Beschluss vom 02.06.2021 -
BVerwG 5 BN 1.21ECLI:DE:BVerwG:2021:020621B5BN1.21.0

Normenkontrollverfahren betreffend eine wohnungsrechtliche Zweckentfremdungssatzung

Leitsatz:

In Normenkontrollverfahren betreffend eine wohnungsrechtliche Zweckentfremdungssatzung kann von einer mündlichen Verhandlung regelmäßig nicht gem. § 47 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO abgesehen werden.

  • Rechtsquellen
    VwGO § 47 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2, § 132 Abs. 2 Nr. 3
    EMRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1

  • VGH München - 16.12.2020 - AZ: VGH 12 N 19.1179

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 02.06.2021 - 5 BN 1.21 - [ECLI:DE:BVerwG:2021:020621B5BN1.21.0]

Beschluss

BVerwG 5 BN 1.21

  • VGH München - 16.12.2020 - AZ: VGH 12 N 19.1179

In der Normenkontrollsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. Juni 2021
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen-Weiß und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Holtbrügge
beschlossen:

  1. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. Dezember 2020 wird aufgehoben.
  2. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe

1 Die (auch) auf § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde ist begründet. Der angefochtene Beschluss weist, wie die Beschwerde zu Recht geltend macht, einen Verfahrensmangel auf. Dieser besteht in der Nichtdurchführung der gebotenen mündlichen Verhandlung (1.), die auch nicht deshalb unterbleiben konnte, weil der Antrag wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses offensichtlich unzulässig ist (2.) oder über ihn sonst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden durfte (3.). Der angefochtene Beschluss beruht auch auf dem Verfahrensmangel (4.). Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück.

2 1. Die Beschwerde ist begründet, soweit sie mit der Verfahrensrüge geltend macht, der Verwaltungsgerichtshof hätte über den Normenkontrollantrag nicht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen. Der Beschluss des Normenkontrollgerichts verstößt gegen § 47 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK) vom 4. November 1950 in der Bekanntmachung der Neufassung vom 22. Oktober 2010 (BGBl. 2010 II S. 1198), nunmehr i.d.F. des Protokolls Nr. 15 vom 24. Juni 2013 (BGBl. 2014 II S. 1034), die innerstaatlich im Range eines Bundesgesetzes gilt. Das Normenkontrollgericht hätte aufgrund mündlicher Verhandlung über den Normenkontrollantrag des Antragstellers entscheiden müssen.

3 Nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Urteil oder, wenn es eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, durch Beschluss. Darüber, ob eine mündliche Verhandlung entbehrlich ist, entscheidet es nach richterlichem Ermessen. Dieses Verfahrensermessen wird jedoch durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK eingeschränkt (BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 - 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <205>). Danach hat jede Person einen Anspruch darauf, "dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird".

4 Nach der insoweit maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte richtet sich der Begriff der "zivilrechtlichen Ansprüche" nicht nach der innerstaatlichen Rechtswegzuweisung, sondern erfasst über rein privatrechtliche Ansprüche hinaus alle Verfahren, deren Ergebnis unmittelbare Auswirkungen auf zivilrechtliche Rechte und Pflichten haben kann. Das bezieht sich zwar nicht auf Verfahren aus dem Kernbereich des öffentlichen Rechts (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Juli 2019 - 1 B 58.19 - juris Rn. 11 m.w.N.), wohl aber u.a. auf Streitigkeiten, die nach deutschem Recht verwaltungsrechtlicher Natur sind, sich aber auf das Recht am Grundeigentum oder das Recht auf Unverletzlichkeit des Eigentums an Grundstücken auswirken (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 - 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <206> m.w.N.). Dementsprechend ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt, dass sich Entscheidungen über die Gültigkeit von Bebauungsplänen auf das Eigentum an im jeweiligen Plangebiet gelegenen Grundstücken auswirken und demzufolge über den Normenkontrollantrag eines hiervon betroffenen Eigentümers aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden ist (BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 - 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <206 ff.> und Beschluss vom 26. Februar 2008 - 4 BN 51.07 - Buchholz 140 Art. 6 EMRK Nr. 11 S. 2). Nichts anderes gilt in Bezug auf die Gültigkeit von Zweckentfremdungssatzungen nach Art. 1 Satz 1 des (bayerischen) Zweckentfremdungsgesetzes (ZwEWG) vom 10. Dezember 2007 (GVBl. S. 864), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. Juni 2017 (GVBl. S. 182), soweit sich der Wohnraum im räumlichen Geltungsbereich einer solchen Zweckentfremdungssatzung befindet. Ein in einer Zweckentfremdungssatzung enthaltenes repressives, nur mit einer Befreiungsmöglichkeit versehenes Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum beeinträchtigt die zum verfassungsrechtlichen Inhalt des Privateigentums gehörende grundsätzliche freie Verfügungsbefugnis über den Eigentumsgegenstand (BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 1975 - 2 BvL 5/74 - BVerfGE 38, 348 <370>). Ein solches Verbot liegt hier - wovon auch der Verwaltungsgerichtshof (BA S. 7) ausgeht - vor. Nach § 4 Abs. 1 der Zweckentfremdungsverbotssatzung (ZwEVS) der Stadt Nürnberg vom 27. Mai 2019 (ABl. S. 185) darf Wohnraum nur mit Genehmigung der Stadt anderen als Wohnzwecken zugeführt werden.

