Beschluss vom 05.05.2003 -
BVerwG 1 B 234.02ECLI:DE:BVerwG:2003:050503B1B234.02.0

Beschluss

BVerwG 1 B 234.02

  • VGH Baden-Württemberg - 19.03.2002 - AZ: VGH A 6 S 150/01

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 5. Mai 2003
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts
E c k e r t z - H ö f e r , die Richterin am Bundes-
verwaltungsgericht B e c k und den Richter am
Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 19. März 2002 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die allein auf den Revisionszulassungsgrund der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) gestützte Beschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg.
Die Beschwerde rügt eine Abweichung von dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85, 515/89, 1827/89 - InfAuslR 1991, 200 = BVerfGE 83, 216. Das Bundesverfassungsgericht habe in dieser Entscheidung den allgemeinen Rechtssatz aufgestellt, dass die gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung für einen Gruppenangehörigen aus dem Schicksal anderer Gruppenmitglieder möglicherweise auch dann herzuleiten sei, wenn diese Referenzfälle es noch nicht rechtfertigten, vom Typus einer gruppengerichteten Verfolgung auszugehen. Das Berufungsgericht habe zwar diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zitiert, den erwähnten Rechtssatz aber bewusst außer Acht gelassen und stattdessen die dazu in Widerspruch stehenden Maßstäbe aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 zugrunde gelegt, die für eine alle Gruppenmitglieder erfassende gruppengerichtete Verfolgung eine bestimmte Verfolgungsdichte oder ein staatliches Verfolgungsprogramm voraussetzten. Diese Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts berücksichtige nicht, dass die unmittelbare Betroffenheit des Einzelnen durch gerade auf ihn zielende Verfolgungsmaßnahmen ebenso wie die Gruppengerichtetheit der Verfolgung nur Eckpunkte eines durch fließende Übergänge gekennzeichneten Erscheinungsbildes politischer Verfolgung darstellten. Auch den Fällen im Übergangsbereich zwischen anlassgeprägter Einzelverfolgung und gruppengerichteter Kollektivverfolgung müsse nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts aber Rechnung getragen werden.
Mit diesem Vorbringen wird eine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht aufgezeigt. Denn die Beschwerde benennt keinen Rechtssatz der berufungsgerichtlichen Entscheidung, der zu dem von ihr genannten Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts in Widerspruch steht. Die von der Beschwerde erwähnten Ausführungen zur Verfolgungsdichte und zum Verfolgungsprogramm beziehen sich nur auf eine alle Gruppenmitglieder erfassende gruppengerichtete Verfolgung, schließen es aber nicht aus, dass die Zugehörigkeit des Betroffenen zu einer dem Verfolger missliebigen Gruppe im Rahmen der "Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit" berücksichtigt wird (vgl. zu dieser Abgrenzung Beschluss vom 22. Februar 1996 - BVerwG 9 B 14.96 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 184 = AuAS 1996, 154 m.w.N.). Eine solche Einzelverfolgung hat das Berufungsgericht im Falle der Klägerin ebenfalls geprüft und verneint. Entgegen der Ansicht der Beschwerde stehen die vom Bundesverwaltungsgericht zur Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze, an die auch das Berufungsgericht anknüpft, mit der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere dem von der Beschwerde genannten grundlegenden Beschluss vom 23. Januar 1991 (BVerfGE 83, 216) in Einklang (vgl. hierzu Urteile vom 30. April 1996 - BVerwG 9 C 171.95 - BVerwGE 101, 134, 139 ff. und vom 23. Juli 1991 - BVerwG 9 C 154.90 - BVerwGE 88, 367).
Auch die von der Beschwerde erhobene weitere Divergenzrüge greift nicht durch. Die Beschwerde meint, das Berufungsgericht habe sich auf den allgemeinen Rechtsstandpunkt gestellt, dass Maßnahmen jedenfalls dann nicht politische Verfolgung seien, wenn sie sich nicht allein gegen die ethnische Volkszugehörigkeit richteten. Demgegenüber habe das Bundesverfassungsgericht in den Entscheidungen BVerfGE 80, 315 ff. (348) sowie BVerfGE 81, 142 ff. (151) ausdrücklich den Rechtsstandpunkt eingenommen, dass die Asylerheblichkeit einer Verfolgungsmaßnahme nicht dadurch in Frage gestellt sei, dass der Verfolger mit ihr weitere Zwecke verfolge, die an sich asylneutral seien. Wenn das Berufungsgericht der Auffassung sei, dass sich die Maßnahmen chinesischer Stellen jedenfalls auch gegen die ethnische Volkszugehörigkeit der Tibeter richteten, ihre Zielrichtung aber zunächst die wirtschaftliche Erschließung Tibets für die wachsende Bevölkerung Chinas sei, schließe dies gerade nicht die Annahme einer politischen Verfolgung in Anknüpfung an die ethnische Volkszugehörigkeit der Tibeter aus.
Mit diesem Vorbringen ist eine Divergenz schon deshalb nicht aufgezeigt, weil das Berufungsgericht mit seinen von der Beschwerde in Bezug genommenen Ausführungen (UA S. 18 oben) einen Rechtssatz des behaupteten Inhalts gar nicht aufgestellt hat. Diese Ausführungen beziehen sich nämlich nicht wie der genannte Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts auf die Frage, ob eine Verfolgungsmaßnahme asylerheblich und als politische Verfolgung anzusehen ist, sondern auf die hiervon zu unterscheidende Frage, ob aus den gegen andere tibetische Volkszugehörige gerichteten - asylerheblichen - Übergriffen des chinesischen Staates eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Gefahr solcher Übergriffe auch für die Klägerin herzuleiten ist. Sie betreffen also die Frage einer allein an die tibetische Volkszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten Verfolgung. Im Rahmen dieser Prognoseentscheidung ist es - anders als bei der Frage der Asylerheblichkeit einer drohenden Verfolgungsmaßnahme - durchaus zulässig und geboten, zum Zweck der Bestimmung der betroffenen Gruppe oder zur Prüfung eines staatlichen Verfolgungsprogramms darauf abzustellen, ob die Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Dritten allein an deren Volkszugehörigkeit anknüpfen oder ob für die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Indizien hinzutreten müssen (vgl. Urteil vom 30. April 1996, a.a.O, BVerwGE 101, 134, 140 f.). Wenn das Berufungsgericht aufgrund seiner Würdigung der Auskunftslage zu dem Ergebnis gelangt, dass der chinesische Staat nach wie vor die Tibeter unterdrückt, die sich in Tibet offen zum tibetischen Buddhismus bekennen und/oder - etwa in gewaltfreien Demonstrationen - mehr Freiheit für Tibeter in der von China so genannten Autonomen Region Tibet verlangen, eine systematische Verfolgung von Tibetern, die nicht zu diesem Personenkreis gehören, allein aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit aber verneint (UA S. 17 f.), steht dies nicht in Widerspruch zu den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen zur Asylerheblichkeit von Verfolgungsmaßnahmen. Denn das Berufungsgericht verneint damit nicht die Asylerheblichkeit der gegen einen tibetischen Volkszugehörigen gerichteten Verfolgungsmaßnahme, sondern die Gefahr, dass die Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer derartigen Maßnahme betroffen wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG.