Beschluss vom 08.03.2019 -
BVerwG 2 B 75.18ECLI:DE:BVerwG:2019:080319B2B75.18.0

Beschluss

BVerwG 2 B 75.18

  • VG Münster - 25.07.2017 - AZ: VG 20 K 1541/16.O
  • OVG Münster - 12.09.2018 - AZ: OVG 3d A 1976/17.O

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. März 2019
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung und Dollinger
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. September 2018 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die auf sämtliche Zulassungsgründe (§ 132 Abs. 2 VwGO und § 67 Satz 1 LDG NRW) gestützte Beschwerde des Beklagten ist unbegründet.

2 1. Der 1959 geborene Beklagte steht als Justizvollzugsamtsinspektor im Dienst des Klägers. Seit September 2002 ist der Beklagte in Justizvollzugsanstalten des Klägers tätig. Am 11. und 25. Oktober 2013 sowie am 15. November 2013 führte der Beklagte gemeinsam mit einem ebenfalls disziplinarrechtlich verfolgten Beamten einen Strafgefangenen für eine bestimmte Tageszeit unter Aufsicht aus. Die Ausführungen dienten dazu, diesem Gefangenen, der vor seiner Inhaftierung ein Unternehmen für Feuerlöscher betrieben hatte, die Wahrnehmung geschäftlicher Kontakte zu ermöglichen. Im Zuge der Ausführung am 15. November 2013 entwich der Gefangene den beiden Justizvollzugsbeamten. Nach der Festnahme des Gefangenen am 12. März 2014 sagte dieser aus, er habe am 11. Oktober 2013 ohne Begleitung der beiden Beamten bei einem Kunden die Feuerlöscher austauschen sowie ein Termin bei einer Bank wahrnehmen können. Am 25. Oktober 2013 habe er über mehrere Stunden seine Lebensgefährtin besuchen können. Am 15. November 2013 sei er von den beiden Beamten vor dem Wohnhaus der Lebensgefährtin abgesetzt worden, um nach Erledigung seiner geschäftlichen Dinge dort nach mehreren Stunden wieder abgeholt zu werden. Dann habe er sich jedoch zur Flucht entschlossen. Der Beklagte wurde wegen gemeinschaftlicher Gefangenenbefreiung in drei Fällen rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dabei wurden für die Ausführungen am 11. und 25. Oktober 2013 Einzelfreiheitsstrafen von fünf Monaten und für die Ausführung vom 15. November 2013 eine Einzelfreiheitsstrafe von neun Monaten festgesetzt.

3 Im sachgleichen Disziplinarverfahren hat das Verwaltungsgericht die Tat vom 15. November 2013 ausgeschieden und den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: An die tatsächlichen Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts sei das Disziplinargericht gebunden. Der Beklagte habe sich mit der gemeinschaftlichen Gefangenenbefreiung eines schwerwiegenden einheitlichen innerdienstlichen Dienstvergehens im Kernbereich seiner Dienstpflichten schuldig gemacht, durch das er das Vertrauen des Dienstherrn endgültig verloren habe. Dementsprechend sei er aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen.

4 2. Die Sache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und § 67 Satz 1 LDG NRW), die ihr die Beschwerde des Beklagten beimisst.

5 Grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine - vom Beschwerdeführer zu bezeichnende - grundsätzliche, bisher höchstrichterlich nicht beantwortete Rechtsfrage aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder einer Weiterentwicklung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf und die für die Entscheidung des Revisionsgerichts erheblich sein wird (stRspr, BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91 f.>). Das ist hier nicht der Fall.

6 Die Beschwerde sieht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache in der Frage,
"ob Vollzugslockerungen Einfluss auf den Gefangenenstatus haben."

