Beschluss vom 04.08.2005 -
BVerwG 4 B 42.05ECLI:DE:BVerwG:2005:040805B4B42.05.0

Beschluss

BVerwG 4 B 42.05

  • Niedersächsisches OVG - 13.04.2005 - AZ: OVG 9 LB 145/03

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. August 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w ,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. J a n n a s c h und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. P h i l i p p
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 13. April 2005 wird zurückgewiesen.
  2. Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.

Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Der Zulassungsgrund der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist nicht in der nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderlichen Weise dargelegt. Hierfür muss eine bestimmte, höchstrichterlich noch ungeklärte und für die Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts formuliert und außerdem angegeben werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328).
a) Die Beschwerde meint, dass die Rechtssache insofern von grundsätzlicher Bedeutung sei, als die entscheidende nachbarrelevante Auflage zur Baugenehmigung für die Errichtung einer Terrasse zur Außenbewirtschaftung mit dem höchstzulässigen Schallpegel an einen bloßen Zahlenwert (55 dB(A)) gebunden sei, mit dem allein niemand praktisch etwas anfangen könne. Mit dieser Rüge ist eine für die Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage schon deshalb nicht bezeichnet, weil die Beschwerde von tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, die das Oberverwaltungsgericht nicht festgestellt hat. Das Oberverwaltungsgericht ist auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen Dr. H. davon ausgegangen, dass der Richtwert von 55 dB(A) selbst bei ungünstigsten Emissionsansätzen und sogar bei freier Schallausbreitung mit erheblichen "Reserven" eingehalten werde (UA S. 4). Warum die Festlegung des Immissionsrichtwertes unter diesen Umständen für die Nachbarn ohne praktischen Nutzen und damit zu ihrem Schutz nicht ausreichend sein sollte, legt die Beschwerde nicht dar. Der Sache nach kritisiert sie die den Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO bindende Sachverhaltswürdigung des Oberverwaltungsgerichts, dass der Immissionsrichtwert sicher eingehalten werde. Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung lässt sich auf diese Weise nicht erreichen.
Ein Problem von grundsätzlicher Bedeutung sieht die Beschwerde weiter darin, dass das Oberverwaltungsgericht entgegen der Rüge der Kläger der Meinung der Gutachter folgend die TA-Lärm für anwendbar erklärt habe. Auch insoweit geht die Beschwerde von falschen Voraussetzungen aus; im Übrigen zeigt sie einen rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf nicht auf. Weder der Sachverständige Dr. H. noch ihm folgend das Oberverwaltungsgericht haben die TA-Lärm unmittelbar angewandt; sie haben sich zur Bestimmung der Zumutbarkeitsschwelle an dieses Regelwerk lediglich "angelehnt" (vgl. UA S. 4/5). Dies sei sachgerecht, weil ein explizit für "Biergärten" vorgegebener Beurteilungsmaßstab nicht zur Verfügung stehe und die aus einem Biergarten bzw. einer Außenbewirtschaftung emittierten Geräusche aus schalltechnischer Sicht typische Charakteristika von Gewerbelärm wie zeitliche Diskontinuität, Impulshaltigkeit und das Auftreten kurzzeitiger Geräuschspitzen aufwiesen. Die Regelungen der gegebenenfalls alternativ heranzuziehenden so genannten Freizeitlärmrichtlinie stimmten im Wesentlichen mit denen der TA-Lärm überein. Welche Rechtsfragen insoweit zu klären sein sollten, legt die Beschwerde nicht dar.
2. Die Verfahrensrügen greifen nicht durch.
a) Die Beschwerde macht zunächst geltend, dass das Berufungsgericht die Rüge fehlender Bestimmtheit der Nebenbestimmung übergangen und dadurch den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt habe. Insoweit liegt eine Verletzung rechtlichen Gehörs nicht vor. Ein Gericht ist nicht verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen ausdrücklich zu bescheiden. Nur dann, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass ein Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht nachgekommen ist, ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Mai 1999 - BVerwG 6 B 65.98 -
