Beschluss vom 05.05.2025 -
BVerwG 9 B 53.24ECLI:DE:BVerwG:2025:050525B9B53.24.0

Beschluss

BVerwG 9 B 53.24

  • VG Saarlouis - 09.07.2021 - AZ: 3 K 219/20
  • OVG Saarlouis - 18.06.2024 - AZ: 1 A 27/23


In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts


am 5. Mai 2025


durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Bick, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Sieveking und


den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Plog


beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 18. Juni 2024 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3 100,80 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Die Klägerin wendet sich gegen ihre Heranziehung zur Vorauszahlung auf einen Straßenausbaubeitrag.

2 Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab. Es führte u. a. aus: Zwar treffe es zu, dass die *technische * Fertigstellung der Anlage - unstreitig - bereits im Jahre 2011 erfolgt sei. Die sachliche Beitragspflicht entstehe aber gem. § 8 Abs. 7 Satz 1 KAG SL erst mit der endgültigen Herstellung der öffentlichen Einrichtung. Zwar knüpfe dieser Begriff in der Regel an die durch die Baumaßnahme markierte technische Verwirklichung des Bauprogramms an. Ein weiterer Aufschub der endgültigen Herstellung nach diesem Zeitpunkt komme aber in Betracht, wenn zusätzlich der Grunderwerb als Herstellungsmerkmal gelten solle. Im vorliegenden Fall ergebe sich dies "zwanglos" aus den §§ 2 Abs. 1, 6 Abs. 1, 7 der einschlägigen Straßenausbaubeitragssatzung vom 14. Dezember 1988 i. V. m. den zwischen dem Beklagten und dem Landesamt für Straßenwesen getroffenen Vereinbarungen. Nach Aktenlage fehle es jedoch am Grunderwerb. Verzögere die Gemeinde - durch welches Verhalten auch immer - das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht, habe dies grundsätzlich keine weitergehenden Folgen, denn die Gemeinde müsse nicht auf eine Beschleunigung des Entstehens der sachlichen Beitragspflicht hinwirken.

3 Die Klägerin hielt in ihrer vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Berufung daran fest, der Beklagte könne sich nicht auf den noch ausstehenden Erwerb von Grundstücken berufen. Die in Rede stehende Erschließungsanlage sei bereits im Juli 2011 abgeschlossen gewesen; der Beklagte habe erstmals im Jahr 2020 Tätigkeiten zum Grundstückserwerb entfaltet, als das Klageverfahren schon anhängig gewesen sei.

4 Die Berichterstatterin am Oberverwaltungsgericht hörte die Beteiligten mit Schreiben vom 24. April 2024 zu einer Entscheidung durch Beschluss gem. § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO an. Der Senat habe die Erfolgsaussichten der Sache beraten. Er halte die Berufung einstimmig für begründet und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung für nicht erforderlich. Entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts ergebe sich weder aus der Straßenausbaubeitragssatzung noch aus dem Bauprogramm, dass der Grunderwerb zum Herstellungsmerkmal bestimmt worden sei. Dies wird auf etwa zwei Seiten - unterlegt mit zahlreichen Fußnoten - näher ausgeführt. Die Beteiligten erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme bis spätestens 21. Mai 2024.

5 Die Klägerin erklärte sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden. Der Beklagte hielt in zwei Schriftsätzen (vom 14. Mai und - nach gewährter Fristverlängerung - vom 3. Juni 2024) daran fest, der Grunderwerb sei - wie vom Verwaltungsgericht angenommen - Herstellungsmerkmal gewesen, und legte hierzu weitere Unterlagen vor; zur Frage der Beschlussfassung nach § 130a VwGO äußerte er sich nicht.

6 Mit Beschluss vom 18. Juni 2024 hob das Oberverwaltungsgericht den angefochtenen Beitragsbescheid unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts im vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130a VwGO auf. Zur Begründung wiederholte es seine Einschätzung aus dem Anhörungsschreiben vom 24. April 2024 und führte ergänzend aus, warum auch die in den weiteren Schriftsätzen des Beklagten geltend gemachten Umstände hieran nichts änderten.

II

7 1. Die allein auf das Vorliegen eines Verfahrensmangels nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde des Beklagten hat keinen Erfolg. Die Rüge, das Berufungsgericht habe ermessensfehlerhaft nach § 130a VwGO durch Beschluss entschieden, greift nicht durch.