7 Diese Frage vermag die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht zu rechtfertigen, weil die damit der Sache nach aufgeworfene Frage der Bindung des Disziplinargerichts an tatsächliche Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils im Strafverfahren geklärt ist und in der Beschwerdebegründung keine Frage aufgeworfen wird, die in Bezug auf § 65 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 LDG NRW die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache darlegt.

8 Bei seiner Verurteilung des Beklagten wegen gemeinschaftlicher Gefangenenbefreiung in drei Fällen ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass der Strafgefangene, der unter anderem vom Beklagten ausgeführt werden sollte, ungeachtet der gewährten Lockerungen des amtlichen Gewahrsams zur Erledigung geschäftlicher Angelegenheiten zum Zeitpunkt der Ausführungen Gefangener im Sinne von § 120 Abs. 1 StGB war. Zudem hat das Strafgericht festgestellt, dass es zum Aufgabenbereich des Beklagten gehörte, den Strafgefangenen bei Ausführungen ständig und unmittelbar zu beaufsichtigen. An diese tatsächlichen Feststellungen des rechtskräftigen Urteils im Strafverfahren sind die Disziplinargerichte im Disziplinarverfahren nach § 56 Abs. 1 Satz 1 LDG NRW gebunden, weil das Disziplinarverfahren denselben Sachverhalt zum Gegenstand hat.

9 Für das Berufungsgericht bestand kein Anlass, sich nach Maßgabe von § 65 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 Satz 2 LDG NRW von diesen tatsächlichen Feststellungen des rechtskräftigen Strafurteils zu lösen (UA S. 14). Diese Bindungswirkung nach § 65 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 LDG NRW wird in Bezug auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht angesprochen.

10 3. Die Revision ist nicht wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO und § 67 Satz 1 LDG NRW) zuzulassen.

11 Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 2 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt weder den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenz- noch denen einer Grundsatzrüge (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 1995 - 6 B 39.94 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 342 S. 55).

12 Entgegen der Beschwerdebegründung weicht das Berufungsurteil nicht in diesem Sinne von einem Rechtssatz ab, den das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 14. Oktober 2003 - 1 D 2.03 - (Buchholz 232 § 54 Satz 3 BBG Nr. 34) aufgestellt hat. Zunächst ist Kern der angegriffenen Berufungsentscheidung eine gerichtliche Bemessungsentscheidung nach Maßgabe von § 13 LDG NRW (= § 13 BDG), während sich das Urteil vom 14. Oktober 2003 noch nach den Verfahrensregeln und -grundsätzen der Bundesdisziplinarordnung richtet.

13 Die Beschwerde entnimmt dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Oktober 2003 den Rechtssatz, dass bei Pflichtverstößen Milderungsgründe grundsätzlich in Frage kommen, diese aber nur dann ausgeschlossen sind, wenn der Beamte gegen Kernpflichten verstoßen hat. Die Entscheidungsgründe des angegriffenen Berufungsurteils machen aber deutlich, dass das Oberverwaltungsgericht gerade von einem Versagen des Beklagten im Kernbereich seiner Dienstpflichten ausgegangen ist (UA S. 17 und 28).

14 4. Auch der in der Beschwerdebegründung geltend gemachte Verstoß gegen die dem Gericht obliegende Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts liegt nicht vor (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO und § 67 Satz 1 LDG NRW). Denn es wird bereits nicht dargelegt, dass das Berufungsgericht überhaupt zu den Aufklärungsmaßnahmen berechtigt war, deren Unterbleiben die Beschwerde beanstandet.

15 Der Beklagte macht geltend, das Berufungsgericht habe es versäumt aufzuklären, inwieweit dem Gefangenen von der Leitung der Justizvollzugsanstalt tatsächlich Vollzugslockerungen gewährt worden seien. Denn er - der Beklagte - habe sich als Rechtfertigungsgrund für seine Handlungen auf die dem Gefangenen gewährten Vollzugslockerungen berufen.

