Beschluss vom 04.11.2025 -
BVerwG 1 C 35.25ECLI:DE:BVerwG:2025:041125B1C35.25.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 04.11.2025 - 1 C 35.25 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:041125B1C35.25.0]

Beschluss

BVerwG 1 C 35.25

  • VG Berlin - 12.03.2020 - AZ: 24 K 322.19
  • OVG Berlin-Brandenburg - 16.01.2024 - AZ: 11 B 9/20

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 4. November 2025 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und Böhmann beschlossen:

  1. Die Anhörungsrüge des Klägers gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Juli 2025 - BVerwG 1 C 2.24 - wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Rügeverfahrens.

Gründe

1 Die Anhörungsrüge des Klägers hat keinen Erfolg. Er zeigt das Vorliegen einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Sinne von § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO schon nicht in einer den Anforderungen des § 152a Abs. 2 Satz 6 VwGO genügenden Weise auf.

2 1. Im gerichtlichen Verfahren gewährleisten Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO den Beteiligten das Recht, sich vor einer Entscheidung zu allen erheblichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen zu äußern. Das Gericht muss nach seiner Rechtsauffassung rechtlich erhebliches Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen. Eine Verletzung dieser Pflicht ist nicht schon anzunehmen, wenn eine Entscheidung, namentlich eine letztinstanzliche, nicht auf jedes Element eines sehr umfangreichen Vortrags eingeht, sondern erst, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen ergibt, dass nach der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserhebliches Vorbringen übergangen wurde. Davon ist auszugehen, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Beteiligtenvorbringens zu einer Frage, die nach seiner eigenen Rechtsauffassung für den Prozessausgang von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht eingeht (stRspr, vgl. BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205 <216 f.>; BVerwG, Urteil vom 31. Juli 2002 - 8 C 37.01 - Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 35 S. 109, jeweils m. w. N.).

3 2. Dies ist der Begründung der Anhörungsrüge nicht zu entnehmen.

4 2.1 Der Kläger rügt, das angegriffene Urteil habe seinen Vortrag nicht hinreichend gehört und gewürdigt und es habe sich nicht mit den wesentlichen Argumenten der Vorinstanz in Bezug auf das Tatbestandsmerkmal des fünfjährigen Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bzw. deren Verlängerung für (volljährige) Kinder eines Ausländers nach § 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG auseinandergesetzt. Das nach der Rechtsauffassung des Senats maßgebliche Abstellen auf den Zeitpunkt der Berufungsentscheidung für das Vorliegen der Erteilungsvoraussetzungen führe im Fall, dass die Ausländerbehörde nicht entscheide, dazu, dass der Betroffene bei rechtzeitiger Stellung eines Verlängerungsantrages und selbst bei Erteilung einer Fiktionsbescheinigung zu diesem Zeitpunkt niemals im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sein und er deshalb seinen Verlängerungsanspruch nie einklagen könne.

5 2.2 Dieses Vorbringen hat der Senat zur Kenntnis genommen und dazu ausgeführt, dass das Berufungsgericht bei der Beurteilung des geltend gemachten Verlängerungsanspruchs die Grundsätze fehlerhaft angewandt hat, die im Hinblick auf die Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage, insbesondere im Falle der fiktiven Fortgeltung einer Aufenthaltserlaubnis, gelten. Um zu vermeiden, dass der Ausländer allein dadurch Nachteile erleidet, dass die Behörde nicht schon bei Ablauf der zuletzt innegehabten Aufenthaltserlaubnis über seinen Verlängerungsantrag entschieden hat, ist in einem auf Verlängerung für die Zukunft gerichteten Verfahren bei rechtzeitig gestelltem Verlängerungsantrag auch ohne besonderen Antrag inzident zu prüfen, ob die Aufenthaltserlaubnis vom Ablaufzeitpunkt bis zum Entscheidungszeitpunkt rückwirkend, also für die Vergangenheit, zu verlängern wäre. Ein solcher rückwirkender Verlängerungsanspruch stünde ebenfalls dem aktuellen Besitz der Aufenthaltserlaubnis gleich und wäre auch bei der erforderlichen Titelbesitzzeit zu berücksichtigen. Hieran hat der Ausländer ein schutzwürdiges Interesse, wenn er sich zur Begründung seines Anspruchs auf eine Vorschrift beruft, die den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis voraussetzt. Diese Frage ist anhand der Sach- und Rechtslage im gesamten Zeitraum der erforderlichen rückwirkenden Verlängerung zu beurteilen (UA S. 15 f., Rn. 33 - 35).

6 Damit hat der Senat in der Sache anders entschieden, als es der Kläger für richtig hält. Wie sich aus § 152a Abs. 1 Satz 1 VwGO eindeutig ergibt, stellt die Anhörungsrüge kein Mittel dar, um darauf hinzuwirken, dass das Gericht die rechtlichen Erwägungen überdenkt, die seine Entscheidung tragen (BVerwG, Beschluss vom 23. März 2021 - 1 B 19.21 - juris Rn. 4). Art. 103 Abs. 1 GG vermittelt einem Verfahrensbeteiligten keinen Anspruch darauf, dass das Gericht seiner Rechtsauffassung folgt.

7 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.