Verfahrensinformation

In einem Rechtsstreit wegen Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung hat das Berufungsgericht die Revision mit der Begründung zugelassen, es weiche mit der Annahme, auf vor dem 7. September 2001 eingereiste Spätaussiedler sei das Bundesvertriebenengesetz in der vor diesem Zeitpunkt geltenden Fassung anzuwenden, von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab.


Verfahrensinformation

In einem Rechtsstreit wegen Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung hat das Berufungsgericht die Revision mit der Begründung zugelassen, es weiche mit der Annahme, auf vor dem 7. September 2001 eingereiste Spätaussiedler sei das Bundesvertriebenengesetz in der vor diesem Zeitpunkt geltenden Fassung anzuwenden, von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab.


Urteil vom 04.09.2003 -
BVerwG 5 C 35.02ECLI:DE:BVerwG:2003:040903U5C35.02.0

Leitsatz:

Nach § 100 a BVFG, der die Anwendung des nach dem 7. September 2001 geltenden Rechts auch auf Anträge nach § 15 Abs. 1 BVFG bestimmt und sich erkennbar auf die Änderung des § 6 Abs. 2 BVFG durch das Spätaussiedlerstatusgesetz bezieht, ist - jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der gesetzlichen Anforderungen an die deutschen Sprachkenntnisse - für die Prüfung der Frage, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Ausstellung der Bescheinigung vorliegen, von § 6 Abs. 2 BVFG n.F. auszugehen (Bestätigung von BVerwGE 116, 114).

  • Rechtsquellen
    BVFG (F. 2001) § 6 Abs. 2, § 15 Abs. 1, § 100 a Abs. 1
    BVFG (F. 1993) § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2

  • OVG Lüneburg - 05.08.2002 - AZ: OVG 13 LB 1023/01 -
    Niedersächsisches OVG - 05.08.2002 - AZ: OVG 13 LB 1023/01

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 04.09.2003 - 5 C 35.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:040903U5C35.02.0]

Urteil

BVerwG 5 C 35.02

  • OVG Lüneburg - 05.08.2002 - AZ: OVG 13 LB 1023/01 -
  • Niedersächsisches OVG - 05.08.2002 - AZ: OVG 13 LB 1023/01

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 4. September 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l ,
Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 5. August 2002 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

