Verfahrensinformation

Die Beteiligten, zwei örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe, streiten über die Erstattung von Kosten für Jugendhilfeleistungen in Höhe von ca. 330 000 €, die der Kläger, ein hessischer Landkreis, von Mai 2018 bis Februar 2020 für ein Kind erbracht hat. Zwischen ihnen steht dabei insbesondere im Streit, wer für die Erbringung der Jugendhilfeleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) örtlich zuständig war. Das Verwaltungsgericht hat die beklagte nordrhein-westfälische Stadt zur Kostenerstattung verurteilt. Es hat zur Begründung angeführt, der Kläger sei zwar ursprünglich zuständig gewesen (§ 86 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII). Die örtliche Zuständigkeit sei jedoch im Mai 2018 auf die Beklagte übergegangen. Dies folge aus § 86 Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII. Ausschlaggebend hierfür sei die gerichtliche Übertragung des bis dahin bestehenden alleinigen Sorgerechts der im Bezirk des Klägers wohnenden Mutter des Kindes auf das Jugendamt der Beklagten, welches das bei seinem Vater im Bezirk der Beklagten lebende Kind in Obhut genommen hatte. Die Regelung, wonach die bisherige Zuständigkeit bestehen bleibe (§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII), sei nicht einschlägig. Hiergegen richtet sich die vom Verwaltungsgericht zugelassene und mit Zustimmung des Klägers eingelegte Sprungrevision der Beklagten. Diese macht geltend, aufgrund des Umstands, dass mit dem Entzug des Sorgerechts der Mutter kein Elternteil mehr die Personensorge innegehabt habe, sei es bei der vorherigen Zuständigkeit des Klägers geblieben.


Verfahrensinformation

Die beteiligten Träger der öffentlichen Jugendhilfe streiten über die Erstattung von Jugendhilfekosten, welche die Klägerin in der Zeit von Mai 2017 bis April 2018 getragen hat. Klägerin ist die Landeshauptstadt Stuttgart, wo die Mutter des Hilfeempfängers zu Beginn der Leistung im Jahr 2007 lebte. Die Klägerin macht geltend, sie sei zwar ursprünglich zuständig gewesen. Die örtliche Zuständigkeit für den Jugendhilfefall sei jedoch nach den Regelungen des Sozialgesetzbuchs Achtes Buch (SGB VIII) im Jahr 2017 auf den beklagten bayerischen Landkreis übergegangen, so dass ihn die Erstattungspflicht für den streitigen Zeitraum treffe. Ihre Klage auf Erstattung von Jugendhilfekosten in Höhe von über 98 000 € hat das Verwaltungsgericht als unbegründet abgewiesen, weil der Beklagte für den Jugendhilfefall nicht zuständig geworden sei. Zwar sei nach der Ruhendstellung des Sorgerechts der Mutter seit 2012 im Mai 2017 auch das Ruhen des Sorgerechts des Vaters familiengerichtlich angeordnet worden. In Fällen, in denen die Eltern - wie hier - bereits vor Beginn der Leistung unterschiedliche Aufenthalte gehabt, aber nachträglich beide das Sorgerecht verloren hätten, sei jedoch die Regelung anzuwenden, wonach die Zuständigkeit des bis dahin örtlich zuständigen Jugendhilfeträgers bestehen bleibe (§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII). Es könne dahinstehen, ob dies derjenige Landkreis sei, in dem der Hilfeempfänger in Obhut genommen wurde, oder derjenige, in dessen Bereich der zunächst noch sorgeberechtigte Vater inhaftiert gewesen sei. Jedenfalls sei es nicht der Beklagte, in dessen Kreisgebiet die nicht mehr sorgeberechtigte Mutter lebe. Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin, die das Verwaltungsgericht mit Zustimmung der Beteiligten wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache als Sprungrevision zugelassen hat.


Pressemitteilung Nr. 24/2024 vom 25.04.2024

Örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers bei vollständigem Verlust des Sorgerechts der getrenntlebenden Eltern

Haben die Eltern eines Kindes zu Beginn und während einer Jugendhilfeleistung ihren jeweiligen gewöhnlichen Aufenthalt in Bezirken verschiedener Jugendhilfeträger und verlieren beide Elternteile das Personensorgerecht, richtet sich die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind vor Beginn der Hilfeleistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.