16 Dieses Vorbringen des Beklagten betrifft wiederum die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, durch die strafgerichtlich abgeurteilte gemeinschaftliche Gefangenenbefreiung in drei Fällen habe der Beklagte ein einheitliches innerdienstliches Dienstvergehen begangen. Insoweit greifen aber, wie oben dargelegt, die Vorschriften der § 65 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 Satz 1 LDG NRW über die Bindung der Disziplinargerichte an tatsächliche Feststellungen in rechtskräftigen Strafurteilen ein. Dementsprechend steht hier sowohl fest, dass der Auszuführende Gefangener im Sinne von § 120 Abs. 1 StGB war, als auch die Rechtswidrigkeit des Handelns des Beklagten. Die Bindungswirkung nach § 65 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 LDG NRW schränkt die Verpflichtung der Verwaltungsgerichte zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 57 Abs. 1 Satz 1 LDG NRW und § 3 Abs. 1 LDG NRW i.V.m. § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ein.

17 Gemäß § 65 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 Satz 2 LDG NRW hat das Gericht die erneute Prüfung solcher Feststellungen zu beschließen, die offenkundig unrichtig sind. Die gesetzliche Bindungswirkung dient der Rechtssicherheit. Sie soll verhindern, dass zu ein- und demselben Geschehensablauf unterschiedliche Tatsachenfeststellungen getroffen werden. Der Gesetzgeber hat die Aufklärung eines sowohl strafrechtlich als auch disziplinarrechtlich bedeutsamen Sachverhalts sowie die Sachverhalts- und Beweiswürdigung den Strafgerichten übertragen. Dementsprechend sind die Verwaltungsgerichte nur dann berechtigt und verpflichtet, sich von den Tatsachenfeststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils zu lösen und den disziplinarrechtlich bedeutsamen Sachverhalt eigenverantwortlich zu ermitteln, wenn sie ansonsten "sehenden Auges" auf der Grundlage eines unrichtigen oder aus rechtsstaatlichen Gründen unverwertbaren Sachverhalts entscheiden müssten. Dies ist etwa der Fall, wenn die Tatsachenfeststellungen des Strafurteils in Widerspruch zu Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen stehen oder aus sonstigen Gründen offenbar unrichtig sind. Darüber hinaus kommt eine Lösung in Betracht, wenn neue Beweismittel vorgelegt werden, die dem Strafgericht nicht zur Verfügung standen und nach denen die Tatsachenfeststellungen jedenfalls auf erhebliche Zweifel stoßen. Die Bindungswirkung entfällt aber auch bei Strafurteilen, die in einem ausschlaggebenden Punkt unter offenkundiger Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften zustande gekommen sind (BVerwG, Urteile vom 29. November 2000 - 1 D 13.99 - BVerwGE 112, 243 <245> und vom 14. März 2007 - 2 WD 3.06 - BVerwGE 128, 189 <190>; Beschlüsse vom 24. Juli 2007 - 2 B 65.07 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 4 Rn. 11, vom 26. August 2010 - 2 B 43.10 - Buchholz 235.1 § 57 BDG Nr. 3 Rn. 5, vom 1. März 2013 - 2 B 78.12 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 20 Rn. 6 f. und vom 27. Dezember 2017 - 2 B 18.17 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 54 Rn. 28).

18 In der Beschwerdebegründung wird nicht dargelegt, dass solche Anhaltspunkte für die Lösung von den tatsächlichen Feststellungen des rechtskräftigen Strafurteils etwa zur Gefangeneigenschaft i.S.v. § 120 Abs. 1 StGB oder zur Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Beklagten vorgelegen haben, die das Oberverwaltungsgericht erst zu einer eigenständigen Klärung des Sachverhalts berechtigt hätten.

19 Die Kostenentscheidung folgt aus § 74 Abs. 1 LDG NRW und § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil für das Beschwerdeverfahren Festgebühren nach dem Gebührenverzeichnis der Anlage zu § 75 LDG NRW erhoben werden.