Beschluss vom 06.02.2024 -
BVerwG 20 F 23.22ECLI:DE:BVerwG:2024:060224B20F23.22.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 06.02.2024 - 20 F 23.22 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:060224B20F23.22.0]

Beschluss

BVerwG 20 F 23.22

  • OVG Greifswald - 14.09.2022 - AZ: 13 P 424/19

In der Verwaltungsstreitsache hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts
für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
am 6. Februar 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Henke und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Koch
beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Fachsenats des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 14. September 2022 aufgehoben.
  2. Die Sperrerklärung des Ministeriums für Inneres, Bau und Digitalisierung Mecklenburg-Vorpommern vom 21. März 2019 in der Fassung der Sperrerklärung vom 10. Mai 2019 ist rechtswidrig.
  3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Beklagte.

Gründe

I

1 Gegenstand des dem Zwischenverfahren zugrunde liegenden Hauptsacheverfahrens ist das Begehren der Klägerin, Auskunft über die zu ihrer Person bei einer Landesverfassungsschutzbehörde gespeicherten Daten zu erhalten.

2 Im Hauptsacheverfahren forderte der Kammervorsitzende den Beklagten mit der Eingangsverfügung auf, sämtliche Verwaltungsvorgänge im Original vorzulegen. Daraufhin hat der Beklagte mit Schwärzungen versehene Ausdrucke eines Teils der elektronisch geführten Verwaltungsvorgänge vorgelegt, die Vorlage der vollständigen, ungeschwärzten Akten hingegen unter Vorlage einer Sperrerklärung vom 21. März 2019 verweigert. Mit Schriftsatz vom 10. Mai 2019 legte der Beklagte einen weiteren, ebenfalls mit Schwärzungen versehenen Teil der Verwaltungsvorgänge vor und ergänzte seine Ausführungen zur Sperrerklärung. Der Vorsitzende hat die Beteiligten mit Verfügung vom 4. Juni 2019 darauf hingewiesen, dass es hinsichtlich der angeforderten Akten nach Ansicht der Kammer keines Beweisbeschlusses bedürfe, weil sie zweifelsfrei rechtserheblich seien. Auf Antrag der Klägerin hat das Verwaltungsgericht das Verfahren zur Durchführung eines In-camera-Verfahrens an den Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern abgegeben.

3 Der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts hat den Antrag der Klägerin mit Beschluss vom 14. September 2022 abgelehnt. Hiergegen richtet sich deren Beschwerde.

II

4 Die zulässige Beschwerde hat Erfolg. Die Sperrerklärung des Beklagten ist rechtswidrig, so dass der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts aufzuheben ist.

5 1. Dabei geht der Senat zunächst davon aus, dass das Verwaltungsgericht die Entscheidungserheblichkeit der angeforderten Unterlagen in noch ordnungsgemäßer Form bejaht hat (BVerwG, Beschluss vom 16. August 2023 - 20 F 7.23 - juris Rn. 6 m. w. N.).

6 2. Die Sperrerklärung des Beklagten erweist sich als rechtswidrig. Sie entspricht zum einen bereits nicht den an sie zu stellenden formellen Anforderungen; zum anderen fehlt es an einer § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO a. F. (nunmehr § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO) entsprechenden Ermessensausübung.

7 a) Gegenstand des vorliegenden Zwischenverfahrens ist die von der obersten Landesbehörde unter dem 21. März 2019 abgegebene Erklärung, die Vorlage der vollständigen Verwaltungsunterlagen zu verweigern (Seite 1 bis 2). Darin ist eine als Sperrerklärung zu wertende Aussage enthalten, die mit der Klageerwiderung zum Hauptsacheverfahren (Seite 2 bis 4) verbunden ist. Bei dem Schriftsatz des Beklagten vom 10. Mai 2019 handelt es sich - wovon auch das Oberverwaltungsgericht ausgeht - lediglich um eine Ergänzung der hier maßgeblichen Sperrerklärung.

8 b) Selbst bei Einbeziehung der Ergänzung vom 10. Mai 2019 wird die Sperrerklärung nicht den rechtlichen Darlegungs- und Begründungsanforderungen gerecht.