8 Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Entscheidung darüber, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden wird, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts. Sie kann nur daraufhin überprüft werden, ob das Oberverwaltungsgericht von seinem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat, und ist seitens des Revisionsgerichts nur zu beanstanden, wenn sie auf sachfremden Erwägungen oder einer groben Fehleinschätzung beruht. Bei der Ausübung seines Ermessens hat das Berufungsgericht insbesondere die Komplexität und Schwierigkeit des Rechtsstreits in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht sowie die Bedeutung der mündlichen Verhandlung im Lichte von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu beachten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. März 2017 - 9 B 22.16 - juris Rn. 12 f. m. w. N. auch zur Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK auf verwaltungsrechtliche Verfahren wegen kommunaler Beiträge). Hat wie hier in erster Instanz eine öffentliche mündliche Verhandlung stattgefunden, muss im Berufungsverfahren nicht stets erneut mündlich verhandelt werden. Eine (weitere) mündliche Verhandlung kann entbehrlich sein, wenn die Tatsachen- und Rechtsfragen aufgrund der Aktenlage sachgerecht entschieden werden können. Umgekehrt entfaltet das Gebot, die Rechtssache auch im Interesse der Ergebnisrichtigkeit in einer mündlichen Verhandlung mit den Beteiligten zu erörtern, eine umso stärkere Bedeutung, je vielschichtiger der Streitstoff ist und je schwieriger und komplexer die vom Berufungsgericht zu klärenden Rechtsfragen sind. Die Grenzen des § 130a Satz 1 VwGO sind erreicht, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nach den Gesamtumständen des Einzelfalls außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Beschluss vom 8. Juli 2022 - 9 B 33.21 - juris Rn. 5 f. m. w. N.).

9 Daran gemessen zeigt die Beschwerde nicht auf, dass die angefochtene Entscheidung verfahrensfehlerhaft ergangen ist.

10 Das Oberverwaltungsgericht hat die Beteiligten vor seiner Entscheidung ordnungsgemäß angehört. Das Anhörungsschreiben vom 24. April 2024 ließ unmissverständlich erkennen, wie das Gericht zu entscheiden beabsichtigte, und zwar sowohl hinsichtlich der Verfahrensweise ohne mündliche Verhandlung als auch in der Sache (vgl. zu diesen Anforderungen BVerwG, Beschluss vom 4. Februar 2025 - 10 PKH 2.24 - juris Rn. 14 m. w. N.).

11 Dass die auf dieser Grundlage getroffene Entscheidung des Berufungsgerichts über die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung ermessensfehlerhaft war, legt die Beschwerde nicht dar.

12 Zweifelhaft mag bereits sein, ob der Beklagte die Verfahrensweise nach § 130a VwGO vorliegend überhaupt rügen kann oder ihm entgegenzuhalten ist, dass er dem Verzicht auf eine mündliche Verhandlung als solches nicht widersprochen und sich damit der Sache nach auf eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren eingelassen hat (vgl. zum Rügeverlust nach einem fehlerhaften Anhörungsschreiben BVerwG, Urteil vom 2. Februar 2023 - 5 C 8.21 - BVerwGE 177, 386 Rn. 12 ff.; zur fehlenden Beantragung einer persönlichen Anhörung eines Asylantragstellers im Rahmen des § 130a VwGO auch BVerwG, Beschluss vom 20. April 2005 - 1 B 36.05 -, Orientierungssätze in juris). Denn der Beklagte ist dem Anhörungsschreiben vom 24. April 2024 lediglich inhaltlich in Bezug auf die mitgeteilte rechtliche Einschätzung entgegengetreten. In seinem Schriftsatz vom 14. Mai 2024 hat er zudem vorsorglich eine Fristverlängerung beantragt für weiteren Vortrag im schriftlichen Verfahren, die vom Oberverwaltungsgericht gewährt wurde mit dem Hinweis, dass aus Sicht des Gerichts kein weiterer konkreter Aufklärungsbedarf bestehe. In der fristgemäß vorgelegten weiteren Stellungnahme vom 3. Juni 2024 hat der Beklagte wiederum nur inhaltlich zur Bedeutung des Grunderwerbs im konkreten Fall vorgetragen, ohne die Frage der Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu thematisieren.