I


Der 1961 in Tadschikistan geborene Kläger stammt von deutschen Eltern ab. Seine in Deutschland lebenden Eltern und Geschwister sind als Vertriebene bzw. Spätaussiedler anerkannt. 1993 reiste er mit seiner damaligen Ehefrau M.S., der Klägerin des Revisionsverfahrens BVerwG 5 C 40.02 , im Wege des Aufnahmeverfahrens in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seinen Antrag auf Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG lehnte der Landkreis H. mit Bescheid vom 31. Juli 1995 ab, weil der Kläger nicht glaubhaft gemacht habe, dass ihm die deutsche Sprache als Bestätigungsmerkmal vermittelt worden sei. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Das Berufungsgericht hat den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts geändert, die Verwaltungsentscheidungen aufgehoben und die Beklagte als Rechtsnachfolgerin des Landkreises H. verpflichtet, dem Kläger eine Spätaussiedlerbescheinigung auszustellen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Es sei maßgeblich auf das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) in der Fassung vom 2. Juni 1993 (BGBl I S. 829), also nicht auf die ab 7. September 2001 geltende Fassung des BVFG in der Fassung des Spätaussiedlerstatusgesetzes vom 30. August 2001 (BGBl I S. 2266, nachfolgend: BVFG F. 2001) abzustellen. Der gegenteiligen Ansicht des Beklagten und des Bundesverwaltungsgerichts sei nicht zu folgen. Der Kläger, der unmittelbar nach seiner Einreise im September 1993 einen Antrag auf Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BVFG gestellt habe, erfülle die äußeren Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 BVFG. Für die Frage, ob eine so ausgesiedelte Person tatsächlich Spätaussiedler i.S. des BVFG sei, sei auf das zum Zeitpunkt der Ausreise und Aufenthaltnahme geltende Recht abzustellen. Denn eine Spätaussiedlerbescheinigung stelle lediglich (nachträglich) fest, dass die betreffende Person als "Spätaussiedler" in das Bundesgebiet gekommen sei, wenn und weil sie zu diesem Zeitpunkt deutscher Volkszugehöriger gewesen sei. Die Frage der Volkszugehörigkeit bestimme sich hier deswegen nach § 6 Abs. 2 BVFG (F. 1993), da sie Tatbestandsmerkmal eines abgeschlossenen Vorganges sei.
Entgegen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 116, 114) sei § 6 Abs. 2 BVFG (F. 2001) auch nicht nach § 100 a BVFG (F. 2001) anzuwenden. Bereits aus der Entstehungsgeschichte ergebe sich, dass sich diese Regelung nur auf Anträge solcher Personen beziehe, die sich noch im Aussiedlungsgebiet befänden, nicht indes auf Anträge solcher Personen, die bei In-Kraft-Treten des Gesetzes bereits ausgesiedelt seien. Eine weitergehende Rückwirkung der durch die Neufassung des § 6 Abs. 2 BVFG vorgenommenen Verschärfung hinsichtlich der Voraussetzungen einer Anerkennung als Spätaussiedler sei als echte Rückwirkung aus verfassungsrechtlichen Gründen ausgeschlossen. Bei der Beurteilung der Rückwirkungsfrage habe das Bundesverwaltungsgericht nicht hinreichend berücksichtigt, dass nach § 4 BVFG der Tatbestand der "Spätaussiedlung" mit der "Wohnsitznahme" im Bundesgebiet vollendet (gewesen) sei. Die Bescheinigung nach § 15 BVFG habe keine konstitutive, sondern nur bestätigende Wirkung, wobei der zu bestätigende Status als Spätaussiedler bei Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 4, 6 BVFG mit der Aufnahme in das Bundesgebiet entstehe. Für die Entstehung des Status sei die später vorgenommene Änderung des § 6 BVFG nicht anzuwenden. Für den Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft sei nach § 4 BVFG grundsätzlich der Zeitpunkt maßgeblich, in dem der Einreisende in Deutschland seinen ständigen Aufenthalt nehme (so auch BVerwGE 116, 119). Die im Hinblick auf § 6 BVFG (F. 2001) gemachte Ausnahme von diesem Grundsatz sei nicht schlüssig. Sie bewirke eine verfassungsrechtlich unzulässige echte Rückwirkung. Soweit das Bundesverwaltungsgericht lediglich von einer zulässigen unechten Rückwirkung ausgehe, werde vernachlässigt, dass die Gesetzesänderung sich nicht auf eine Änderung in der Bewertung des Bestätigungsmerkmals "Sprache" beschränke, sondern sie auch die Bestätigungsmerkmale Erziehung und Kultur betreffe. Selbst unter dem Gesichtspunkt der Anforderungen an die deutschen Sprachkenntnisse führe das Gesetz bereits deswegen zu einer Schlechterstellung gegenüber der vorher geltenden Rechtslage, weil nunmehr ein ganz bestimmter Nachweis dieses einen Bestätigungsmerkmales vorgeschrieben werde. Für die Verletzung eines (schutzwürdigen) Vertrauens sei daher auch nicht allein auf die kurze Zeitspanne zwischen den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2000 und dem Erlass des Spätaussiedlerstatusgesetzes abzustellen, sondern insbesondere auch auf die lange Jahre vorher bestehende Gesetzeslage, nach der gerade nicht darauf abgestellt worden sei, dass der Aussiedler "ein einfaches Gespräch auf Deutsch" habe führen können. Da nach dem BVFG (F. 1993) das Bestätigungsmerkmal "Sprache" nur eines von mehreren und zudem nicht vorgeschrieben gewesen sei, in welchem Falle es vorgelegen habe, sei für die Frage, worauf ein vor der Gesetzesänderung in das Bundesgebiet ausgereister Aussiedler vertrauen könne, auf die Rechtslage im Zeitpunkt der Aussiedlung abzustellen. Nach diesen Grundsätzen sei der Kläger als deutscher Volkszugehöriger anzusehen, so dass er einen Anspruch auf Ausstellung der Spätaussiedlerbescheinigung habe. Nach § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG (F. 1993), der hiernach anzuwenden sei, komme es nur darauf an, ob dem Kläger als Kind hinreichende Sprachkenntnisse vermittelt worden seien. Dies sei hier der Fall. Da § 6 Abs. 2 BVFG (F. 2001) nicht anzuwenden sei, sei der hilfsweise zum Nachweis hinreichender Sprachkenntnisse auch im Zeitpunkt der Einreise angebotene Beweis nicht zu erheben.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten mit der Rüge der Verletzung von § 15 Abs. 1, § 4 Abs. 1 BVFG, § 6 Abs. 2 BVFG (F. 2001) und dem Begehren, das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil.