NVwZ-RR 1999, 745). Derartige Umstände sind hier nicht gegeben. Warum die Festlegung des Immissionsrichtwertes nicht hinreichend bestimmt und zu ihrem Schutz nicht ausreichend sein sollte, obwohl das vom Oberverwaltungsgericht eingeholte Sachverständigengutachten ergeben hatte, dass der Richtwert mit erheblichen "Reserven" eingehalten werde, haben die Kläger nicht dargelegt. Auch das Oberverwaltungsgericht musste hierauf in den Beschlussgründen nicht eingehen.
b) Die Beschwerde meint weiter, der Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör sei verletzt, weil sie mit ihrem Vorbringen, ihnen dürften die Gutachterkosten nicht auferlegt werden, weil diese nachgeholte Kosten des Verwaltungsverfahrens seien, nicht gehört worden seien. Insoweit ist die Beschwerde unzulässig. Nach § 158 Abs. 1 VwGO ist die Anfechtung der Entscheidung über die Kosten unzulässig, wenn nicht gegen die Entscheidung in der Hauptsache ein Rechtsmittel eingelegt wird. Etwaige Verfahrensfehler des Berufungsgerichts, die lediglich die Kostenentscheidung betreffen, fallen dementsprechend nicht unter § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 16. November 1992 - BVerwG 11 B 65.92 - Buchholz 310 § 158 VwGO Nr. 6 und vom 21. November 1996 - BVerwG 9 B 553.96 - juris). Im Übrigen wäre die Rüge auch unbegründet. Warum sich der Verwaltungsbehörde die Erforderlichkeit eines Sachverständigengutachtens hätte aufdrängen müssen, obwohl das Verwaltungsgericht seiner Einschätzung, dass der Immissionsrichtwert von 55 dB(A) eingehalten werde, ohne Beweisaufnahme gefolgt ist und auch das in der Berufungsinstanz eingeholte Sachverständigengutachten die Einschätzung der Behörde bestätigt hat, haben die Kläger nicht dargelegt. Auch das Oberverwaltungsgericht war deshalb nicht gehalten, den nicht weiter substantiierten Einwand gegen die Auferlegung der Gutachterkosten ausdrücklich zu bescheiden.
c) Die behaupteten Verstöße gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) sind nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt. Insoweit muss eine Beschwerde aufzeigen, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären; weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerde nicht. Sie sieht einen Verfahrensfehler zunächst darin, dass das Oberverwaltungsgericht dem Gutachten des Sachverständigen folgend die TA-Lärm für anwendbar erklärt habe, anstatt weitere Sachverhaltsaufklärung zu betreiben, den Gutachter zur Erläuterung des Gutachtens zu laden und eventuell ein Obergutachten einzuholen, letzteres mit dem Ziel, auch unabhängig von der TA-Lärm individuelle Feststellungen zu den zu erwartenden Lärmimmissionen und ihrer Zumutbarkeit zu treffen. Insoweit sind bereits die tatsächlichen Umstände, die hätten aufgeklärt werden sollen, nicht hinreichend bezeichnet. Da die Kläger im Berufungsverfahren Beweisanträge nicht gestellt haben, hätte die Beschwerde zudem darlegen müssen, warum sich dem Gericht von sich aus eine Beweisaufnahme hätte aufdrängen sollen und welche Feststellungen voraussichtlich getroffen worden wären. Auch daran fehlt es. Das gilt auch, soweit die Beschwerde rügt, dass das Oberverwaltungsgericht der Lärmvorbelastung des klägerischen Grundstücks sowie Schallreflexionen nicht weiter nachgegangen sei und das dem Gutachten zu Grunde liegende - von der Beschwerde im Übrigen nicht näher bezeichnete - Material nicht beigezogen habe.
d) Die Beschwerde macht als Verfahrensfehler schließlich geltend, das Oberverwaltungsgericht habe, indem es ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden habe, von dem ihm in § 130 a VwGO eingeräumten Ermessen fehlerhaft und in einer mit Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht vereinbaren Weise Gebrauch gemacht. Das trifft nicht zu.
Gemäß § 130 a VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beschwerde greift allein die Ermessensentscheidung des Oberverwaltungsgerichts an. Insoweit macht sie lediglich geltend, es entspreche nicht dem Sach- und Problem-stand, wenn das Gericht seine Erwägungen auf ein, wenn auch durch Beweisaufnahme aufgewertetes "Sekundärthema" beschränke. Damit ist ein Gesichtspunkt, der für die Erforderlichkeit einer öffentlichen mündlichen Verhandlung sprechen könnte, nicht aufgezeigt. Dass das Oberverwaltungsgericht den Vortrag der Kläger, die Festlegung eines Immissionsrichtwertes in der Baugenehmigung sei für ihren Schutz nicht ausreichend, nicht ausdrücklich bescheiden musste, wurde bereits dargelegt (vgl. oben 2.a).
