitungsartikel gewonnenen Erkenntnisse gestützt.

9 bb) Das Gebot, den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO), verpflichtet das Gericht, das Vorbringen jedes Beteiligten bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Gericht das gesamte Vorbringen der Beteiligten in den Urteilsgründen behandeln muss. Vielmehr sind nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO in dem Urteil nur diejenigen tatsächlichen und rechtlichen Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Daher kann aus dem Umstand, dass das Gericht einen Aspekt des Vorbringens eines Beteiligten in den Urteilsgründen nicht erwähnt hat, nur dann geschlossen werden, es habe diesen Aspekt nicht in Erwägung gezogen, wenn er nach dem materiell-rechtlichen Rechtsstandpunkt des Gerichts eine Frage von zentraler Bedeutung betrifft (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Januar 2015 - 6 B 43.14 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 421 Rn. 25 m. w. N.). Das ist hier nicht der Fall.

10 (1) Nach Ansicht der Antragstellerin hat der Verwaltungsgerichtshof ihr Vorbringen zu den - nach ihrer Auffassung hier mit der Angabe "Der Magistrat - Stadtplanungsamt" nicht erfüllten - landesrechtlichen Anforderungen an die Zuständigkeit für die und die Vertretung bei der Veranlassung der Ersatzbekanntmachung nach § 172 Abs. 1 Satz 3, § 16 Abs. 2 Satz 2, § 10 Abs. 3 Satz 2 bis 5 BauGB übergangen; daraus sei zu schließen, dass dieser Vortrag nicht zur Kenntnis genommen worden sei.

11 Mit diesem Einwand dringt die Antragstellerin nicht durch. Denn der Verwaltungsgerichtshof ist davon ausgegangen, dass mit dem vom Oberbürgermeister als dem Vorsitzenden des Gemeindevorstands/Magistrats (§ 65 Abs. 1, § 45 Abs. 1 Satz 1, § 9 Abs. 2 Satz 2 HGO) der Antragsgegnerin namentlich unterzeichneten Text auf S. 1780 des Amtsblatts die Erhaltungssatzung bekannt gemacht wird (siehe § 66 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2, § 70 Abs. 2 HGO). Welchem anderen Zweck diese Veröffentlichung im amtlichen Bekanntmachungsorgan der Antragsgegnerin (§ 1 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung über öffentliche Bekanntmachungen der Gemeinden und Landkreise vom 12. Oktober 1977 <GVBl. I S. 409>, § 9 Abs. 1 Satz 1 der Hauptsatzung der Antragsgegnerin) dienen sollte, ist im Übrigen weder dargetan noch sonst ersichtlich. Auf den nachfolgenden vom Stadtplanungsamt verantworteten - und letztlich deklaratorischen - Hinweis, dass die Beschlussfassung über die Erhaltungssatzung hiermit bekannt gemacht wird, kommt es demnach für die Frage einer ordnungsgemäßen Bekanntmachung der Satzung nicht mehr an.

12 (2) In Bezug auf das Vorbringen der Antragstellerin zur Verdrängungsgefahr ist ein Gehörsverstoß ebenso wenig dargetan. Weder aus der Wiedergabe des Vortrags der Antragstellerin im Tatbestand des angegriffenen Urteils noch aus den Entscheidungsgründen kann geschlossen werden, dass der Verwaltungsgerichtshof die Ausführungen zu den Bevölkerungsgruppen, die neben den Personen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit als verdrängungsgefährdet bezeichnet werden, nicht zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt hat.

13 Im Tatbestand bezieht sich das Urteil auf den Vortrag zu als verdrängungsgefährdet eingestuften Gruppen - folglich einer Mehrzahl - und gibt mit dem die Einwohner ohne deutsche Staatsangehörigkeit betreffenden Vorbringen den ausweislich der Reihenfolge und der Darstellung in den Schriftsätzen der Antragstellerin insoweit wichtigsten - weil nicht zuletzt mit entsprechendem Zahlenmaterial unterfütterten - Einwand wieder.