Der Kläger, ein hessischer Landkreis, begehrt von der beklagten nordrhein-westfälischen Stadt die Erstattung von Jugendhilfekosten in Höhe von etwa 330.000 €. Die Eltern des 2008 geborenen Kindes lebten seit 2012 getrennt. Das Kind verblieb beim Vater im Zuständigkeitsbezirk der beklagten Stadt. 2014 zog die Mutter in den Zuständigkeitsbereich des Klägers um. Nachdem das Familiengericht im Sommer 2017 dem Kindesvater die elterliche Sorge entzogen hatte, nahm das Jugendamt der Beklagten das Kind in Obhut und erbrachte Jugendhilfeleistungen in Form der Heimerziehung. Der Kläger übernahm den Hilfefall in seine Zuständigkeit, weil die zu diesem Zeitpunkt allein sorgeberechtigte Mutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Zuständigkeitsbereich hatte. Nachdem das Familiengericht im Mai 2018 auch der Mutter das Sorgerecht entzogen hatte, vertrat der Kläger gegenüber der Beklagten erfolglos die Auffassung, diese sei für den Hilfefall wieder zuständig geworden, weil die elterliche Sorge keinem Elternteil zustehe und das Kind vor Beginn der Jugendhilfeleistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt beim Vater gehabt habe, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich der Beklagten habe. Infolgedessen müsse die Beklagte die im Zeitraum von Mai 2018 bis Februar 2023 entstandenen Jugendhilfekosten erstatten. Das Verwaltungsgericht ist der Auffassung des Klägers gefolgt.


Die hiergegen von der Beklagten mit Zustimmung des Klägers eingelegte Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht blieb erfolglos. Die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers richtet sich in einem solchen Fall danach, wo derjenige Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, bei dem das Kind vor Beginn der Hilfeleistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (§ 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 des Achten Buchs des Sozialgesetzbuchs - SGB VIII). Nicht anwendbar ist die Regelung, die eine statische Zuständigkeit des bisherigen örtlichen Trägers vorsieht (§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII). Diese Vorschrift regelt zwar auch den Fall, dass keinem der Eltern die elterliche Sorge zusteht. Sie betrifft aber nur - wie sich im Wege der Auslegung ergibt - die in ihrem Satz 1 (§ 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII) geregelten Fälle, in denen die Eltern nach Beginn der Jugendhilfeleistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen. Nachdem der Gesetzgeber im Jahre 2013 die Zuständigkeitsnorm (§ 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII) mit Wirkung zum 1. Januar 2014 geändert und dort die Worte "in diesen Fällen" eingefügt hat, nimmt diese Regelung auch dann in vollem Umfang den vorhergehenden Satz 1 in Bezug, wenn keinem Elternteil das Sorgerecht zusteht. Die gegenteilige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII in der bis Ende 2013 geltenden Fassung, auf die sich die Beklagte beruft, ist auf die aktuelle Gesetzesfassung nicht übertragbar. Haben die Elternteile bereits bei Beginn und während einer Jugendhilfeleistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte und verliert wie hier auch der zweite Elternteil die Personensorge für das Kind, richtet sich die örtliche Zuständigkeit daher nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind vor Beginn der Hilfeleistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (§ 86 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII).


In einem ähnlich gelagerten Verfahren des Verwaltungsgerichts München hat das Bundesverwaltungsgericht die vorgenannte Rechtsfrage ebenso entschieden, aber die Entscheidung der Vorinstanz aufgehoben und die Sache zur weiteren Tatsachenaufklärung an diese zurückverwiesen.


BVerwG 5 C 3.23 - Urteil vom 25. April 2024

Vorinstanz:

VG Minden, VG 6 K 861/20 - Urteil vom 14. März 2023 -

BVerwG 5 C 12.22 - Urteil vom 25. April 2024

Vorinstanz:

VG München, VG M 18 K 18.2485 - Urteil vom 08. Juni 2022 -