9 aa) Grundsätzlich muss eine Sperrerklärung eine differenzierende Zuordnung der Geheimhaltungsgründe zu den jeweiligen Aktenbestandteilen enthalten. Sie muss hinreichend deutlich erkennen lassen, auf welche Weigerungsgründe die oberste Aufsichtsbehörde sie stützt. Eine konkrete Zuordnung von Geheimhaltungsgründen durch die oberste Aufsichtsbehörde ist von zentraler Bedeutung, weil der Fachsenat ausschließlich prüft, ob die von ihr in der Sperrerklärung behaupteten Gründe tatsächlich vorliegen; erst durch die Darlegung der konkreten Gründe wird somit effektiver Rechtsschutz ermöglicht. Eine differenzierende Aufbereitung der Unterlagen - unter Angabe von Blattzahlen, gegebenenfalls auch der Bezifferung von Absätzen oder der Gliederungspunkte eines Dokuments - erweist sich nur ausnahmsweise dann als entbehrlich, wenn der Umfang der Unterlagen überschaubar ist und sich bei Durchsicht der Akte die Zuordnung der Geheimhaltungsgründe ohne Weiteres erschließt (BVerwG, Beschluss vom 19. Mai 2023 - 20 F 4.23 - NVwZ 2023, 1504 Rn. 19 m. w. N.).

10 bb) In der Sperrerklärung vom 21. März 2019 heißt es jedoch lediglich, die Vorlage der Verwaltungsvorgänge werde gemäß § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO verweigert, weil die Erkenntnisse als Verschlusssache eingestuft seien und das Bekanntwerden der Akteninhalte dem Wohl des Landes deshalb Nachteile bereiten würde, weil dies geeignet sei, die künftige Arbeit des Verfassungsschutzes zu erschweren. Gleichzeitig könnte auf die Identität von Personen geschlossen und deren Leben oder Freiheit gefährdet werden. Es fehlt damit an einer differenzierenden Zuordnung der drei Geheimhaltungsgründe nach § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO zu den einzelnen Aktenbestandteilen. Auf eine entsprechende Zuordnung ist auch nicht etwa deshalb zu verzichten, weil der Aktenumfang überschaubar wäre. Ausweislich des dem Verwaltungsgericht unter dem 10. Mai 2019 vorgelegten Verwaltungsvorgangs ist dort der Teil 3 (Dokumente aus Maßnahmen gemäß § 10 Abs. 1 LVerfSchG M-V, Seite 13 bis 78) vollständig "entnommen (worden) gemäß § 26 Abs. 2 LVerfSchG M-V", so dass neben den Schwärzungen - auf den Seiten 2, 5 bis 8 des Teils 1 des unter dem 21. März 2019 vorgelegten Verwaltungsvorgangs (entspricht den Seiten A und D bis G des Originalvorgangs, Teil 1) sowie auf den Seiten 8 bis 11 des Teil 2 des unter dem 10. Mai 2019 vorgelegten Verwaltungsvorgangs (entspricht den Seiten 8 bis 11 des Originalvorgangs, Teil 2) – bei insgesamt 75 Seiten Zuordnungen zu den einzelnen Geheimhaltungsgründen fehlen.

11 cc) Etwas anderes folgt auch nicht aus der ergänzenden Sperrerklärung vom 10. Mai 2019, weil sie sich ausschließlich zu den fachgesetzlichen Versagungsgründen nach § 26 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 LVerfSchG M-V verhält.

12 dd) Dass der Beklagte nach Einleitung des Zwischenverfahrens mit Schriftsatz vom 16. August 2022 den Versuch unternommen hat, die Versagungsgründe konkret zuzuordnen, ändert daran ebenfalls nichts. Dabei kann offenbleiben, ob auch die Darlegungen dort die Gründe hinreichend konkret belegen; jedenfalls ist die Einbeziehung der dortigen Ausführungen in das In-camera-Verfahren unzulässig. Denn ebenso wie die Ergänzung eines in der Sperrerklärung noch nicht angeführten Verweigerungsgrundes durch schriftsätzliche Erklärungen unzulässig ist (BVerwG, Beschluss vom 19. April 2021 - 20 F 9.20 - juris Rn. 32), verbietet sich erst recht die erstmalige Zuordnung konkreter Verweigerungsgründe zu den Auslassungen oder Schwärzungen durch erläuternde Schriftsätze außerhalb der Sperrerklärung (BVerwG, Beschluss vom 19. Mai 2023 - 20 F 4.23 - NVwZ 2023, 1504 Rn. 22).