5 2. Die mündliche Verhandlung konnte nicht deshalb unterbleiben, weil sich der Normenkontrollantrag als offensichtlich unzulässig erweist. Über unstatthafte (BVerwG, Beschluss vom 12. November 2019 - 6 BN 2.19 - NVwZ-RR 2020, 236 Rn. 8) oder offensichtlich unzulässige (BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 - 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <215> und Beschluss vom 26. Februar 2008 - 4 BN 51.07 - Buchholz 140 Art. 6 EMRK Nr. 11 S. 2) Normenkontrollanträge braucht auch in Ansehung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nicht mündlich verhandelt zu werden. Der hier statthafte Antrag ist nicht offensichtlich unzulässig. Insbesondere fehlt ihm entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs nicht offensichtlich das erforderliche Rechtsschutzinteresse.

6 Im Ausgangspunkt zutreffend ist der Verwaltungsgerichtshof davon ausgegangen, dass einem Antrag auf gerichtlichen Rechtsschutz das Rechtsschutzbedürfnis u.a. dann fehlt, wenn der Antragsteller seine Rechtsstellung mit der begehrten gerichtlichen Entscheidung nicht verbessern kann und die Inanspruchnahme des Gerichts deshalb für ihn als nutzlos erscheint. Das Erfordernis des Rechtsschutzbedürfnisses soll verhindern, dass Gerichte in eine Normprüfung eintreten, deren Ergebnis für den Antragsteller wertlos ist, wobei nicht erforderlich ist, dass die begehrte Erklärung einer Norm als unwirksam unmittelbar zum eigentlichen Rechtsschutzziel führt (BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2020 - 4 CN 2.19 - NWVBl 2021, 149 Rn. 11 m.w.N.).

7 Unzutreffend ist allerdings die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, der Normenkontrollantrag biete dem Antragsteller derzeit keinen Nutzen im Sinne einer Verbesserung seiner Rechtsstellung. Dies leitet der Verwaltungsgerichtshof daraus ab, dass die derzeitige Nutzung der beiden im Eigentum des Antragstellers stehenden Dachgeschosswohnungen zu Zwecken der Fremdbeherbergung zumindest formell baurechtswidrig sei und auch keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass der Antragsteller eine Baugenehmigung für die Nutzung der Wohnungen als Ferienwohnungen beantragt habe oder in absehbarer Zeit beantragen werde. Die Nutzung der fraglichen Wohnungen als Ferienwohnungen bliebe daher nach wie vor - baurechtlich - illegal.

8 Für das Vorliegen des Rechtsschutzinteresses spielt es indes keine Rolle, ob die Fremdbeherbergung im Verhältnis zu der baurechtlich genehmigten Nutzung als Wohngebäude baurechtlich eine genehmigungsbedürftige Nutzungsänderung darstellt, ob eine entsprechende Genehmigung vorliegt oder zumindest beantragt ist und ob sie sich derzeit als (zumindest) formell illegal darstellt. Denn die Zweckentfremdungsverbotssatzung knüpft nicht an die derzeit aktuelle Nutzung oder eine baurechtlich genehmigte Nutzungsänderung, sondern daran an, dass es sich bei den fraglichen Räumlichkeiten um Wohnraum im Sinne von § 2 ZwEVS, also um Räumlichkeiten handelt, die objektiv zu Wohnzwecken geeignet und subjektiv hierzu bestimmt sind. Dass dies hier nicht der Fall und die Zweckentfremdungsverbotssatzung daher vorliegend gar nicht anwendbar sein könnte, ergibt sich weder aus dem angefochtenen Beschluss, noch ist sonst etwas hierfür erkennbar. Ist die Satzung aber anwendbar, unterliegt der Antragsteller der in § 11 Abs. 1 ZwEVS enthaltenen Auskunftspflicht (vgl. das diesbezügliche Auskunftsverlangen der Antragsgegnerin vom 23. Oktober 2020) sowie insbesondere dem in § 4 Abs. 1 ZwEVS genannten Genehmigungsvorbehalt, der in den in § 3 Abs. 1 ZwEVS genannten Fällen greift. Ohne Genehmigung ist ihm daher (unabhängig von einer Nutzung zur Fremdbeherbergung) etwa nicht gestattet, die Räumlichkeiten mehr als drei Monate leer stehen zu lassen (§ 3 Abs. 1 Nr. 4 ZwEVS).

