Verfahrensinformation

Die Kläger, eine somalische Familie, begehren im Wege eines Asylfolgeantrags die Zuerkennung von abgeleitetem Flüchtlingsschutz als Familienangehörige. Hierzu machen sie geltend, ihre nach dem Verlassen des Herkunftslandes in Deutschland geborene Tochter bzw. Schwester sei nunmehr als Flüchtling anerkannt. Das Bundesamt lehnte den Folgeantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig ab, weil sich die Sachlage nicht nachträglich zugunsten der Kläger geändert habe. Die Vorinstanzen haben dies bestätigt und die - als Anfechtungsklage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung ausgelegte - Klage abgewiesen. Die Änderung sei nicht geeignet, eine günstigere Entscheidung über das Asylgesuch herbeizuführen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft als Familienangehörige seien nicht erfüllt, weil die Familie wegen der Geburt der Tochter in Deutschland nicht schon im Verfolgerstaat bestanden habe (vgl. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG). Mit Familie in diesem Sinne sei die familiäre Beziehung der Familienangehörigen zu dem Stammberechtigten gemeint. Das Bestehen einer Kernfamilie im Verfolgerstaat, in die der Stammberechtigte erst nach der Ausreise hineingeboren werde, genüge deshalb nicht.


Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer Revision, die das Oberverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung hinsichtlich der Auslegung des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG zugelassen hat.


Pressemitteilung Nr. 87/2023 vom 15.11.2023

Kein abgeleiteter Flüchtlingsschutz für Familienangehörige eines erst im Aufnahmemitgliedstaat geborenen und dort als Flüchtling anerkannten Kindes

Die drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines erst nach der Ausreise aus dem Verfolgerstaat geborenen Kindes, dem in Deutschland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 26 AsylG. Das gilt auch dann, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft der Eltern oder auch die gesamte Familie mit Ausnahme des Stammberechtigten bereits im Verfolgerstaat bestanden hat. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.


Die Kläger (Eltern und zwei Söhne) sind somalische Staatsangehörige und 2012 nach Deutschland eingereist. Ihre Asylanträge wurden unanfechtbar abgelehnt. Nachdem einer 2013 in Deutschland geborenen Tochter bzw. Schwester der Kläger die Flüchtlingseigenschaft wegen drohender Genitalverstümmelung zuerkannt worden war, stellten sie Folgeanträge. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte die Anträge als unzulässig ab, weil keine Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens vorlägen. Die Anerkennung der Tochter bzw. Schwester begründe für die Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft als Familienangehörige nach § 26 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 AsylG, weil die Familie nicht schon im Verfolgerstaat bestanden habe. Klage und Berufung haben keinen Erfolg gehabt. Das Oberverwaltungsgericht war ebenfalls der Auffassung, die Kläger könnten von der in Deutschland geborenen Tochter einen Familienflüchtlingsschutz nicht ableiten, weil dem § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Abs. 5 AsylG entgegenstehe. Danach setzt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als Familienangehörige bei Eltern und Geschwistern voraus, dass die Familie im Sinne des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird. Dies könne nur der Fall sein, wenn das stammberechtigte Kind bereits im Verfolgerstaat geboren sei. Es reiche nicht aus, dass das Kind in Deutschland in eine Familie hineingeboren werde, die bereits im Verfolgerstaat bestanden habe.


Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat die Revision der Kläger zurückgewiesen. Die Asylfolgeanträge sind zu Recht als unzulässig abgelehnt worden, weil sich die Sach- oder Rechtslage nicht zu Gunsten der Kläger geändert hat. Die Anerkennung der in Deutschland geborenen Tochter als Flüchtling begründet für ihre Eltern und Geschwister keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil die Familie nicht schon im Herkunfts- bzw. Verfolgerstaat bestanden hat. Diese Voraussetzung ergibt sich nicht nur aus § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG. Auch die unionsrechtliche Regelung über die Wahrung des Familienverbands in Art. 2 Buchst. j i.V.m. Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU, die der deutsche Gesetzgeber mit § 26 AsylG (überschießend) umgesetzt hat und auf die er darin ausdrücklich verweist, bezieht Familienangehörige nur insoweit ein, als die Familie bereits im Herkunftsstaat bestanden hat. Der dort jeweils verwendete Familienbegriff bezieht sich nach Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck der Regelung gerade auf das familiäre Verhältnis zwischen dem Stammberechtigten und dem Familienangehörigen, der den abgeleiteten Schutzstatus bzw. die Wahrung des Familienverbands begehrt. Danach scheidet ein Familienschutz für Eltern und Geschwister von vornherein aus, wenn das stammberechtigte Kind erst in Deutschland geboren wurde. Dem steht auch nicht entgegen, dass minderjährige Kinder eines Schutzberechtigten den abgeleiteten Schutz erhalten können, wenn die familiäre Beziehung erst in Deutschland entstanden ist, weil § 26 Abs. 2 AsylG insoweit nicht verlangt, dass die Familie bereits im Verfolgerstaat bestanden haben muss. Hierbei handelt es sich um eine über die Vorgaben des Unionsrechts hinausgehende bewusste Privilegierung, für die hinreichende sachliche Gründe bestehen.


BVerwG 1 C 7.22 - Urteil vom 15. November 2023

Vorinstanzen:

OVG Magdeburg, OVG 4 L 85/21 - Beschluss vom 15. Februar 2022 -

VG Halle, VG 4 A 28/20 HAL - Beschluss vom 10. Februar 2021 -


Urteil vom 15.11.2023 -
BVerwG 1 C 7.22ECLI:DE:BVerwG:2023:151123U1C7.22.0

Kein abgeleiteter Flüchtlingsschutz für Familienangehörige eines erst in Deutschland geborenen und hier als Flüchtling anerkannten Kindes

Leitsätze:

1. Die drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines in Deutschland geborenen Kindes, das hier als Flüchtling anerkannt worden ist, haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft nach § 26 Abs. 3 i. V. m. Abs. 5 AsylG.

2. Die in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG i. V. m. Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU geregelte Voraussetzung des Bestehens der Familie bereits im Herkunftsland bezieht sich auf die familiäre Beziehung zwischen dem minderjährigen Schutzberechtigten und dem Familienangehörigen, der den abgeleiteten Schutzstatus begehrt. Sie ist daher nicht schon dann erfüllt, wenn der in Deutschland geborene Schutzberechtigte in eine Ehe hineingeboren worden ist, die bereits im Herkunftsland bestanden hat.

