Beschluss vom 05.09.2019 -
BVerwG 2 B 2.19ECLI:DE:BVerwG:2019:050919B2B2.19.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 05.09.2019 - 2 B 2.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2019:050919B2B2.19.0]

Beschluss

BVerwG 2 B 2.19

  • VG Leipzig - 21.09.2015 - AZ: VG 3 K 513/13
  • OVG Bautzen - 18.09.2018 - AZ: OVG 2 A 46/17

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 5. September 2019
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. von der Weiden und Dollinger
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 18. September 2018 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 45 356, 40 € festgesetzt.

Gründe

1 Die allein auf eine Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde ist unbegründet.

2 1. Bei dem ... geborenen Kläger, einen Kriminalhauptkommissar, beliefen sich die jährlichen krankheitsbedingten Fehlzeiten im Zeitraum von 2007 bis 2011 jeweils auf 82 bis 283 Tage. Im Gutachten von Januar 2o12 stellte der Polizeiarzt u.a. folgende Diagnosen: arterieller Bluthochdruck (schwer einstellbar), erhöhte Blutfettwerte, bekannte Epilepsie bei chronischem Alkoholabusus, chronische Bauchspeicheldrüsenentzündung bei unzureichender Funktion, chronische Durchblutungsstörung der Herzkranzgefäße mit unzureichender Herzleistung und Blutzuckerkrankheit Typ II (insulinpflichtig). Der Kläger sei deshalb polizeidienstunfähig und allgemein dienstunfähig. Im Jahr 2012 unterzog sich der Kläger einer Alkoholentziehungskur. Der Beklagte versetzte den Kläger im Januar 2013 in den vorzeitigen Ruhestand und wies den dagegen gerichteten Widerspruch des Klägers zurück.

3 Das Verwaltungsgericht hat die Zurruhesetzungsverfügung mit der Begründung aufgehoben, das polizeiärztliche Gutachten enthalte keine hinreichenden Aussagen zur Frage der allgemeinen Dienstfähigkeit. Das Oberverwaltungsgericht hat das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage nach Einholung eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die von beiden ärztlichen Sachverständigen übereinstimmend festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers verbunden mit seinem missbräuchlichen Alkoholkonsum die allgemeine Dienstunfähigkeit im Zeitpunkt der Zurruhesetzung begründeten. Aus der Zusammenschau mit der aktenkundigen Krankengeschichte, insbesondere der krankheitsbedingten Fehlzeiten, stehe fest, dass der Kläger im Januar 2013 aufgrund seiner Konstitution zur Erfüllung auch allgemeiner Dienstpflichten dauernd unfähig gewesen sei.

4 2. Der vom Kläger geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), das Berufungsgericht habe entgegen § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO seine Pflicht zur Sachaufklärung verletzt, weil es unterlassen habe, ein weiteres Sachverständigengutachten zur Frage seiner Dienstfähigkeit im Zeitpunkt der vorzeitigen Zurruhesetzung einzuholen, liegt nicht vor.

5 Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO obliegt den Tatsachengerichten die Pflicht, jede mögliche Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 6. Februar 1985 - 8 C 15.84 - BVerwGE 71, 38 <41> und vom 6. Oktober 1987 - 9 C 12.87 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 31 S. 1). Dabei entscheidet das Tatsachengericht über die Art der heranzuziehenden Beweismittel und den Umfang der Beweisaufnahme im Rahmen seiner Pflicht zur Sachverhaltsermittlung von Amts wegen nach Ermessen. Dies gilt auch für die Einholung von Gutachten oder die Ergänzung vorhandener Gutachten oder Arztberichte und selbst dann, wenn eine solche Maßnahme der Sachverhaltsermittlung von einem Beteiligten angeregt worden ist (BVerwG, Urteil vom 6. Oktober 1987 - 9 C 12.87 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 31 S. 2; Beschluss vom 30. Juni 2010 - 2 B 72.09 - juris Rn. 4). Die Aufklärungspflicht verlangt hingegen nicht, dass ein Tatsachengericht Ermittlungen anstellt, die aus seiner Sicht unnötig sind, weil deren Ergebnis nach seinem Rechtsstandpunkt für den Ausgang des Rechtsstreits unerheblich ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Januar 1998 - 11 C 11.96 - BVerwGE 106, 115 <119> und Beschlüsse vom 11. Februar 2016 - 2 B 51.14 - juris Rn. 13 und vom 27. April 2016 - 2 B 23.15 - juris Rn. 11).

6 Die gerichtliche Aufklärungspflicht ist verletzt, wenn sich das Gericht auf ein eingeholtes Sachverständigengutachten stützt, das objektiv ungeeignet ist, ihm die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Dies ist im Allgemeinen der Fall, wenn das vorliegende Gutachten auch für den Nichtsachkundigen erkennbare Mängel aufweist, etwa nicht auf dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft beruht, von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, unlösbare inhaltliche Widersprüche enthält oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Sachverständigen gibt. Die Verpflichtung zur Ergänzung des vorliegenden Gutachtens folgt nicht schon daraus, dass ein Beteiligter dieses als Erkenntnisquelle für unzureichend hält (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Februar 1985 - 8 C 15.84 - BVerwGE 71, 38 <45>; Beschlüsse vom 29. Mai 2009 - 2 B 3.09 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 5 Rn. 7 und vom 16. Mai 2018 - 2 B 12.18 - Buchholz 239.1 § 36 BeamtVG Nr. 3 Rn. 9).