9 Das Rechtsschutzbedürfnis kann dem Antrag auch nicht offensichtlich mit Blick darauf abgesprochen werden, dass hierfür ein allgemeines subjektives Interesse nicht ausreiche, sich durch den Normenkontrollantrag alle künftigen Entwicklungsmöglichkeiten offenzuhalten, weil die Satzung jedenfalls in künftigen, den Antragsteller betreffenden Fällen zur Anwendung kommen könne. Vielmehr hat das insoweit vom Verwaltungsgerichtshof in Bezug genommene Oberverwaltungsgericht des Saarlandes zwar die Antragsbefugnis eines Gewerbetreibenden, der nicht zugleich Grundstückseigentümer war, verneint, der sich durch den Normenkontrollantrag ganz allgemein alle künftigen Entwicklungsmöglichkeiten für den Gewerbebetrieb offenhalten wollte, zugleich aber das Rechtsschutzbedürfnis eines Grundstückseigentümers für die Durchführung des Normenkontrollverfahrens mit Blick auf nicht satzungskonforme künftige Nutzungsabsichten (zutreffend) ausdrücklich bejaht (Oberverwaltungsgericht Saarlouis, Urteil vom 12. Dezember 2012 - 2 C 320/11 - juris Rn. 22, 28).

10 Schließlich fehlt entgegen der Ansicht der Vorinstanz das Rechtsschutzbedürfnis auch nicht deshalb, weil der Antragsteller Popularklage zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof erheben könnte (Art. 98 S. 4 der Verfassung des Freistaates Bayern in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1998 <GVBl. S. 991, 992>, die zuletzt durch Gesetze vom 11. November 2013 <GVBl. S. 638, 639, 640, 641, 642> geändert worden ist, i.V.m. Art. 55 des Gesetzes über den Bayerischen Verfassungsgerichtshof <VfGHG> vom 10. Mai 1990 <GVBl. S. 122, 231>, das zuletzt durch Art. 73a Abs. 1 des Gesetzes vom 22. März 2018 <GVBl. S. 118> geändert worden ist) bzw. weil die Rechtmäßigkeit der Zweckentfremdungsverbotssatzung der Antragsgegnerin der Inzidentprüfung in jedem einzelnen Maßnahmeverfahren unterliegt. Diese Rechtsbehelfe stellen gegenüber dem Normenkontrollverfahren keinesfalls einfachere Rechtsschutzmöglichkeiten dar, abgesehen davon, dass sie auch eine andere Zielrichtung verfolgen.

11 3. Schließlich ist nicht erkennbar, dass die mündliche Verhandlung deshalb entbehrlich gewesen ist, weil die Rechtssache lediglich Rechts- oder Tatsachenfragen aufwirft, die sich unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen. Zwar verlangt Art. 6 Abs. 1 EMRK in einem derartigen Fall nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 12. November 2002 - Nr. 28394/95 - Döry/Schweden Rn. 37) und des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 26. Juli 2017 - C-348/16 [ECLI:​EU:​C:​2017:​591], Sacko - juris Rn. 47) nicht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30. Juli 2019 - 1 B 58.19 - juris Rn. 8). Dass diese Voraussetzungen hier vorliegen, ergibt sich jedoch weder aus dem angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs noch aus den Gründen seines Nichtabhilfebeschlusses vom 1. März 2021. Der Verwaltungsgerichtshof verweist nur abstrakt auf den oben genannten Ausnahmefall, befasst sich hinsichtlich der konkreten Umstände des Streitfalles aber ausschließlich mit den bereits behandelten Aspekten der Durchführung einer mündlichen Verhandlung u.a. im Lichte von Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie der Unzulässigkeit des Normenkontrollantrags wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses. Dass darüber hinaus andere Gesichtspunkte eine Entscheidung nach Aktenlage ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung rechtfertigen könnten, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

12 4. Das durch die Prozessordnung nicht gedeckte Absehen von einer mündlichen Verhandlung stellt einen absoluten Revisionsgrund dar (§ 138 Nr. 3 VwGO), ohne dass es darauf ankommt, was der Antragsteller in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hätte und ob dieses entscheidungserheblich gewesen wäre (BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 - 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <215>).