  • Rechtsquellen
    AsylG § 26
    RL 2011/95/EU Art. 2 Buchst. j und Art. 23

  • VG Halle - 10.02.2021 - AZ: 4 A 28/20 HAL
    OVG Magdeburg - 15.02.2022 - AZ: 4 L 85/21

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 15.11.2023 - 1 C 7.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:151123U1C7.22.0]

Urteil

BVerwG 1 C 7.22

  • VG Halle - 10.02.2021 - AZ: 4 A 28/20 HAL
  • OVG Magdeburg - 15.02.2022 - AZ: 4 L 85/21

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 15. November 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und Böhmann und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp und Fenzl
für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Kläger gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 15. Februar 2022 wird zurückgewiesen.
  2. Die Kläger tragen die Kosten des Revisionsverfahrens.

Gründe

I

1 Die Kläger sind somalische Staatsangehörige. Sie wenden sich gegen die Ablehnung ihrer Asylfolgeanträge, die auf die Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft als Familienangehörige zielen, als unzulässig.

2 Die Kläger zu 1. und 2. haben 2006 in Somalia geheiratet. Nach ihrer Ausreise wurden 2010 und 2011 in Italien ihre Söhne, die Kläger zu 3. und 4., geboren. 2012 reisten die Kläger gemeinsam nach Deutschland ein. 2013 wurde hier eine Tochter geboren. Mit Bescheid vom 29. Januar 2014 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Asylanträge aller Familienmitglieder ab. Auf die dagegen erhobene Klage verpflichtete das Verwaltungsgericht Magdeburg die Beklagte, der Tochter wegen drohender Genitalverstümmelung die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und hinsichtlich aller Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen.

3 Nachdem das Bundesamt den rechtskräftigen gerichtlichen Verpflichtungen nachgekommen war, stellten die Kläger im Dezember 2017 Asylfolgeanträge. Zur Begründung beriefen sie sich auf die Wahrung der Familieneinheit in der Bundesrepublik Deutschland.

4 Mit Bescheid vom 11. Dezember 2017 lehnte das Bundesamt die Folgeanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig ab, weil Wiederaufgreifensgründe nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorlägen. Die dagegen erhobene Klage hatte vor dem Verwaltungsgericht keinen Erfolg.

5 Mit Beschluss vom 15. Februar 2022 hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung der Kläger zurückgewiesen. Der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig, weil die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht gegeben seien. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hinsichtlich der Tochter sei keine Änderung der Sach- oder Rechtslage, die sich zugunsten der Kläger auswirke. Sie begründe für die Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft als Familienangehörige, weil die Voraussetzung des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG aufgrund der Geburt der Tochter in Deutschland nicht erfüllt sei. Nach dieser Vorschrift in Verbindung mit § 26 Abs. 5 AsylG setze die Gewährung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft bei den Eltern eines anerkannten Flüchtlings voraus, dass die Familie im Sinne des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden habe, in dem der Flüchtling verfolgt werde. Dies gelte nach § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG entsprechend auch für minderjährige ledige Geschwister. Das schutzberechtigte Kind müsse danach bereits im Verfolgerstaat (hier Somalia) geboren sein. Es sei nicht ausreichend, dass das in Deutschland geborene stammberechtigte Kind in eine Familie hineingeboren werde, die bereits im Verfolgerstaat bestanden habe. Dies ergebe sich schon aus dem Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG, aber auch aus der dort in Bezug genommenen, für die Auslegung des Begriffs der Familie maßgeblichen Bestimmung des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe im Verfahren C-91/20 zwar nicht ausdrücklich entschieden, ob es für den Bestand der Familie schon im Herkunftsland genüge, dass das im Aufnahmemitgliedstaat geborene schutzberechtigten Kind in eine bereits im Herkunftsland gegründete Familie hineingeboren worden sei. In den zugehörigen Schlussanträgen des Generalanwalts vom 12. Mai 2021 werde indes zu Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU dargelegt, dass der Unionsgesetzgeber den Vorteil der Wahrung des Familienverbands auf familiäre Bindungen beschränke, die die stammberechtigte Person in ihrem Herkunftsland vor der Gewährung dieses Schutzes geknüpft habe. Diesen Ausführungen lasse sich entnehmen, dass zur Familie im Sinne des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU zwingend der international Schutzberechtigte zu zählen sein soll. Die systematische Auslegung bestätige dies. Auch die teleologische Auslegung streite für das engere Verständnis. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte der in § 26 Abs. 3 AsylG normierte Elternschutz durch die Aufnahme der Nr. 2 davon abhängig gemacht werden, dass bei den Familienangehörigen aufgrund der Verfolgung des minderjährigen Stammberechtigten hinreichend wahrscheinlich ebenfalls eine Bedrohungslage vorliege, sodass aus Gründen der Verfahrensvereinfachung eine automatische Übertragung des Schutzstatus als sachgerecht erachtet worden sei. Auswirkungen einer Verfolgung des minderjährigen Stammberechtigten auf die übrigen Familienmitglieder seien bei einer Geburt des Stammberechtigten außerhalb des Verfolgerstaats nicht in gleicher Weise wahrscheinlich, als wenn die Familieneinheit mit den übrigen Familienmitgliedern schon im Verfolgerstaat bestanden habe. Den Familienangehörigen eines in Deutschland geborenen minderjährigen Schutzberechtigten bleibe es im Übrigen unbenommen, Schutzgründe aus eigenem Recht geltend zu machen; zudem seien sie über Art. 6 Abs. 1 GG in der Regel zumindest vor einer Abschiebung geschützt.

6 Mit ihrer Revision rügen die Kläger, das Oberverwaltungsgericht habe den Begriff der Familie in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG zu eng ausgelegt. Ausreichend sei, dass im Herkunftsstaat bereits eine Kernfamilie in Form einer Ehe bestanden habe. Denn mit der Einschränkung, dass die familiären Beziehungen bereits im Verfolgerstaat bestanden haben müssen, solle lediglich verhindert werden, dass die Ableitung der Schutzberechtigung auf der (vorgeblichen) Gründung einer Familie beruhe. So sei auch Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU auszulegen, auf den das Asylgesetz verweise. Diese Norm regele die zusätzliche Voraussetzung des Bestehens der Familie bereits im Herkunftsland vor den Spiegelstrichen. Für die Frage, ob zukünftig eine gemeinschaftliche Gefahrenlage bestehe, sei es unerheblich, ob das die Gefahrenlage auslösende Kind erst im Ausland nachgeboren worden sei. Die Zuerkennung des Familienasyls diene der Wahrung der familiären Einheit.