14 Diese Gewichtung findet sich dann auch - vor dem Hintergrund des nur hinsichtlich der einen Bevölkerungsgruppe in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrags - in den Entscheidungsgründen wieder. Die insoweit unter Beweis gestellten Tatsachenbehauptungen hat der Verwaltungsgerichtshof unter Verweis auf "komplexe Zusammenhänge" in Bezug auf wohnungsstrukturelle Veränderungen und deren - langfristigen - Auswirkungen auf die auf dem Wohnungsmarkt unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen als unerheblich angesehen. Hiervon ausgehend ist nicht ersichtlich, dass der Vortrag zu den anderen Personengruppen, deren Wohnkosten nach den Ausführungen im Urteil ebenfalls an der wirtschaftlichen Belastungsgrenze liegen, einer ausdrücklichen Erwähnung bedurft hätte.

15 (3) Fehl geht auch die Rüge der Antragstellerin, die Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofs zur Aktualität des Datenmaterials belegten einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör.

16 Entgegen der Auffassung der Antragstellerin hat der Verwaltungsgerichtshof nicht verkannt, dass - wie in der Begründung der Erhaltungssatzung dargestellt - die im Frühjahr 2016 vorgelegte Pilotstudie auf Datenmaterial aus den Jahren 2007 bis 2013 beruht und der Ergebnisbericht (vertiefende Untersuchung) vom November 2016 darauf aufbaut und ergänzend Erhebungen und Analysen zu Aufwertungspotenzialen auf der Grundlage von Gebietsbegehungen herangezogen hat ("Datenmaterial aus den Jahren 2007 bis 2013 mit einer aktualisierten Erfassung aus dem Jahr 2016"). Wenn die Antragstellerin darauf abstellt, dass es - wie vor dem Verwaltungsgerichtshof vorgetragen - an der gebotenen umfassenden Aktualisierung des Datenmaterials fehle, wendet sie sich gegen die materiell-rechtliche Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofs, der die vorliegende Datengrundlage als ausreichend erachtet hat. Ein Gehörsverstoß liegt aber nicht darin, dass der Verwaltungsgerichtshof der Rechtsauffassung der Antragstellerin nicht gefolgt ist.

17 b) Die Berufung auf eine als Verfahrensfehler rügefähige Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes geht fehl. (Angebliche) Fehler der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts, die dem Überzeugungsgrundsatz gemäß § 108 Abs. 1 VwGO genügen muss, sind regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen (BVerwG, Beschluss vom 14. Juli 2010 - 10 B 7.10 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 66 Rn. 4 m. w. N.). Die Grenzen der Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung sind mit der Folge des Vorliegens eines Verfahrensfehlers aber dann überschritten, wenn das Gericht seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen oder sonst von objektiver Willkür geprägt sind (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 5. Mai 2015 - 4 CN 4.14 - Buchholz 406.11 § 1 BauGB Nr. 136 Rn. 12; Beschlüsse vom 19. Dezember 2018 - 8 B 12.18 - juris Rn. 23 und vom 23. August 2021 - 4 BN 7.21 - juris Rn. 3, jeweils m. w. N.).

18 Einen hiernach entscheidungserheblichen Verfahrensfehler zeigt die Antragstellerin nicht auf. Die von ihr als nicht nachvollziehbar beanstandeten Schlussfolgerungen aus dem Zeitungsartikel sind - wie bereits oben unter 2. a) aa) ausgeführt - nicht entscheidungstragend. In Bezug auf die gerügten akten- und denkgesetzwidrigen Schlussfolgerungen zur Aktualität des vom Satzungsgeber verwendeten Datenmaterials unterstellt die Antragstellerin dem Verwaltungsgerichtshof ein von den Erläuterungen in der Begründung der Satzung abweichendes Verständnis des Vorgehens des Satzungsgebers, dass dem Urteil so nicht entnommen werden kann (siehe oben unter 2. a) bb) (3)).

19 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.