Das Berufungsgericht hat durch die Entscheidung im Beschlusswege auch nicht gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen. Das Oberverwaltungsgericht ist bei Ausübung seines Ermessens nach § 130 a VwGO verpflichtet, Art. 6 Abs. 1 EMRK mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gefunden hat, vorrangig zu beachten (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 - BVerwG 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <210 ff.>; Beschluss vom 25. September 2003 - BVerwG 4 B 68.03 - Buchholz 140 Art. 6 EMRK Nr. 9 = NVwZ 2004, 108). Nach Art. 6 Abs. 1 EMRK hat jedermann einen Anspruch darauf, dass in Streitigkeiten über seine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist verhandelt wird. Auch verwaltungsrechtliche Baunachbarstreitigkeiten fallen in den Anwendungsbereich der Vorschrift (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. September 2003, a.a.O.).
Vorliegend hat im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Der Senat hat in seinen Beschlüssen vom 12. März 1999 - BVerwG 4 B 112.98 - (Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 35 = NVwZ 1999, 763) und vom 25. September 2003 - a.a.O. - offen gelassen, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK stets Genüge getan ist, wenn zwar im erstinstanzlichen Verfahren des Verwaltungsgerichts, nicht aber im Berufungsverfahren des Oberverwaltungsgerichts/ Verwaltungsgerichtshofs die Möglichkeit der mündlichen Verhandlung bestand. Dies kann auch im vorliegenden Fall unentschieden bleiben. Der EGMR hat mehrfach entschieden, dass nach Art. 6 Abs. 1 EMRK in Fällen einer erstinstanzlichen öffentlichen mündlichen Verhandlung nicht stets in der folgenden zweiten Instanz eine weitere öffentliche mündliche Verhandlung stattfinden müsse (vgl. EGMR, Urteil vom 18. Dezember 1983, EuGRZ 1985, 225, Rn. 28 - 32 - Fall Axen; Urteil vom 29. Oktober 1991, EuGRZ 1991, 420, Rn. 31 - Fall Fejde). Maßgebend sind vielmehr die festzustellenden Besonderheiten des jeweiligen Rechtsmittelverfahrens. Einschränkungen bestehen nicht nur, wenn im Rechtsmittelzug nur noch über Rechtsfragen zu entscheiden ist. Auch wenn in der Rechtsmittelinstanz über Tatsachen- und Rechtsfragen zu entscheiden ist, räumt Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht unabhängig von der Art der zu entscheidenden Fragen ein Recht auf eine öffentliche Verhandlung ein (vgl. EGMR, Urteile jeweils vom 29. Oktober 1991, EuGRZ 1991, 415, Rn. 36 - Fall Helmers, EuGRZ 1991, 419, Rn. 29 - Fall Andersson, EuGRZ 1991, 420, Rn. 33 - Fall Fejde; Urteil vom 21. September 1993, EuGRZ 1995, 537, Rn. 58 - Fall Kremzow). Auch in diesen Fällen kann eine öffentliche mündliche Verhandlung entbehrlich sein, wenn die Tatsachen- und die Rechtsfragen aufgrund der Aktenlage angemessen entschieden werden können (vgl. EGMR, Urteile vom 29. Oktober 1991, EuGRZ 1991, 419, Rn. 29 - Fall Andersson und EuGRZ 1991, 420, Rn. 33 - Fall Fejde; Schweizerisches Bundesgericht, Urteil vom 11. Juli 1997, EuGRZ 1998, 155 <158>; Peukert, in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 1996, Art. 6 Rn. 118). Diese Voraussetzung war im vorliegenden Fall nach Einholung des schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr. H. zu der Frage, ob eine Außenbewirtschaftung der Terrasse entsprechend der Baugenehmigung dazu führt, dass die für allgemeine Wohngebiete während der Tageszeit geltenden Immissionsrichtwerte im benachbarten Wohngebiet nicht mehr eingehalten werden, erfüllt. Die Frage, ob das Gutachten ohne ergänzende Ermittlungen verwertbar war oder ob das Oberverwaltungsgericht gemäß § 98 VwGO i.V.m. § 411 Abs. 3 ZPO das Erscheinen des Sachverständigen anordnen musste, damit er das schriftliche Gutachten erläutere, konnte das Gericht auf der Grundlage des vorliegenden Gutachtens und des schriftsätzlichen Vorbringens der Beteiligten beurteilen. Das gilt auch für die von der Beschwerde in diesem Zusammenhang erneut aufgeworfene Frage, ob der Gutachter sich bei der Bestimmung der Zumutbarkeit der Geräusche an der TA-Lärm orientieren durfte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertentscheidung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1, § 72 Nr. 1 GKG.