7 Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.

II

8 Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das Oberverwaltungsgericht hat die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) als rechtmäßig erachtet, weil sich die Anerkennung der im Bundesgebiet geborenen Tochter bzw. Schwester der Kläger als Flüchtling nicht mit Blick auf § 26 Abs. 3 i. V. m. Abs. 5 AsylG zugunsten der Kläger auswirkt. Der Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft nach diesen Vorschriften steht entgegen, dass die Familie nicht bereits in dem Staat, in dem der Tochter Verfolgung droht, bestanden hat (vgl. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG).

9 1. Die Anfechtungsklage gegen die auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG gestützte Unzulässigkeitsentscheidung ist nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Nach gefestigter Rechtsprechung des Senats sind Unzulässigkeitsentscheidungen nach § 29 AsylG mit der Anfechtungsklage anzugreifen (vgl. BVerwG, Urteile vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 [ECLI:​​DE:​​BVerwG:​​2016:​​141216U1C4.16.0] - BVerwGE 157, 18 Rn. 14 ff. und vom 20. Mai 2020 - 1 C 34.19 [ECLI:​​DE:​​BVerwG:​​2020:​​200520U1C34.19.0] - Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 11 Rn. 10 m. w. N.). Hieran ist ungeachtet des beim Gerichtshof der Europäischen Union (Gerichtshof) unter dem Aktenzeichen C-216/22 anhängigen Vorabentscheidungsersuchens des Verwaltungsgerichts Sigmaringen (Beschluss vom 22. Februar 2022 - A 4 K 855/21 [ECLI:​​DE:​​VGSIGMA:​​2022:​​0222.A4K855.21.00] - Asylmagazin 2022, 253, Vorlagefragen 3 a bis c) zur Auslegung von Art. 46 RL 2013/32/EU festzuhalten. Bereits in der Rechtssache Alheto hat der Gerichtshof ausgeführt, die dem Gericht obliegende Ex-nunc-Prüfung habe nicht zwingend eine inhaltliche Prüfung des Bedürfnisses nach internationalem Schutz zum Gegenstand und könne somit die Zulässigkeit des Antrags auf internationalen Schutz betreffen, wenn das nationale Recht dies gemäß Art. 33 Abs. 2 RL 2013/32/EU erlaube (EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018 - C-585/16 [ECLI:​​EU:​​C:​​2018:​​584] - Rn. 115, 144 ff.). Die Schlussanträge des Generalanwalts vom 7. September 2023 in dem aktuell anhängigen Verfahren C-216/22 [ECLI:​​EU:​​C:​​2023:​​646] bestätigen dies auch für den Fall einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG (Rn. 88 ff.).

10 2. Die Klage ist aber nicht begründet, weil die angegriffene Unzulässigkeitsentscheidung rechtmäßig ist. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn im Falle eines Folgeantrags nach § 71 AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. § 71 AsylG verpflichtet zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nur dann, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens vorliegen. Der allein in Betracht kommende Wiederaufgreifensgrund des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG setzt voraus, dass sich die dem unanfechtbaren Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat. Diese Voraussetzungen hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei verneint.

11 Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hinsichtlich der im Bundesgebiet geborenen Tochter bzw. Schwester der Kläger ist keine Änderung der Sachlage, die sich zu deren Gunsten auswirkt. Zutreffend hat das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang allein die abgeleitete Flüchtlingseigenschaft nach § 26 AsylG in den Blick genommen. Denn die Kläger haben sich mit ihrem Folgeantrag lediglich auf die Anwesenheit aller Familienmitglieder in der Bundesrepublik Deutschland berufen; eine mit der Gefährdung der Tochter bzw. Schwester verbundene eigene Verfolgungsgefahr haben sie nicht geltend gemacht.

12 2.1 Die Anerkennung der Tochter als Flüchtling begründet für die Kläger zu 1. und 2. keinen Anspruch auf Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft als Eltern eines minderjährigen ledigen Flüchtlings. Nach § 26 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG wird den Eltern eines minderjährigen ledigen Flüchtlings auf Antrag unter bestimmten, dort näher aufgeführten Voraussetzungen ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Unter anderem setzt dies voraus, dass die Familie im Sinne des Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Flüchtling verfolgt wird. Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben, weil die schutzberechtigte Tochter erst in Deutschland geboren worden ist. Der Begriff der Familie im Sinne von § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG und von Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU bezeichnet die familiäre Beziehung zwischen dem schutzberechtigten Kind und dem Elternteil oder sonstigen berechtigten Erwachsenen, der den abgeleiteten Schutzstatus begehrt. Diese muss bereits im Herkunftsstaat bestanden haben. Dass die Eltern des Schutzberechtigten im Herkunftsstaat bereits in ehelicher Lebensgemeinschaft zusammengelebt haben, ist in diesem Zusammenhang hingegen weder ausreichend noch erforderlich. Es genügt deshalb nicht, dass der minderjährige Schutzberechtigte im Aufnahmemitgliedstaat in eine Ehe hineingeboren worden ist, die bereits im Herkunftsstaat bestanden hat (wie hier neben dem Berufungsgericht u. a. VG Hamburg, Urteil vom 20. Februar 2019 - 16 A 146/18 [ECLI:​​DE:​​VGHH:​​2019:​​0220.16A146.18.00] - juris Rn. 26; VG Aachen, Urteil vom 1. Juni 2021 - 2 K 922/18.A [ECLI:​​DE:​​VGAC:​​2021:​​0601.2K922.18A.00] - juris Rn. 32 ff.; VG Gießen, Urteil vom 26. November 2021 - 8 K 1508/18.GI.A -, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 3. April 2023 - 23 K 8471/21.A -; Epple, in: GK-AsylG, Stand: August 2023, § 26 Rn. 63, 63.1; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Juni 2023, § 26 AsylG Rn. 98 ff.; Marx, AsylG, 11. Aufl. 2022, § 26 Rn. 39; a. A. OVG Koblenz, Beschluss vom 25. Juli 2022 - 13 A 11241/21.OVG [ECLI:​​DE:​​OVGRLP:​​2022:​​0725.13A11241.21.00] - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 19. Mai 2017 - A 3 K 3301/16 [ECLI:​​DE:​​VGSIGMA:​​2017:​​0519.A3K3301.16.0A] - juris; VG Freiburg, Urteile vom 9. Oktober 2018 - A 1 K 3294/17 - juris und vom 27. August 2020 - A 10 K 8179/17 - juris; Broscheit, ZAR 2019, 174; Münch, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 26 AsylG Rn. 44; Günther/​Nuckelt, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand: 01.10.2023, § 26 Rn. 23b; Blechinger, in: BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand: 15.10.2023, § 26 AsylG Rn. 52a).