13 c) Anders als vom Oberverwaltungsgericht angenommen, hat der Beklagte auch nicht bereits in der (ergänzten) Sperrerklärung eine Ermessensentscheidung getroffen.

14 aa) Die oberste Aufsichtsbehörde ist im Rahmen einer Prüfung nach § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO gefordert, in besonderer Weise die rechtsschutzverkürzende Wirkung der Verweigerung der Aktenvorlage für den Betroffenen zu beachten. Darin liegt die Besonderheit ihrer Ermessensausübung nach dieser Regelung. Dementsprechend steht ihr selbst in den Fällen ein Ermessen zu, in denen das Fachgesetz es der Fachbehörde nicht einräumt (BVerwG, Beschluss vom 7. April 2020 - 20 F 2.19 - NVwZ-RR 2020, 909 Rn. 31 m. w. N.). Eine darauf bezogene Ermessensentscheidung ist der - insoweit allein maßgeblichen - Sperrerklärung indessen nicht entnehmbar, selbst wenn der klageerwidernde Teil des Schriftsatzes, in den sie eingebettet wurde, zu ihrer Auslegung mit herangezogen wird (BVerwG, Beschluss vom 5. April 2023 - 20 F 17.22 - NVwZ 2023, 1435 Rn. 17 ff.).

15 bb) Die Sperrerklärung verweist in ihren Ausführungen zur Klageerwiderung ausschließlich auf die Regelungen des Landesverfassungsschutzgesetzes. Dasselbe gilt für die Ausführungen in der ergänzenden Erklärung vom 10. Mai 2019. Der Beklagte erwähnt zwar im Zusammenhang mit dem Dokumententyp D ein vorrangiges Aufklärungsinteresse oder ein schützenswertes Individualinteresse der Klägerin oder im Zusammenhang mit dem Dokumententyp B ein (weniger) schützenswertes Interesse der Klägerin an der Offenlegung; zugleich nimmt er jedoch bezogen auf den Dokumententyp A an, dass eine relevante Beschneidung der Sachverhaltsaufklärung nicht ersichtlich sei. Die rechtlichen Interessen der Klägerin stellt er indes allein wegen der fachgesetzlichen Verweigerungsgründe zurück, ohne - wie von § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO gefordert - zu erwägen, die streitigen Informationen gleichwohl (teilweise) freizugeben.

16 Deutlich wird der Ermessensnichtgebrauch durch die - im Zusammenhang mit Maßnahmen nach § 10 Abs. 1 LVerfSchG M-V anzutreffende - Begründung, über den (fach-)gesetzlich definierten Auskunftsanspruch hinaus bestehe kein Anspruch der Klägerin, über den Umweg der Einsicht in den Verwaltungsvorgang faktisch eine Übersicht darüber zu halten, von welchen nachrichtendienstlichen Einzelmaßnahmen sie betroffen gewesen sei. Damit hat der Beklagte den Charakter des § 99 Abs. 1 Satz 3 VwGO als im Verhältnis zu den fachgesetzlich geregelten Auskunftsansprüchen prozessrechtliche Spezialnorm verkannt, die eine Informationsfreigabe auch jenseits fachgesetzlicher Verweigerungsgründe eröffnet (BVerwG, Beschlüsse vom 21. August 2012 - 20 F 5.12 - juris Rn. 6, vom 5. April 2023 - 20 F 17.22 - NVwZ 2023, 1435 Rn. 19 und vom 19. Mai 2023 - 20 F 4.23 - NVwZ 2023, 1504 Rn. 26).

17 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.