7 Bei der Dienstunfähigkeit handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der uneingeschränkten Nachprüfung der Verwaltungsgerichte unterliegt (BVerwG, Urteile vom 27. Juni 2013 - 2 C 67.11 - NVwZ-RR 2013, 1007 Rn. 11 und vom 5. Juni 2014 - 2 C 22.13 - BVerwGE 150, 1 Rn. 17). Zur Beurteilung der Dienstfähigkeit müssen die gesundheitsbedingten Leistungsbeeinträchtigungen festgestellt und deren prognostische Entwicklung bewertet werden. Diese Beurteilungsvorgänge erfordern in aller Regel besondere medizinische Sachkunde, über die nur ein Arzt verfügt. Die Notwendigkeit, einen Arzt hinzuzuziehen, bedeutet aber nicht, dass diesem die Entscheidungsverantwortung für die Beurteilung der Dienstfähigkeit übertragen werden darf. Vielmehr wird der Arzt als Sachverständiger tätig, auf dessen Hilfe der Dienstherr angewiesen ist, um die notwendigen Feststellungen treffen zu können. Der Dienstherr muss die ärztlichen Befunde und Schlussfolgerungen nachvollziehen und sich auf ihrer Grundlage ein eigenes Urteil bilden. Dies gilt insbesondere für die Feststellung, welche Folgen sich aus den ärztlich festgestellten Leistungseinschränkungen für die amtsbezogenen Dienstpflichten ergeben (BVerwG, Urteile vom 5. Juni 2014 - 2 C 22.13 - BVerwGE 150, 1 Rn. 18 und vom 16. November 2017 - 2 A 5.16 - Buchholz 232.0 § 44 BBG 2009 Nr. 12 Rn. 25).

8 Die Beschwerdebegründung zeigt nicht auf, dass das Oberverwaltungsgericht nach diesen Grundsätzen gehalten war, ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen. Unzutreffend ist bereits die Annahme der Beschwerde, das Oberverwaltungsgericht habe es versäumt zu prüfen, ob das von ihm eingeholte medizinische Sachverständigengutachten infolge Fehlerhaftigkeit objektiv ungeeignet sein könnte. Die unter Zitierung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vom Oberverwaltungsgericht getroffene Maßstabsbildung (UA Bl. 8 f.) belegt das Gegenteil.

9 Das Oberverwaltungsgericht hat sich außerdem mit den vorliegenden im Zurruhesetzungsstreit des Klägers in den Jahren 2012 (polizeiärztlich) und 2018 (gerichtlich) eingeholten fachmedizinischen Gutachten detailliert auseinander gesetzt. Dabei hat es zunächst die von beiden ärztlichen Sachverständigen für den Zeitpunkt der Zurruhesetzung des Klägers übereinstimmend festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen (bekannte Epilepsie bei chronischem Alkoholabusus, chronische Magenschleimhautentzündung, Entzündung bzw. Verfettung der Bauchspeicheldrüse, Blutzuckerkrankheit Typ II <insulinpflichtig>, Lebergewebeschaden nach alkoholindizierter Hepatitis, HWS-LWS-Syndrom und Schultergelenksarthrose) benannt.

10 Sodann hat das Oberverwaltungsgericht rechtsfehlerfrei ausgeführt, dass das aktuelle schriftliche Gutachten aus dem Jahr 2018 mit seiner neuen Annahme, beim Kläger sei für den Zeitpunkt der vorzeitigen Zurruhesetzung (Januar 2013) keine Alkoholerkrankung nachzuweisen, der Annahme eines erheblichen Alkoholabusus zu diesem Zeitpunkt nicht entgegensteht. Diese Feststellung begründet das Oberverwaltungsgericht nachvollziehbar und plausibel damit, dass der Sachverständige Dr. W., der 2018 ergänzend zu seinem schriftlichen Gutachten in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht vernommen worden ist, zwar erklärt hat, dass seine Einschätzung darauf beruht, dass beim Kläger alkoholbedingte Spätschäden nicht nachweisbar sind, gleichzeitig aber auch ausgeführt hat, dass die Beendigung oder Reduzierung des Alkoholkonsums nach mehreren Jahren zu einer Verbesserung und Normalisierung der Leberwerte führen kann und der Kläger zudem über ein "sehr robustes Organsystem" verfügt. Danach ist rückblickend - unabhängig davon, ob eine Alkoholerkrankung des Klägers im Zeitpunkt der Zurruhesetzung nachgewiesen ist - jedenfalls deshalb von einem erheblichen Alkoholmissbrauch beim Kläger auszugehen, weil er noch im Jahr 2012 eine zweite Langzeitentwöhnung absolviert hatte. Aus alledem lassen sich weder erkennbare Mängel noch unauflösliche inhaltliche Widersprüche in den sachverständigen Feststellungen von Dr. W. ablesen.

11 Im Übrigen wendet sich die Beschwerde letztlich gegen die aus ihrer Sicht fehlerhafte Würdigung des vorliegenden Tatsachenmaterials. Die Beschwerde zieht aus den tatsächlichen Feststellungen andere Schlüsse als das Tatsachengericht. Eine solche Rüge ist revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Sie kann einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO grundsätzlich - so auch hier - nicht begründen.

12 Die vom Oberverwaltungsgericht auf der Grundlage der sachverständigen ärztlichen Feststellungen getroffenen konkreten Einschätzung, welche Folgen sich aus den ärztlich festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen für die amtsbezogenen Dienstpflichten des Klägers ergeben, sind rechtlich nicht zu beanstanden. Gegen die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, wonach der Kläger aufgrund der Zusammenschau seiner aktenkundigen Krankengeschichte, seiner Konstitution und seiner erheblichen krankheitsbedingten Fehlzeiten zum maßgeblichen Zeitpunkt der vorzeitigen Zurruhesetzung im Januar 2013 zur Erfüllung jedweder Dienstpflichten dauernd unfähig war, ist aus revisionsrechtlicher Sicht nichts einzuwenden.

13 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 40, 47 Abs. 1, § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 GKG.