13 a) § 26 Abs. 3 und 5 AsylG sind mit dem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 in das Asylgesetz eingefügt worden und ergänzen die bestehende nationale Regelung zum sogenannten Familienasyl. Die mit diesem Gesetz vorgenommenen Änderungen des § 26 AsylG dienten der Umsetzung von Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU (BT-Drs. 17/13063 S. 21). Mit § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG wurde das Familienasyl und über § 26 Abs. 5 AsylG der internationale Familienschutz erstmalig auf Eltern minderjähriger lediger Asylberechtigter und andere sorgeberechtigte Erwachsene erstreckt, weil auch dieser Personenkreis dem Begriff des Familienangehörigen gemäß Art. 2 Buchst. j Gedankenstrich 3 RL 2011/95/EU unterfällt. Die darin liegende Umsetzung der unionsrechtlichen Verpflichtung aus Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU zur Wahrung des Familienverbands international Schutzberechtigter ist in der Rechtsfolge (zulässigerweise) überschießend, weil das Unionsrecht nur zur Gewährung der in den Art. 24 bis 35 RL 2011/95/EU aufgeführten Leistungen verpflichtet, nicht aber zur Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf die Familienangehörigen (stRspr des EuGH, Urteile vom 4. Oktober 2018 - C-652/16 [ECLI:​​EU:​​C:​​2018:​​801], Ahmedbekova - Rn. 68 ff., vom 9. November 2021 - C-91/20 [ECLI:​​EU:​​C:​​2021:​​898] - Rn. 36 und vom 23. November 2023 - C-374/22 [ECLI:​​EU:​​C:​​2023:​​902] - Rn. 20 f. sowie - C-614/22 [ECLI:​​EU:​​C:​​2023:​​903] - Rn. 20 f.). Es entsprach aber der Intention des Gesetzgebers, hinsichtlich des Kreises der Begünstigten einer Erstreckung des internationalen Familienschutzes, aber auch hinsichtlich der schutzberechtigten Bezugsperson an die in Art. 2 Buchst. j Gedankenstrich 3 RL 2011/95/EU normierten Vorgaben anzuknüpfen. Dies folgt auch aus der Absicht, dadurch die Gebote des Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU im nationalen Recht vollständig zu erfüllen (BVerwG, Urteile vom 17. November 2020 - 1 C 8.19 [ECLI:​​DE:​​BVerwG:​​2020:​​171120U1C8.19.0] - BVerwGE 170, 326 Rn. 27 und vom 25. November 2021 - 1 C 4.21 [ECLI:​​DE:​​BVerwG:​​2021:​​251121U1C4.21.0] - BVerwGE 174, 177 Rn. 26 f.; siehe auch OVG Bremen, Urteil vom 20. Juli 2021 - 2 LB 96/21 [ECLI:​​DE:​​OVGHB:​​2021:​​0720.2LB96.21.00] - juris Rn. 41). Entsprechendes liegt hinsichtlich § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG nahe, der den Kreis der Berechtigten durch die Voraussetzung einschränkt, dass die Familie im Sinne des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden haben muss, in dem der Flüchtling verfolgt wird. Das Gesetz nimmt auch hier auf Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU Bezug, der eine entsprechende Einschränkung mit dem Halbsatz "sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat" enthält.

14 Mit § 26 Abs. 3 AsylG hat der Gesetzgeber somit erkennbar Unionsrecht umgesetzt und dessen tatbestandlichen Anforderungen (vollständig) genügen wollen. Zugleich hat er diese Umsetzung aber im Rahmen und im System des bestehenden nationalen Familienasyls vorgenommen und sich etwa bei der Formulierung des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG an der parallelen Einschränkung beim Ehegattenasyl orientiert (vgl. § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG). Der Systematik und Teleologie des nationalen Familienasyls entspricht es, dass die "Familie", die gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG schon im Verfolgerstaat Bestand gehabt haben muss, zwingend den Schutzberechtigten einschließt (dazu b). Auch die in Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU enthaltene Einschränkung "sofern die Familie bereits im Herkunftsstaat bestanden hat" ist in diesem gleichen Sinne auszulegen (dazu c).

15 b) Das ursprünglich richterrechtlich begründete Familienasyl wurde mit der Schaffung von § 7a Abs. 3 AsylVfG a. F. durch Art. 3 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I S. 1354) erstmals auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Es beruht auf dem Gedanken des Familienschutzes und der Erfahrung, dass vielfach diejenigen, die von einem Flüchtling abhängig sind, im Verfolgungsland ebenfalls Verfolgungen oder sonstigen schweren Beeinträchtigungen ausgesetzt sind. Die Regelung zielte auf die "Entlastung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und der Verwaltungsgerichtsbarkeit, da sie die Möglichkeit eröffnet[e], von einer u. U. schwierigen Prüfung eigener Verfolgungsgründe der Familienangehörigen eines Asylberechtigten abzusehen". Sie wurde zudem als "sozial gerechtfertigt", weil der "Integration der nahen Familienangehörigen der in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigte aufgenommenen politisch Verfolgten" förderlich erachtet (BT-Drs. 11/6960 S. 29 f.). An dieser auf der gesetzlichen Vermutung einer Verfolgung basierenden Konzeption des Familienasyls hat der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 26 Asyl(Vf)G und bei den der Umsetzung von Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU dienenden Erweiterungen auf international Schutzberechtigte und Einbeziehung weiterer Familienangehöriger im Grundsatz festgehalten (vgl. im Einzelnen BVerwG, Urteil vom 17. November 2020 - 1 C 8.19 - BVerwGE 170, 326 Rn. 25 f.).