II


Die Revision der Beklagten ist begründet, denn das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Es ist daher aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO), denn zu einer Entscheidung in der Sache sind noch tatsächliche Ermittlungen erforderlich.
Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, Anträge auf Spätaussiedlerbescheinigungen von Personen, die vor In-Kraft-Treten des Spätaussiedlerstatusgesetzes im Wege des Aufnahmeverfahrens eingereist sind, seien auch unter dem Gesichtspunkt der gesetzlichen Anforderungen an die deutschen Sprachkenntnisse noch nach § 6 Abs. 2 BVFG in seiner vor dem In-Kraft-Treten des Spätaussiedlerstatusgesetzes geltenden Fassung zu bescheiden, ist mit Bundesrecht nicht vereinbar. Zwar trifft es zu, dass für den Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft nach § 4 BVFG grundsätzlich der Zeitpunkt maßgeblich ist, in dem der Einreisende in Deutschland seinen ständigen Aufenthalt nimmt (BVerwGE 116, 119). Nach § 100 a BVFG, der die Anwendung des nach dem 7. September 2001 geltenden Rechts auch auf Anträge nach § 15 Abs. 1 BVFG bestimmt und sich dabei erkennbar auf die Änderung des § 6 Abs. 2 BVFG durch das Spätaussiedlerstatusgesetz bezieht, ist aber - jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der gesetzlichen Anforderungen an die deutschen Sprachkenntnisse - für die Prüfung der Frage, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Ausstellung der Bescheinigung vorliegen, von § 6 Abs. 2 BVFG n.F. auszugehen (BVerwGE 116, 114 <116>). Hierzu wie auch zu der vom Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung dargelegten verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der auf die Sprachanforderung bezogenen Rückwirkung hat das Berufungsgericht keinen neuen Gesichtspunkt angeführt, der eine Änderung der Rechtsprechung des erkennenden Senats rechtfertigen könnte.
Zu tatsächlichen Feststellungen zur Frage, ob der Kläger im Zeitpunkt der Aussiedlung aufgrund familiärer Vermittlung zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen konnte, ist die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen. Zwar hat das Berufungsgericht im Rahmen der Rückwirkungsproblematik für den Fall einer Anwendung des § 6 Abs. 2 BVFG (F. 2001) ausgeführt, dass "nicht festgestellt werden könnte, dass er (der Kläger) im Zeitpunkt der Aussiedlung aufgrund dieser (familiären) Vermittlung zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen konnte". Doch bezieht sich diese Aussage lediglich auf eine fiktive Anwendung des § 6 Abs. 2 BVFG (F. 2001). Tatsächliche Feststellungen im Rahmen einer konkreten Anwendung des § 6 Abs. 2 BVFG (F. 2001) hat das Berufungsgericht dagegen nicht getroffen. Vielmehr hat es den vom Kläger beantragten, auf die konkrete Anwendbarkeit des § 6 Abs. 2 BVFG (F. 2001) bezogenen Beweisantrag dahin, "dass der Kläger sich im Zeitpunkt seiner Einreise in einfacher Form auf Deutsch verständigen konnte", mit der Begründung nicht erhoben, § 6 Abs. 2 BVFG (F. 2001) sei nicht anwendbar. Dieser Frage wird das Berufungsgericht nunmehr nachzugehen haben.
Ob verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit auch für die rückwirkende Streichung der weiteren Bestätigungsmerkmale "Erziehung, Kultur", die der Kläger im Berufungsverfahren sinngemäß für sich in Anspruch genommen hat, angenommen werden kann, weil eine Vermittlung dieser Bestätigungsmerkmale ohne die gleichzeitige Vermittlung der deutschen Sprache zwar nicht rechtlich, wohl aber praktisch ausgeschlossen war (vgl. BVerwGE 102, 214 <221>), bedarf auch im vorliegenden Revisionsverfahren keiner Entscheidung (offen gelassen bereits in BVerwGE 116, 114 <118>). Diese Frage stellte sich nur, wenn feststünde, dass die Eltern, ein Elternteil oder andere Verwandte dem Kläger deutsche Erziehung oder deutsche Kultur ausnahmsweise auch ohne Sprachvermittlung in einer den Anforderungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG (F. 1993) genügenden Weise vermittelt haben. Hierfür liegen im Berufungsurteil ungeachtet der Bezugnahme auf den Prozesskostenhilfebeschluss hinreichende tatsächliche Feststellungen nicht vor.
Da mit der Zurückverweisung an das Oberverwaltungsgericht über den Hauptantrag des Klägers noch nicht in der Sache selbst entschieden ist, ist über den hilfsweise gestellten Fortsetzungsfeststellungsantrag derzeit nicht zu entscheiden.