13 Jedenfalls lässt sich der Beschwerdebegründung nicht entnehmen, dass die Entscheidung für ein schriftliches Verfahren ermessensfehlerhaft war. Da die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zumindest nicht ausdrücklich widersprochen hatten, bestand aus Sicht des Berufungsgerichts kein Anlass, über die Prüfung und Bewertung des inhaltlichen Vortrags des Beklagten hinaus die gewählte Verfahrensweise als solche kritisch zu hinterfragen und den Ausnahmecharakter einer rein schriftlichen Entscheidung besonders in den Blick zu nehmen (vgl. dazu etwa BVerwG, Beschlüsse vom 27. November 2020 ‌- 8 B 18.20 - juris Rn. 4 und vom 7. Dezember 2023 - 2 B 14.23 - NVwZ 2024, 256 Rn. 9; s. a. BVerwG, Beschluss vom 18. Dezember 2014 - 8 B 47.14 -‌ Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 85 Rn. 8, wo auf eine Entscheidung nach § 130a VwGO "gegen den Willen" eines Beteiligten abgestellt wird). Die Beschwerde legt weder dar, dass das Oberverwaltungsgericht die Komplexität und Schwierigkeiten des Rechtsstreites unterschätzt, noch begründet sie nachvollziehbar, warum es die Bedeutung der mündlichen Verhandlung im Lichte von Art. 6 EMRK verkannt hätte. Dabei kann die von den Beteiligten nicht thematisierte Frage offenbleiben, inwieweit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, auf den sich die Beschwerdebegründung maßgeblich bezieht, überhaupt auf Gemeinden Anwendung findet. Diese Bestimmung gilt in erster Linie für natürliche und (nicht-staatliche) juristische Personen; für diverse Teilrechte fehlt es bislang an Präzedenzfällen für juristische Personen (Meyer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 6 Rn. 6).

14 Soweit die Beschwerde geltend macht, das Berufungsgericht habe seine Entscheidung auf "neue Rechtsfragen und Tatsachen gestützt, die weder Gegenstand der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht waren, noch im Urteil des erstinstanzlichen Gerichts abgehandelt wurden," trifft dies in dieser Allgemeinheit nicht zu. Der Beklagte bezieht sich damit auf die entscheidungstragende Argumentation des Oberverwaltungsgerichts, der Vorausleistungsbescheid habe nicht ergehen dürfen, weil zum Zeitpunkt seines Erlasses die sachliche Beitragspflicht bereits entstanden gewesen sei und eine Umdeutung in einen endgültigen Beitragsbescheid wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung nicht in Betracht komme. Das Gericht hat dabei für die endgültige Herstellung der Einrichtung auf den Abschluss der technischen Ausbauarbeiten und den Eingang der letzten Unternehmerrechnung abgestellt und dem vom Beklagten angeführten Umstand noch fehlenden Grunderwerbs in diesem Zusammenhang keine Bedeutung zugemessen. Anders als zuvor das Verwaltungsgericht hat es den Bestimmungen der einschlägigen Straßenausbaubeitragssatzung i. V. m. weiteren Vereinbarungen nicht entnehmen können, dass der Abschluss des Grunderwerbs im vorliegenden Fall zu einem zusätzlichen Herstellungsmerkmal gemacht worden sei. Mit dieser Begründung sind weder neue Rechtsfragen erörtert noch wesentliche neue Tatsachen angesprochen worden.

15 Die Klägerin hatte schon im erstinstanzlichen Verfahren geltend gemacht, dass der Beklagte sich gegenüber dem Eintritt der Festsetzungsverjährung nicht auf noch ausstehenden Grunderwerb berufen könne. Dem war das Verwaltungsgericht nicht gefolgt, weil es den Grunderwerb im konkreten Fall als Herstellungsmerkmal angesehen hatte. Dies hat das Oberverwaltungsgericht im angegriffenen Beschluss verneint, wobei es allerdings dieselben Rechtssätze zugrunde gelegt und dieselben Umstände - einschlägige Satzungsregelungen und Bauprogramm - ausgewertet hat. "Neu" gegenüber dem erstinstanzlichen Verfahren waren für den Beklagten damit nur die Schlussfolgerungen, die das Berufungsgericht daraus gezogen und in seinem Anhörungsschreiben ausführlich begründet hat. Die vom Beklagten daraufhin als Beleg für die Bedeutung des Grunderwerbs als Herstellungsmerkmal schriftsätzlich vorgetragenen weiteren Umstände führten zu keiner Änderung des Streitstoffs und hatten aus Sicht des Berufungsgerichts keine erhebliche Bedeutung (vgl. zu einem solchen Fall BVerwG, Beschluss vom 27. November 2020 - 8 B 18.20 - juris Rn. 4), weshalb das Gericht sie nicht zum Gegenstand einer mündlichen Erörterung gemacht, sondern nur in den schriftlichen Beschlussgründen behandelt hat (vgl. BA S. 19 ff.). Das lässt keine Ermessensfehler erkennen.

16 Weitere Darlegungen dazu, warum das Berufungsgericht an seiner Entscheidung zur Beschlussfassung ohne mündliche Verhandlung nicht hätte festhalten dürfen, enthält die Beschwerde nicht.

17 Hiervon ausgehend liegt weder eine fehlerhafte Anwendung des § 130a VwGO und somit ein Verstoß gegen § 101 Abs. 1 i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO noch ein damit einhergehender Gehörsverstoß (vgl. dazu etwa BVerwG, Beschluss vom 18. Dezember 2014 - 8 B 47.14 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 85 Rn. 9) vor.

18 2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.