16 aa) § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG knüpft das Elternasyl bzw. den internationalen Schutz für Eltern (§ 26 Abs. 5 AsylG) an die Voraussetzung, dass die Familie im Sinne des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU bereits im Verfolgerstaat bestanden hat. Diese ist der vergleichbaren Einschränkung beim Ehegattenasyl (und internationalen Schutz für Ehegatten) nachgebildet und dient dem gleichen Zweck. Die Schutzerstreckung für Ehegatten und Lebenspartner setzt gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG voraus, dass die Ehe oder Lebenspartnerschaft mit dem Asylberechtigten schon in dem Staat bestanden hat, in dem dieser politisch verfolgt wird. Eine derartige Einschränkung war bereits in der ersten gesetzlichen Regelung des Ehegattenasyls in § 7a Abs. 3 AsylVfG i. d. F. von Art. 3 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I S. 1354) enthalten. Danach war dem Ehegatten eines Asylberechtigten die Rechtsstellung eines Asylberechtigten zu gewähren, wenn (unter anderem) "die Ehe schon in dem Staat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird (Herkunftsstaat), bestanden hat" (Nr. 2). Demgegenüber konnten Kinder eines anerkannten Asylberechtigten bereits mit dem Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrens vom 26. Juni 1992 (BGBl. I S. 1126) im Hinblick auf einen einheitlichen Rechtsstatus der Familie auch dann als Asylberechtigte anerkannt werden, wenn sie im Bundesgebiet nach der unanfechtbaren Anerkennung des Asylberechtigten geboren worden waren (vgl. BT-Drs. 12/2718 S. 60). Die beim Ehegattenasyl geltende Voraussetzung, dass die Ehe bereits im Verfolgerstaat bestanden haben muss, wurde in diesem Zusammenhang nicht für entsprechend anwendbar erklärt. Die lediglich zu beachtende Einschränkung, dass der Antrag innerhalb eines Jahres nach der Geburt zu stellen war, ist mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) ebenfalls entfallen.

17 Bei der durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474) geschaffenen Regelung zum Elternasyl (und abgeleitetem internationalen Schutz für Eltern) hat sich der Gesetzgeber nicht an dieser von Beginn an großzügigeren Gewährung des Kinderasyls, sondern an der Regelung zum Ehegattenasyl orientiert. So wie dieses davon abhängt, dass die eheliche Lebensgemeinschaft bereits im Verfolgerstaat bestanden hat, ist auch der Elternschutz an die Voraussetzung geknüpft, dass die Familie schon im Verfolgerstaat bestanden hat. Bereits die Verwendung des Begriffs "Familie" deutet dabei darauf hin, dass diese den minderjährigen Schutzberechtigten einschließt und eine bloße eheliche Lebensgemeinschaft der Eltern in diesem Zusammenhang nicht genügt. Ob die Eltern bereits im Herkunftsland verheiratet waren, ist dagegen ohne Belang, weil der Anspruch auch einem einzelnen Elternteil oder einem anderen personensorgeberechtigten Erwachsenen zusteht (vgl. auch Art. 2 Buchst. j 3. Spiegelstrich RL 2011/95/EU). Entscheidend ist, dass die familiäre Gemeinschaft zwischen dem schutzberechtigten Kind und den Eltern oder dem Elternteil, der den abgeleiteten Schutz geltend macht, bereits im Herkunftsland bestanden hat.

18 bb) Sinn und Zweck des Familienasyls und der gesetzlichen Beschränkung auf familiäre Beziehungen, die bereits im Verfolgerstaat bestanden haben, bestätigen dies. Beim Ehegattenasyl hat der Gesetzgeber mit der Einschränkung zu erkennen gegeben, dass der Nähe des Ehegatten zum Verfolgungsgeschehen und damit der daraus auch für ihn herrührenden Gefahr Rechnung getragen werden soll. Eine Nähe des Ehegatten zum Verfolgungsgeschehen und eine eigene Gefährdung setzen aber voraus, dass die Ehegatten bereits im Verfolgerland zusammengelebt haben (BVerwG, Urteile vom 25. Juni 1991 - 9 C 48.91 - BVerwGE 88, 326 <330> und vom 15. Dezember 1992 - 9 C 61.91 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 159 S. 372 f.). Auf das Privileg des abgeleiteten Schutzes kann sich ein Ehegatte mithin aus sachlichem Grund nur berufen, wenn er schon im Herkunftsstaat für den Verfolger wahrnehmbar in ehelicher Lebensgemeinschaft mit dem primär verfolgten Schutzberechtigten gelebt hat. Die gleiche Teleologie liegt der entsprechenden Einschränkung beim Elternschutz zugrunde. Nur derjenige Elternteil, der bereits im Herkunftsstaat mit seinem später schutzberechtigten Kind eine Familie gebildet hat, kann den abgeleiteten Schutz als Familienangehöriger eines Schutzberechtigten beanspruchen.

19 Die abweichende Auffassung, nach der es ausreicht, wenn im Herkunftsstaat eine eheliche Lebensgemeinschaft der Eltern mit oder ohne weitere Kinder, aber ohne den erst in Deutschland geborenen Stammberechtigten ("Kern-" oder "Restfamilie") bestand, ist von der erwähnten Teleologie des Familienasyls hingegen nicht gedeckt. Sie führt im Gegenteil zu einer anderweitigen Differenzierung, für die sich keine sachlichen Gründe finden lassen: Dass ein Elternteil, der sich auf den Elternschutz beruft, im Verfolgerstaat des schutzberechtigten nachgeborenen Kindes mit dem anderen Elternteil und ggf. älteren Geschwistern dieses Kindes bereits eine Familie gebildet hat, vermag eine Privilegierung nicht zu rechtfertigen. Die Beziehung des stammberechtigten Kindes zum jeweiligen Elternteil, die § 26 AsylG asylrechtlich zu schützen beabsichtigt, wird nicht dadurch schutzwürdiger, dass dieser Elternteil bereits mit anderen Personen im Herkunftsland eine Familie gebildet hat (vgl. Epple, in: GK-AsylG, Stand: 1. Dezember 2019, § 26 Rn. 63.1; VG Gießen, Urteil vom 26. November 2021 - 8 K 1508/18.GI.A - juris Rn. 32). Dies bewirkt zudem keine zusätzliche Gefährdung des Elternteils. Entgegen der Andeutung des Klägers bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschränkung des Kreises der Anspruchsberechtigten auf Eltern, die mit dem Stammberechtigten bereits im Herkunftsstaat eine Familie gebildet haben, auf den Ausschluss aufenthaltsrechtlich motivierter Zweckehen zielte. Anders als beim Ehegattenasyl ist beim Elternasyl eine Ehe überhaupt nicht tatbestandsprägend, sondern kommt es auf die Eltern(teil)-Kind-Beziehung an.

20 cc) Etwas anderes kann auch nicht daraus hergeleitet werden, dass die Regelung der "umgekehrten" Fallkonstellation des von einem schutzberechtigten Elternteil gemäß § 26 Abs. 2 AsylG ableitbare Schutzstatus minderjähriger Kinder nicht an die Voraussetzung geknüpft ist, dass die Familie schon im Verfolgerstaat bestanden hat. Dies ist weder Ausdruck eines verallgemeinerungsfähigen Rechtsgedankens noch kann es sonst die Auslegung der beim Elternasyl vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgesehenen Einschränkung in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG beeinflussen (a. A. Broscheit, ZAR, 2019, 174 <177>; VG Freiburg, Urteil vom 9. Oktober 2018 - A 1 K 3294/17 - juris Rn. 17). Der nationale Gesetzgeber hat sich bewusst dafür entschieden, die Kinder eines anerkannten Schutzberechtigten unabhängig davon, ob die Familie bereits im Herkunftsstaat bestanden hat, in den einem Elternteil gewährten Schutzstatus einzubeziehen. Indem der Gesetzgeber in dieser Variante einen Bestand der Familie schon im Herkunftsstaat nicht verlangt, ist er über das unionsrechtlich Gebotene auch tatbestandlich hinausgegangen und hat zunächst Art. 2 Buchst. h RL 2004/83/EG, sodann Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU in gemäß Art. 3 RL 2011/95/EU zulässiger Weise überschießend umgesetzt (vgl. EuGH, Urteil vom 9. November 2021 - C-91/20 - Rn. 37 ff.).

21 Diese im nationalen Recht vorgesehene Privilegierung des Kinderasyls gegenüber dem Elternasyl verletzt nicht Art. 3 Abs. 1 GG. Ihr liegt die Erwägung zugrunde, dass minderjährige Kinder eines verfolgten Erwachsenen unabhängig davon, ob sie bereits vor der Ausreise geboren und Teil der Familie waren, regelmäßig mit "im Visier" der Verfolger stehen. Dies rechtfertigt die pauschale Zuerkennung des abgeleiteten Schutzes. Die Annahme, dass im umgekehrten Fall eines schutzberechtigten Kindes nicht in gleicher Weise pauschal eine Gefährdung auch der Eltern unterstellt werden kann, ist ohne Weiteres nachvollziehbar und vermag die Ungleichbehandlung hinreichend zu rechtfertigen. Dass ein erst nach Verlassen des Herkunftslandes geborenes Kind in der Europäischen Union als Flüchtling anerkannt wird, seine Eltern aber nicht, betrifft von vornherein nur seltene Fallkonstellationen. Regelmäßig geht es dabei um Mädchen, denen im Herkunftsland Genitalverstümmelung droht. Diese geschlechts- und altersspezifische Verfolgung hat einen - höchstpersönlichen - Grund, der nicht pauschal und regelmäßig auch auf eine Verfolgung der Eltern schließen lässt (hierzu etwa VGH München, Beschluss vom 12. April 2019 - 9 ZB 19.31228 [ECLI:​​DE:​​BAYVGH:​​2019:​​0412.9ZB19.31228.00] - juris; Französischer Conseil d'État, Gutachten [avis] vom 20. November 2013, n° 368676). Es ist daher nicht sachwidrig, in derartigen Fällen den Eltern Flüchtlingsschutz nur dann zuzuerkennen, wenn eine auch ihnen in eigener Person drohende Verfolgung im Einzelfall festzustellen ist.

22 dd) Es verstößt schließlich nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, dem Elternteil eines kurz vor der Ausreise geborenen stammberechtigten Kindes den abgeleiteten Schutz zu gewähren, dem Elternteil eines kurz nach der Ausreise geborenen stammberechtigten Kindes aber nicht (a. A. Broscheit, ZAR 2019, 174 <177>). Der Gesetzgeber hat die sachgerechte Erwägung, dass die Mitgefährdung eines Familienangehörigen wahrscheinlicher ist, wenn dieser bereits vor der Ausreise als Familienangehöriger des Schutzberechtigten erkennbar war, willkürfrei auf den Fall des Elternasyls übertragen. Diese Entscheidung ist von seiner Typisierungsbefugnis gedeckt. Im Übrigen übersieht die Gegenansicht, dass der von ihr erhobene Einwand - wäre er durchgreifend - durch das Genügenlassen einer "Kern-" oder "Restfamilie" nicht vollständig entkräftet werden könnte. Denn auch dann bliebe es dabei, dass eine alleinstehende Mutter nur dann Elternschutz erhalten könnte, wenn ihr schutzberechtigtes Kind vor und nicht erst nach der Ausreise geboren worden ist.

23 c) In demselben Sinne ist die - für das Verständnis des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG maßgebliche - unionsrechtliche Regelung in Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU auszulegen. Sie verlangt ebenfalls, dass die Familie bestehend aus dem Stammberechtigten und dem Familienangehörigen, der sich auf den Anspruch aus Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU beruft, bereits im Herkunftsland bestanden haben muss.

24 Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU definiert die Familienangehörigen des international Schutzberechtigten, denen der in Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU gewährleistete Anspruch auf bestimmte Leistungen zur Wahrung des Familienverbands zusteht. Familienangehörige sind danach die in den nachfolgenden drei Spiegelstrichen aufgezählten Mitglieder der Familie des Schutzberechtigten, "die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsstaat bestanden hat". Schon der Wortlaut und die innere Systematik der Norm legen nahe, dass der dort verwendete Begriff der Familie den Schutzberechtigten einschließt. Die für alle familiären Beziehungen vor den Spiegelstrichen zusammenfassend geregelten Voraussetzungen beschreiben jeweils eine - als Familie bezeichnete - Verbindung zwischen dem Schutzberechtigten und dem Familienangehörigen. Der Schutzberechtigte und der Familienangehörige müssen sich nicht nur aktuell "im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat" aufhalten, sondern ihre familiäre Verbindung ("die Familie") muss auch bereits im Herkunftsland bestanden haben. Zum einen verlangt das Gesetz den aktuellen gemeinsamen Aufenthalt, zum anderen enthält es eine Anforderung, die sich auf den Zeitraum vor Verlassen des Herkunftslandes bezieht. Durch das "bereits" sind beide Voraussetzungen miteinander verknüpft. Dies bringt zum Ausdruck, dass sie sich auf dieselbe Personenverbindung beziehen. Auch alle drei nachfolgenden Spiegelstriche, die die einbezogenen Mitglieder der Kernfamilie definieren, machen deutlich, dass es jeweils um eine Verbindung aus (insbesondere) zwei Personen, nämlich dem Schutzberechtigten einerseits und dem Ehegatten, Kind oder Elternteil bzw. verantwortlichen Erwachsenen andererseits geht. Die Annahme, dass der dritte Spiegelstrich das Bestehen einer "Kernfamilie" ohne den Stammberechtigten bereits im Herkunftsland zwingend voraussetzte, wäre bereits mit dem klaren Wortlaut der Regelung nicht vereinbar. Familienangehöriger ist danach ausdrücklich auch ein einzelner Elternteil oder ein anderweitig verantwortlicher Erwachsener. Eine Auslegung dahinstehend, dass alternativ eine derartige Kernfamilie zumindest ausreichend wäre, scheidet ebenfalls aus. Denn auch aus der unionsrechtlichen Perspektive ist ein flüchtlingsrechtlich einleuchtender Grund, an das Bestehen einer solchen Kernfamilie im Herkunftsstaat für den Familienangehörigen Vorteile zu knüpfen, die gerade den Familienverband zwischen ihm und dem minderjährigen Schutzberechtigten schützen, nicht ersichtlich.

25 Damit hat sich der Unionsgesetzgeber dazu entschieden, die spezifisch mit dem internationalen Schutz verbundene Verpflichtung zur Wahrung des Familienverbands auf familiäre Beziehungen zu beschränken, die bereits im Herkunftsstaat bestanden haben (ebenso Art. 2 Buchst. g VO (EU) 604/2013, Art. 2 Buchst. c RL 2013/33/EU). Dass sich die durch Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU vermittelten Rechte auf familiäre Beziehungen beschränkt, die bereits im Herkunftsland bestanden haben, lässt sich mittelbar Art. 23 Abs. 5 RL 2011/95/EU entnehmen. Danach können die Mitgliedstaaten entscheiden, dass dieser Artikel auch für andere enge Verwandte gilt, die zum Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftslandes innerhalb des Familienverbands lebten und zu diesem Zeitpunkt vollständig oder größtenteils von der Person, der internationaler Schutz gewährt worden ist, abhängig waren. Mit dieser Formulierung lässt der Unionsgesetzgeber erkennen, dass er auch bei den von Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU erfassten Familienangehörigen vom Bestehen eines Familienverbands zwischen der schutzberechtigten Person und dem Familienangehörigen bereits im Herkunftsstaat ausgeht (ebenso Generalanwalt J. Richard de la Tour, Schlussanträge vom 12. Mai 2021 - C-91/20 [ECLI:​​EU:​​C:​​2021:​​384] - juris Rn. 32). In diese Richtung kann der Erwägungsgrund 16 der Richtlinie gedeutet werden, in dem es heißt, dass der Unionsgesetzgeber die uneingeschränkte Wahrung der Rechte der "Asylsuchenden und d[er] sie begleitenden Familienangehörigen" sicherstellen muss (siehe auch Generalanwalt P. Pikamäe, Schlussanträge vom 30. September 2021 - C-483/20 [ECLI:​​EU:​​C:​​2021:​​780] - Rn. 39).

26 Dass im Hinblick auf den grundrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 7 GRC ein darüber hinausgehendes Bedürfnis bestehen kann, erst im Aufnahmemitgliedstaat entstandene familiäre Beziehungen aufenthaltsrechtlich zu schützen, konnte bei alledem nicht übersehen worden sein. Diesem Bedürfnis ist in Deutschland durch eine grundrechtskonforme Gestaltung und Anwendung des nationalen Aufenthaltsrechts und ggf. der Richtlinie 2003/86/EG über die Familienzusammenführung Rechnung zu tragen. Ob die nach Art. 23 Abs. 1 RL 2011/95/EU bestehende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Aufrechterhaltung des Familienverbands zu ermöglichen, einen weiteren persönlichen Anwendungsbereich als Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 Buchst. j 2011/95/EU hat (vgl. Generalanwalt G. Pitruzzella, Schlussanträge vom 20. April 2023 - C-374/22 [ECLI:​​EU:​​C:​​2023:​​318] - Rn. 78 ff.), kann hier offenbleiben. Denn eine daraus etwa folgende Verpflichtung wollte der nationale Gesetzgeber jedenfalls nicht mit der in § 26 AsylG vorgesehenen Zuerkennung eines Schutzstatus umsetzen. Nur diese ist hier aber Gegenstand des Verfahrens.

27 Kann und will Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU somit nicht in allen Fällen, in denen ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Beteiligten besteht oder dies sonst grundrechtlich geboten ist, den gemeinsamen Aufenthalt der Kernfamilie sichern, können auch das Wohl des Kindes und die weiteren in Art. 20 Abs. 3 und 5 sowie den Erwägungsgründen 18, 19 und 38 der Richtlinie 2011/95/EU genannten Erwägungen nicht dazu führen, Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU in einer Weise erweiternd auszulegen, die sich sachlich nicht rechtfertigen lässt (vgl. näher Generalanwalt G. Pitruzzella, Schlussanträge vom 20. April 2023 - C-374/22 - Rn. 34 ff.).

28 Die Schlussanträge mehrerer Generalanwälte beim Gerichtshof bestätigen dieses Auslegungsergebnis. In seinen Schlussanträgen zum Verfahren C-91/20 führte Generalanwalt J. Richard de la Tour unmissverständlich aus, der Unionsgesetzgeber beschränke den Vorteil der Wahrung des Familienverbands auf familiäre Bindungen, die die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in ihrem Herkunftsland vor der Gewährung dieses Schutzes geknüpft habe. Die Wahrung des Familienverbands nach Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU richte sich demzufolge an Familienangehörige, die mit der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in deren Herkunftsland zusammengelebt haben (Schlussanträge vom 12. Mai 2021 - C-91/20 - juris Rn. 52 bis 54). Daran anknüpfend hat Generalanwalt P. Pikamäe hervorgehoben, die Richtlinie 2011/95 schütze nur diejenigen familiären Bindungen, die bereits vor der Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat bestanden haben (Schlussanträge vom 30. September 2021 - C-483/20 - Rn. 39). Generalanwalt G. Pitruzzella teilt diese Sichtweise, wenn er in seinen Schlussanträgen vom 20. April 2023 - C-374/22 - Rn. 35 ausführt: "Das Verhältnis jedes Kindes zu seinen Eltern ist grundsätzlich stark durch eine Abhängigkeit gekennzeichnet, und dennoch hat das den Unionsgesetzgeber nicht daran gehindert, dieses Verhältnis gemäß Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 nur dann zu schützen, wenn es bereits vor der Ankunft im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaates begründet war." Die gemeinsame Aufenthaltsverlagerung aus dem Herkunftsstaat in den Aufnahmemitgliedstaat ist nach Auffassung des Generalanwalts eine entscheidende Voraussetzung für den Schutz des familiären Verhältnisses durch Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU (a. a. O. Rn. 60).

29 Ungeachtet dessen, dass die Frage, ob das Bestehen einer "Kernfamilie" ohne den Stammberechtigten im Herkunftsland ausreicht, in den bisher entschiedenen Verfahren nicht entscheidungserheblich war, spiegeln diese Äußerungen der Generalanwälte doch die dargelegte Interpretation des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU wider. Der Gerichtshof selbst hat sich zu dieser Frage zwar bisher mangels Entscheidungserheblichkeit nicht verhalten (vgl. EuGH, Urteil vom 9. November 2021 - C-91/20 - sowie die nach der Verkündung des vorliegenden Urteils ergangenen Urteile vom 23. November 2023 - C-374/22 - und - C-614/22 -). Die bisherigen Entscheidungen enthalten aber auch nichts, was gegen die obige Auslegung spräche. Ausdrücklich geklärt ist, dass Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU - wie aus dem klaren Wortlaut folgt - die Aufrechterhaltung der Kernfamilie im Aufnahmemitgliedstaat nicht umfassend gewährleistet. Denn die Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus diesen Regelungen erstreckt sich nicht auf Kinder einer international schutzberechtigten Person, die im Aufnahmemitgliedstaat einer Familie geboren wurde, die dort gegründet worden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 9. November 2021 - C-91/20 - Rn. 37). Aus der aktuellen Rechtsprechung ergibt sich zudem, dass das Bestehen der Familie bereits im Herkunftsland im Fall eines als Flüchtling anerkannten Kindes jedenfalls keine eheliche (oder sonstige) Lebensgemeinschaft der Eltern voraussetzt. Vielmehr stellt auch der Gerichtshof auf die familiäre Beziehung zwischen dem schutzberechtigten Kind und dem Elternteil ab (vgl. das nach Verkündung der vorliegenden Entscheidung ergangene Urteil des Gerichtshofs vom 23. November 2023 - C-614/22 - Rn. 8 f. und 25).

30 d) Eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedurfte es nicht. Zwar hat der Gerichtshof noch nicht ausdrücklich entschieden, dass der Elternteil eines schutzberechtigten Kindes mangels Bestehens der Familie schon im Herkunftsland von vornherein nicht Familienangehöriger im Sinne des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU sein kann, wenn das Kind erst im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist. Diese Auslegung des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU ist aber - unter Berücksichtigung bereits vorliegender Rechtsprechung des Gerichtshofs und der erwähnten Schlussanträge sowie unter Heranziehung der allgemein anerkannten Auslegungsregeln - derart offenkundig, dass an ihrer Richtigkeit kein vernünftiger Zweifel besteht (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021 - C-561/19 [ECLI:​​EU:​​C:​​2021:​​799] - NJW 2021, 3303 Rn. 39 ff., 49). Dass es in Deutschland auch einzelne Gerichte gibt, die bisher eine abweichende Auslegung des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU vertreten haben, steht der Annahme eines "acte clair" hier nicht entgegen. Der Senat hat sich mit der abweichenden Argumentation umfassend auseinandergesetzt und sieht diese als entkräftet an. Die Gefahr einer uneinheitlichen Auslegung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten ist nicht zu erkennen. Abweichende Rechtsprechung aus anderen Mitgliedstaaten ist nicht bekannt. Die vom belgischen Conseil d'Etat mit Vorabentscheidungsersuchen vom 18. Mai 2022 gestellten Vorlagefragen 1 und 2 (die der Gerichtshof in seinem nach Verkündung der vorliegenden Entscheidung ergangenen Urteil vom 23. November 2023 - C-374/22 - Rn. 24 mangels Entscheidungserheblichkeit als unzulässig erachtet hat) sind nicht Ausdruck einer abweichenden Rechtsüberzeugung, sondern eines sehr weiten Verständnisses der Vorlagepflicht.

31 2.2 Für die Kläger zu 3. und 4. begründet die Anerkennung ihrer minderjährigen Schwester als Flüchtling keinen Anspruch auf Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft, weil ihre familiäre Verbindung zu der Schwester nicht bereits im Herkunftsland bestanden hat.

32 Nach § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG gilt § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 4 AsylG für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen Asylberechtigten entsprechend. Gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG ist diese Regelung auf Geschwister von international Schutzberechtigten entsprechend anzuwenden. Zur Schaffung einer solchen Regelung war der Gesetzgeber unionsrechtlich nicht nur mit Blick auf die überschießende Rechtsfolge, sondern auch tatbestandlich nicht verpflichtet, da Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU Geschwister nicht begünstigt. Mit der Bezugnahme auf § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 4 AsylG hat der Gesetzgeber den Geschwisterschutz gleichwohl den gleichen Regelungen unterstellt wie den der Umsetzung von Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU dienenden Elternschutz. Insbesondere findet § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG entsprechende Anwendung, wonach die Familie bereits im Verfolgerstaat bestanden haben muss. Mit "Familie" ist im Rahmen dieser entsprechenden Anwendung die geschwisterliche Verbindung zu dem schutzberechtigten minderjährigen Kind gemeint. Alle oben zum Elternschutz nach § 26 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 5 AsylG gemachten Ausführungen gelten in diesem Zusammenhang entsprechend; auf sie wird zur weiteren Begründung Bezug genommen.

33 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 und 2 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.